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Route 66+ … auf geht`s
In der Stille liegt eine große Kraft. Daran glaubt Thomas, seitdem er diese Erfahrung kürzlich in einer Kirche gemacht hat. Jetzt will er alles über diesen Zusammenhang von Stille und Kraft erfahren. Und zwar nicht im Monolog, sondern im Gespräch mit einem anderen. Am besten mit einem guten Freund.
Thomas hat einen guten Freund – Conny.
Conny heißt eigentlich Konrad. Conny ist Mitte 40. In seiner Jugend hat er beschlossen, dass Konrad ein sehr, sehr altmodischer Name ist, und dass sein richtiger Name Conny lautet. Früher war Conny nicht ohne. Früher hat er gerne einen Streit angefangen. Und dann hat er im Streit so manchen umgehauen.
Vor etwa 20 Jahren hatte Conny einen Motorradunfall. Seitdem ist er an den Beinen gelähmt. Er sitzt jetzt im Rollstuhl. Mit der Lähmung ist die Aggressivität aus Conny verschwunden. Dafür hat die Natur ihn eine neue Qualität erkennen lassen. Empathie. Conny kann unwahrscheinlich gut zuhören. Und Conny kann sich in den Gesprächspartner hinein versetzen. Er hat dann oft einen Kommentar zur Hand, der Thomas dann hilft.
Zuhören können und kommentieren, das sind die Gründe, weshalb Conny Thomas` bester Freund ist. Thomas ist 66 und seit einem Jahr Rentner. Thomas und Conny treffen sich in der Regel zwei Mal in der Woche zum Plauschen. Diesmal erzählt Thomas von seinem neuen Gefühl der Stille und Kraft, das er in der Kirche erfahren hat.
Conny denkt nach. Er denkt ziemlich lange nach, eine Minute, zwei Minuten. Thomas wartet ab. Schließlich haben sich bei Conny die angefragten Synapsen zusammengeschlossen: „Hast du dieses Gefühl der Stille schon einmal in ähnlicher Form gehabt?“
Thomas kann es kaum abwarten zu antworten. Er antwortet so schnell, dass er sich beim Sprechen fast verhaspelt. „Ja, auf Teneriffa. Ich habe mir diese Antwort genau überlegt, ich habe mir die Antwort schon ein paar Mal überlegt. Und das kam so...“
Conny lehnt sich entspannt zurück. Thomas lehnt sich leicht verspannt nach vorne über den Tisch, näher an Conny heran. Und dann kommt Thomas` Geschichte aller Geschichten aus seinem sehnsüchtigen Mund. Es ist die Sehnsucht nach der Wiederholbarkeit eines außerordentlichen Gefühls, die Thomas erfüllt hat.
Thomas erzählt folgende Geschichte: „Als ich pensioniert wurde, sind Marianne und ich nach Teneriffa geflogen. Wir hatten, feudal, ein Hotelzimmer mit einem Balkon zum Meer hin gebucht. Auf diesem Balkon hatten wir beide reichlich Platz, um uns auf zwei rizzy Stühlen gemütlich auszubreiten. Die Stühle waren mit einem wunderbaren Kippmechanismus ausgestattet. Sobald du den Stuhl gekippt hattest, kam an der Fußkante eine Trittleiste hervor. Schöön bequem.“
Thomas nippt an seinem Tee. Salbei Tee soll ja so gesund sein. Und wenn ein Mensch in Thomas` Alter ist, und wenn ein Mensch solide finanziell abgesichert ist, ja dann will so ein Mensch auch noch ein bisschen Leben. Darum trinkt Thomas Salbei Tee. Er hat eine Packung mit Portions-Säckchen für sich und Conny zum Gespräch mitgebracht.
„Was heißt rizzy?“, fragt Conny indigniert. „Seit wann kommst du mit solchen krummen Ausdrücken herüber?“ Thomas lacht laut auf und erklärt mit Bübchengrinsen: „Rizzy heißt toll. Der Ausdruck steht auf urbandictionary.com. Ich habe ihn kürzlich im Internet gefunden.“ „Finnich gut, wenn du moderne Ausdrücke übernimmst.“, meint Conny trocken. Beide lachen, denn jetzt hat Conny auch seinen krummen Ausdruck gehabt.
