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Routine
Das Wartezimmer war so gut wie leer, als Josef eintrat. An der Wand zu seiner Rechten saß ein Mann mit einer Zeitschrift in der Hand, in der Hälfte geknickt und auf seinem Schenkel aufgestützt. Er sah auf und nickte Josef stumm zu. Schnell nickte auch Josef, doch noch in der Bewegung zuckte er vor Schmerz zusammen und bereute seine Höflichkeit. So etwas kommt davon, wenn man mal freundlich sein will. Josef kniff die Augen zu und vor dem Schwarz zogen wabernde weiße Lichter vorbei, als der Blitz aus Schmerz von seinem Weisheitszahn durch den gesamten Kiefer fuhr und ihn an den Grund seines Kommens erinnerte. Als die Woge von Pein etwas abgeklungen war, huschte er behutsam zu der rothaarigen jungen Frau hinter dem Tresen links von ihm.
Indem Joseph nur Lippen und Zunge bewegte und die Kiefer nicht voneinander löste, was sicherlich eine neue Welle von Schmerz zur Folge gehabt hätte, sagte er langsam: „Guten Tag. Ich muss dringend sofort zum Doktor, mein Zahn tut nämlich höllisch weh.“
Die Frau mit den roten Locken und der weißen Kleidung hielt die Hände auf der Schreibfläche des Tresens gefaltet und sah zu Josef mit einen missbilligenden Blick auf. „Haben Sie einen Termin?“
„Hören Sie. Diese Schmerzen haben sich nicht bei mir angemeldet. Ich konnte also nicht einplanen, dass sie heute um diese Uhrzeit eintreffen würden. Aber nun sind sie da, und ich bin hier. Also, kann ich jetzt zum Doktor?“
„Doktor Johann hat schon einen Patienten in Behandlung, und danach ist dieser Herr dort dran.“ Sie deutet mit dem Kuli, den sie unter den Händen verborgen hatte, auf den Mann an der gegenüberliegenden Wand. „Er hat einen Termin.“
Als Josef den Kopf zu ihm drehte, schlug ein neuer brennender Blitz in seinen Kiefer ein. Der Mann grinste ihn an, und Josef winkte halbherzig gequält zurück.
„Gute Frau,“ redete Josef wieder auf die Frau ein, „ich leide unter unerträgliche Schmerzen! Sie wissen nicht, wie das ist, wenn sie bei der kleinsten Bewegung Ihres Kopfes glauben, dass ihr Schädel gespalten wird und sich ihnen der Magen umdreht...“
„Schon gut, schon gut!“ Sie griff unter den Tresen, kramte ein wenig umher und tauchte mit einem gefrorenen Beutel voll blauem Schleim wieder auf. Diesen klatschte sie ihm in die Hand. „Hier, nehmen Sie das. Es wird Ihren Schmerz vielleicht etwas erträglicher machen... während Sie warten.“
Nachdem er der Sprechstundengehilfin einige unverständliche Flüche an den Kopf gegrummelt hatte, begab sich Josef zu einem Platz abseits des Fremden.
„Sie sehen ja gar nicht gut aus“, versuchte der Fremde eine Konversation zu beginnen. Die Zeitschrift lag nun flach auf seinem Oberschenkel. „Was fehlt Ihnen denn?“
„Ein Termin“, murmelte Joseph ohne den anderen eines Blickes zu würdigen. Anstatt den Wink zu verstehen und sich wieder seiner Zeitschrift zu widmen, grinste der Fremde breit und fuhr fort. „Sie sind wirklich witzig, Mister. Aber was frage ich auch, natürlich haben sie Zahnschmerzen. Aber keine Sorge, Mister. Es ist nur reine Routine für mich. Es wird nicht lange dauern.“ Er entblößte zwei Reihen kleiner, perfekt stehender weißer Zähne, die ganz und gar nicht krank aussahen. Sie wirkten geradezu makellos, um nicht zu sagen perfekt. Josef hatte keinen Zweifel, dass es nicht lang dauern würde.
In diesem Moment schwang die Tür zum Behandlungsraum 1 auf und eine Frau mit dicker Wange trat heraus, gefolgt von dem rundlichen Onkel Doktor mit dem Kranz weißer Haare auf dem Kopf. Laut rief er: „Der Nächste, bitte!“ Wie Josef es erwartet hatte, sprach Dr. Johann mit einem holländischen Akzent. Josef fiel ein Spruch ein, den er mal in einem Film gehört hatte: 'Es gibt nur zwei Dinge, die ich hasse. Menshcen, die andere Kulturen verachten, und Holländer!'
Der Fremde erhob sich, lächelte noch einmal Josef zu, wobei seine Zähne funkelten, und folgte dem Doktor in den Behandlungsraum. Die Frau lief währenddessen schnurstracks zum Ausgang, ohne einen Blick zurück zu werfen. In Josefs Augen schien sie gar nicht von Schmerz erlöst...
Josef presste den Eisbeutel auf die Wange und lehnte sich zurück. Mit geschlossenen Augen versuchte er in Meditation zu zerfallen, um den Schmerz aus seinen Gedanken zu löschen. Er hatte mal ein Buch über den Buddhismus gelesen, und es hatte ihm gut gefallen. Diese Meditation bekam er jedoch einfach nicht hin – er war zu beschäftigt mit seinem Sein, als dass er sich auf das Nichtsein hätte konzentrieren können. Er hatte es auch noch nie wirklich versucht, denn er kam sich dabei immer ziemlich lächerlich vor, wie er da mit geschlossenen Augen und gekreuzten Beinen auf dem Boden saß und vor sich hin ommm-te. Die Theorie gefiel ihm, doch die Praxis überließ er den Mönchen und diesen schwulen Tae-Bo-Lehrern aus dem Fernsehen.
