Mitglied
- Beitritt
- 27.02.2002
- Beiträge
- 5
Routine
Mein Name ist David Schlichter, aber nicht mit „aah“, sondern mit „äi“ – da lege ich Wert drauf. Ich bin ein Kid des post-McDonaldisierten MTV-Germany. Aber eigentlich fange ich ganz falsch an… morgens weiß ich sowieso erst mal nicht, wer ich bin oder wie ich heiße.
Die Schwärze schwindet. Ich wache auf, oder besser: gewinne das Bewusstsein wieder. Nacken schmerzt, Rücken schmerzt, Augenlider tonnenschwer und alles Blut im Schwanz. Blick auf den Wecker, nach dem sich meine Hand ausstreckt mit der Grazie eines Elefantenfußes. Nach dem Augenaufschlagen der nächste Punkt der Tagesordnung:
Onanieren (optional). Entfällt an Tagen mit Alarmstarts. Alarmstarttage sind charakterisiert durch Stöhnen, Fluchen, Meckern, Überall-Anecken und das Entfallen der meisten sonstigen Tagesordnungspunkte. Heute kein Alarmstart, kann mir genüsslich einen runterholen.
Danach: Phase der Ernüchterung. Das Wissen um die Welt kehrt wieder. Blick in den Spiegel vor dem Bett: Same shit, different day. Aufstehen, anziehen. Meist die Klamotten vom Vortag (denn da waren sie noch frisch). Die Pumpe kann das Blut schon wieder gut im Körper verteilen, womit die Artikulationsfähigkeit zurückkehrt. Dann gehe ich mit einem sehnlichen Wunsch zum Kühlschrank: Wasser! Nachdem ich ihn befriedigt habe, gehe ich wahlweise aufs Klo oder esse, was vorhanden ist. Tiefkühlpizza, Salamibrot, Pasta, egal. Ich habe auch kein Problem mit Lasagne oder Schweinshaxe am Morgen, im Gegenteil: So ein Frühstück macht süchtig. Wer einmal eine Woche gelebt hat wie ich, der rührt sein Leben lang kein Müsli mehr an. Kann ich auf so etwas stolz sein? Vermutlich ja, schließlich sind etliche meiner Mitesser (i.e. „Mitmenschen“) auch stolz auf ihre Nationalität, für die sie nix können.
In meinem tiefsten Inneren kratzt die Stimme der Vernunft alle Reserven meines fragmentierten Geistes zusammen und beschwört mich, mir erst einmal den ganzen Tagesablauf zu vergegenwärtigen, um planen zu können. Doch ihr Ruf verhallt ungehört zwischen den lauten Gedankengängen „ob in dieser Salami wirklich nur Geflügel ist?“ und „die Lebensbedingungen von Legehennen sind denkbar schlecht.“
Nach dem Essen die Frage: Reicht es noch für einen Tee? Uhrzeit: 14:30 Uhr. Da ich sowieso den halben Tag verschlafen habe, entscheide ich mich dazu, ein weiteres Stündchen für den Tee zu reservieren. Das war früher die einzige Zeit am Tage, bei der ich mich tatsächlich wohl fühlen konnte. Doch das ist längst passé. Ich ertappe mich selbst bei diesem Selbstmitleid, reiße mich zusammen und sage mir: „So Nicht! Verdammt noch mal, wenn du was gelernt hast in der Schule, im Leben, von den Eltern, so doch eins: Nur zielgerichtetes Handeln kann Erwartungen befriedigen!“
Für eine Sekunde taucht vor meinem geistigen Auge eine tolle Zukunft auf: Frau, Auto, Haus, Kinder, doch sie verschwindet sofort, Sex, Sex mit Kindern, Mord und Totschlag, Alter, Krankheit, Einsamkeit und Ekel, Ekel, Ekel, und schon überlege ich mir sehr zielgerichtet und vernünftig, wie ich mich am besten umbringen würde, wenn ich es nur könnte. Erstickung bietet zunächst einige klare Vorteile: Die Agonie ist relativ kurz, der eigentliche Moment des Todes fällt in den Zustand der Bewusstlosigkeit. Problem bei der Portation in die Praxis: Der Todeskampf entfaltet gewaltige Kräfte, denen mit der Vernunft nicht beizukommen ist.
Mit 13 versuchte ich, mich mit meinen eigenen Händen zu erwürgen, zwecklos natürlich, weil der Wille nicht mehr zählt, wenn der Körper die Entscheidungen für sich selbst trifft. An jenem Tag wurden mir zwei Dinge bewusst, nämlich die Tierhaftigkeit menschlicher Verhaltensmuster einerseits und – paradoxerweise – der einzige E C H T E Unterschied zwischen Mensch und Tier: Die Fähigkeit, Zeitpunkt und Art des Todes selbst zu bestimmen. Eine Fähigkeit, die ich dummes Tier bis heute nicht erlernt habe, während meine Artgenossen fröhlich in Flüsse pinkeln und Urlaub im All machen.
Während des Tees male ich mir zum x-ten Male alternative Suizidszenarien aus, bevor ich meine Schuhe anziehe, meine Jacke vom Haken nehme und das Haus verlasse. Ja, ich weiß, ich hätte die Markennamen nennen sollen, denn das erst macht die Welt farbig, bunt und greifbar, oder einfach nur überfüllt und aufdringlich. Am besten, Sie denken sich zu jedem Gegenstand eine Marke ihrer Wahl hinzu. Das kommt der Realität bestimmt schon sehr nahe, angesichts der Vielfalt exklusiver Marken.