„Aber zurück zum wirklich wichtigen Teil“, fährt Thomas mit strahlendem Gesicht fort. Seine Augen blitzen, seine Wangen sind leicht gerötet und seine Stimme klingt heller als vorher. Thomas erhebt sich wieder aus seiner nach vorne gebeugten Haltung, und er lehnt sich entspannt nach hinten. „Ich sitze also abends auf dem Balkon. Ich schließe die Augen. Ein warmer Wind vom Meer gibt mir ein wunderbares Streichelgefühl auf meinem Gesicht. Leise Musik vom Restaurant unten rechts klingt zu uns herauf. Ich schwebe.“
Conny hat sofort die richtige Frage parat. „Konntest du das Gefühl später wiederholen?“ „Nein. Leider nicht.“ Thomas sieht bei dieser Antwort traurig aus. Seine Lippen fallen leicht abwärts. „Ich habe mich an den folgenden Tagen immer wieder auf den Balkon gesetzt, aber das Gefühl des ersten Tages hat sich nicht mehr so schön eingestellt.“
„Der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch an die schönen Dinge des Lebens.“ Conny ist direkt. „Und wieso hast du dich in der Kirche an dieses Gefühl erinnert?“, fragt er. Conny weiß wirklich, wie man im Gespräch auf den Kern der Sache kommt.
„Das ist genau mein Punkt. Dieses Gefühl der Stille in der Kirche war so schön, ähnlich wie damals im Urlaub. Da habe ich gedacht, das hole ich mir wieder. Ich muss einfach noch einmal in die Kirche gehen.“, erklärt Thomas. „Dann mach das doch“, meint Conny lakonisch. Thomas schaut seinen Freund ruhig an. „Weißt du, ich bin noch einmal in diese Kirche gegangen. Ich habe diesmal sogar die Augen geschlossen. Und jetzt kommt der Clou. Das gleiche Gefühl der Leichtigkeit ist wieder in mir hoch gestiegen, wie beim letzten Besuch. Und dann war da eine Energie in mir, aber diese kann ich nicht beschreiben.“
„Wiederholung. Geh` einfach wieder und wieder hin.“, meint Conny. „Hey, hey. Das weiß ich auch.“, entgegnet Thomas resolut. „Ich komme zu dir, weil ich deine Hilfe suche. Kannst du mir helfen, dieses Gefühl zu erfassen? Kennst du dieses Gefühl auch?“
Conny hat die Antwort parat. „Jo. Heiliger Raum plus Loslösung. Als ich damals den Unfall hatte, lag ich auf einer Intensivstation. Totale Stille war um mich herum. Alles war egal. Ich schwebte im Nichts. Das war gar kein schlechtes Gefühl, ein, ich sage mal, himmlisches Gefühl, wie ich mir einen Besuch bei das Gott vorstelle. Du hast etwas Ähnliches erfahren. Damals in Teneriffa, du hast Loslösung von allen beruflichen Problemen erfahren. Aber das Hotel war kein heiliger Raum, daher fand keine adäquate Wiederholung statt. In der Kirche hast du das Gefühl anders erfahren. Die Kirche ist ein heiliger Raum, sie schirmt dich von den Einflüssen der äußeren Welt ab. Da sind dicke Mauern, kein Verkehrslärm dringt herein. In der Kirche siehst du keine Geschäfte, keine Werbung, und es gibt keine Leut` zum Angucken. Kurzum, es findet keine Anhaftung an gewohnte Dinge statt. Deine Sinne sind nicht abgelenkt, also brauchen die Sinne keine Energie. Energie ist aber da. Deine Energie geht dann nicht in die Sinne, sondern woanders hin.“
Thomas: „Und wohin geht die Energie?“ Conny: „Ins Selbst.“
Thomas Gesichtsausdruck signalisiert Nichtverstehen. Conny rollt seinen Stuhl zum Regal auf der hinter ihm liegenden Wand. Dort holt er mit sicherem Griff ein Buch heraus. Keinen dicken Wälzer, sondern eher ein Büchlein. Conny fährt zurück zum Tisch. Im Buch sind keine Spickzettel eingelegt. Conny blättert nur kurz, dann greift auf eine ihm wohl bekannte Seite zu und liest vor:
Die drei gunas sind der Veden Thema,
sei ohne die drei gunas, Arjuna,
befreit von Zweiheit, in Reinheit ewig fest,
nicht an Besitz gebunden, dem Selbst gehörend.
„Was sind gunas?“, fragt Thomas. Eine berechtigte Frage. „Die Einflüsse der äußeren Welt.“, lautet Connys Antwort.
Thomas schweigt. Den Text hat er auf die Schnelle nicht verarbeitet, aber eine Botschaft hat ihn erreicht. Ein Art Reisetip. Er beendet das Gespräch mit einem freundlichen Lächeln und sagt: „Ich danke dir, Conny. Das muss ich jetzt verdauen. Tschüß.“