Nun jedoch hätte er alle Peinlichkeit dafür ertragen, diese Schmerzen zu vergessen. Nie zuvor hatte er Karies, geschweige denn ein Loch im Zahn. Er kannte diese Krankheit nur aus humorvollen Filmen oder alten Kinderbüchern – in den Filmen sah es sehr lustig aus, wenn ein großer, grober Klotz von einem Mann, dem man nicht in einer dunklen Gasse begegnen möchte, ein rotes Tuch mit weißen Punkten um den Glatzkopf gewickelt und mit einem dicken Knoten an der Seite befestigt hatte, die massige Hand auf die Wange gepresst hielt und wie ein kleiner Junge jammerte. Und in den Büchern verfolgte er früher gespannt die Abenteuer von Karius und Baktus, den freundlichen kleinen Gesellen, die in den Zähnen von Kindern ihre Häuser hatten.
Die Realität, wie er nun feststellen musste, sah nicht so amüsant aus. Solche irren Schmerzen hatte er noch nie gehabt. Wie in den meisten Fällen von Schadenfreude war auch diese Sache nicht so lustig, wenn man selbst der Beschadete war. Und von den kleinen Freunden in seinem Mund hatte Joseph auch noch nicht viel mehr als einen schwarzen Fleck auf dem gelblichen Weiß des Zahns und diese krankhaften Schmerzen... Josef bemitleidete nun den großen, groben Klotz, und diesen kleinen Dreckssäcken Karius und Baktus wünschte er die Pest an den Hals – oder besser noch, ein Loch im Weisheitszahn.
Unsanft wurde Josef schon nach zwei Minuten aus seinen Meditationsversuchen gerissen, als grausames Gekreische aus dem Behandlungsraum 1 drang. Man sollte meinen, er hätte mittlerweile begriffen, dass diese schnellen Bewegungen ihm nicht gut taten, doch erschrocken warf er den Kopf ruckartig nach rechts, so dass er sein Genick knacken hörte. Prompt war der alte Schmerz von Neuem erblüht, doch dank des plötzlichen Adrenalinstoßes, den die gepeinigten Schreie nebenan ausgelöst hatten, spürte er davon nur wenig. Auch das schrille Pfeifen in seinem linken Ohr, das die Schmerzen mit sich führten, klang leise im Vergleich zu den gehörten Geräuschen nebenan. Wie versteinert starrte er auf die Tür zu seiner Rechten. Konnten solche Laute von einem Menschen kommen? Was machte denn dieser Doktor mit ihm?
Während Josef mit offenem Mund stumm dasaß widmete sich die Schwester, das Gesicht mitleidig verzerrt, dem Terminplan für die kommende Woche. Doch ihr Blick flog über die Buchstaben hinweg, ohne sie zu lesen. Sie konnte ebenfalls nur diese ungewöhnlichen Schmerzensschreie aus dem Behandlungsraum 1 hören.
Nach einer weiteren halben Minute unter den scheinbar endlosen Schreien hielt es Josef schließlich nicht länger aus. Er sprang hastig auf, spurtete zu seinem Mantel und begab sich ohne einen Blick zurück zum Ausgang. Scheiß auf die Schmerzen, dachte er sich. Es gibt auch andere Zahnärzte... amerikanische Zahnärzte.
Beim Rausgehen hörte die Rothaarige ihn murmeln: „Routine...“ Dann war er verschwunden.
Fast im selben Moment, da die Tür hinter ihm zuschlug, endeten die Schreie so rasch, wie sie begonnen hatten. Die Helferin sah von Terminen auf und runzelte verwundert die Stirn. Die Tür zum Behandlungsraum 1 schwang auf und langsam trat der fremde Patient heraus. Er blieb hinter der Schwelle stehen, den Blick geradeaus gerichtet, und wischte sich etwas aus dem Mundwinkel. Dann drehte er der Gehilfen das Gesicht zu, und er grinste. Doch seine Zähne zeigte er nicht, und seine Augen blieben ernst. Sie starrten die junge Frau stumm an.
Die Gehilfin lehnte sich über den Tresen und blickte in den Behandlungsraum, doch in dem kleinen Ausschnitt des Raumes, den sie überblicken konnte, sah sie nichts auffälliges – auch nicht den Doktor, der folgen sollte. Auch als der Fremde den Blick wieder nach vorne gerichtet mit großen langsamen Schritten auf den Ausgang zulief, trat kein Doktor aus dem Raum.
Der Fremde trällerte beim verlassen der Praxis „Reine Routine...“ Dann war er verschwunden.
Die Schwester zögerte und wartete auf den Doktor. Er kam nicht. Sie trat hinter der Rezeption hervor und lief bis zur Schwelle am Behandlungsraum 1. Hier blieb sie stehen und sah in den normalerweise weißen Raum. Kurz schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, an den sie sich später nicht mehr erinnerte: ‚Rot? Wieso rot?’
Dann begann sie zu schreien.