Während ich die spießig sauberen Treppen hinunterhetze, um die Straßenbahn zu erwischen, setze ich mein Außer-Haus-Gesicht auf (immer freundlich sein, im Kontrast zum sonstigen Abschaum).
Tür auf, Gedanken frieren ein. Lärm, Autos, Laster, Straßen, grau, grau und laut, Menschen, die nicht ausweichen, obwohl sie zu dritt in einer Reihe laufen, quer über den Fuß- und Radweg. Autos überall, auf den Radwegen, Fußwegen, hinter mir, vor mir, neben mir, nur leider nicht auf mir. Um die Ecke. Bin noch rechtzeitig, Bahn kommt gerade erst. Alte, überall Alte, sie quellen aus der Straßenbahn wie Scheiße durch ein Nudelsieb, und noch bevor ein in der Straßenbahn befindlicher Fettfleck mit Oberlippenbart einen Fuß auf den Asphalt gekriegt hat, haben zwei der weiblichen Jugendparasiten Fuß und Hand in der Bahn. Ich denke kurz über die Rentenabgabe nach, die müsste in ein paar Jahren so um die 30 Prozent liegen. Plus die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, denn offenbar hat die Generation von Hitlers Helfern vor, ewig zu leben und jedes Krankenhaus der BRD mal für ein paar Wochen von innen zu sehen. Dort wird dann wahrscheinlich rund um die Uhr über die nichtsnutzige Jugend gelästert, die nichts kann, nichts will, und nichts verdient hat (bestenfalls die Gaskammer).
Die Schmerzen in meiner Brust rufen mir wieder ins Gedächtnis, dass ich mich über nichts aufregen soll, was ich nicht ändern kann. Also streife ich alle Emotionen ab (das heißt: alle beiden) und verharre routiniert in stiller geistiger Abwesenheit bis meine Zielstation angefahren wird. Tür auf, Schweinestallverhalten, dann bin ich raus, und wieder mittendrin im gewohnten Straßenlärm und den Millionen seelenloser Hüllen, die wie ich diesen Scheißhaufen bevölkern. Während ich gehe, komme ich an Schaufenstern vorbei, in die ich eifrig glotze, damit mich meine eigenen Gedanken nicht belästigen können. Sushibesteck, handbemalt, Jeansjacke, Briefpapier, Schuhe, Schuhe und abermals Schuhe und noch mal Schuhe, Honig, Klopapier.
Ich komme an einem Penner vorbei. Er sieht ungewaschen aus, ungepflegt, aber nicht ungenährt. Es geht ihm besser als mir: Er kann sich Markenbier leisten. Unzählige Britneys, J-Los, Celines und Penelopes und sonstige Samenvasen gehen an mir vorüber, und ab und zu erspähe ich etwas, was ich für eine Frau halte – aber meistens ist es doch nur eine Tussi.
Ich gehe zum Fluss, genauer gesagt zur Brücke darüber. Ich habe vor, mich dort oben einmal hinzustellen und zu darauf warten, dass mir irgendein Windchen genug Mut zufächelt zu springen. Weil ich aus etlichen Versuchen jetzt schon weiß, dass es mir nicht gelingen wird, muss ich anfangen zu heulen.
Ich stelle mich in den nächstbesten Hauseingang und schluchze leise ein bisschen vor mich hin. Ich will niemanden belästigen. Selten dauert so etwas länger als ein bis zwei Minuten. Gerade wische ich mir mit einem no-name-Taschentuch das Gesicht trocken, als mich von hinten – also aus Richtung der Fußgängerzone – eine quengelige Stimme anspricht: „Junger Mann!“ - Kein „entschuldigen Sie bitte“ oder „äh“ oder „hallo?“, und im nächsten Moment grabscht mich die zu der Stimme gehörigen Alte mit festem Griff am Arm, wohl um sich abzustützen, und während ich den Wunsch unterdrücke, ihr mit einem simplen Fußtritt den Oberschenkelhalsknochen zu brechen (sicher hat sie Osteoporose), formt sich ihre widerliche Faltenvisage, diese kotzhässliche Hackfresse zu einem Fragesatz beliebiger Art, doch ich höre gar nicht hin, reiße mich los und setze meinen Weg fort. Als ich mich noch einmal umdrehe, sehe ich, wie ein glatzköpfiger Mittvierziger Ihr etwas vom Boden aufhebt, möglicherweise einen Schlüsselbund.
Ich betrete jetzt die Brücke, und je näher ich meinem Ziel komme, desto mehr drängen sich bedeutungsvolle Gedanken ins neblige Zentrum meiner Denkschärfe; sie sind zwar nicht wirklich bedeutungsvoll, aber jeder, der sie hört, wünscht sich das. Tausende von befreundeten Sätzen, hilfreichen Sinnsprüchen, tollen Lebensweisheiten, erfolgreichen Anleitungen, Tu dies und jenes, vermeide dieses aber liebe das, was niemand soll verurteilen von guten Menschen und bösen, die überall hin kommen und Himmel und Brücke und Hölle und Sprung und Sturz und Aufprall und Frieden. Endlich Frieden? Mein Körper schwimmt mich ans Ufer.
[Beitrag editiert von: Unangespasster am 27.02.2002 um 03:38]