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Rotkäppchen
Vor gar nicht allzu langer Zeit, 1996 um genau zu sein, lebte ein kleines Mädchen in der Uckermark, genauer in einem kleinen Dorf unweit von Prenzlau. Sie lebte dort zusammen mit ihrer Mutti und zwei kleinen, niedlichen Kätzchen. Ihren Vater hatte das Mädchen nie kennen gelernt, da er ihre Mutter schon kurz nach der Zeugung verließ. Der Name des Mädchens darf aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht genannt werden, der Name der Mutter ist Doreen A., der Name des Vaters ist unbekannt, wahrscheinlich kennt Doreen ihn auch nicht. Die Hobbies der Kleinen, die etwa 15 Jahre alt ist, sind Blumen pflücken, im Dorf herumtollen, die Kätzchen mit Wasser nassspritzen und den alten, grummeligen Nachbarn ärgern.
Während der Schulzeit fährt normalerweise ein Schulbus, der die gesamte Umgebung von Prenzlau abfährt, um alle schulpflichtigen Kinder abzuholen und in die Grundschule zu fahren.
Leider wurde dem Fahrer gestern gekündigt, da er mit Alkohol am Steuer erwischt wurde und man dies ja nicht macht.
Deswegen muss die Kleine, die aufgrund ihres roten Anoraks mit Kapuze „Rotkäppchen“ genannt wird, heute zu Fuß die 8 Kilometer zur Schule gehen. Normalerweise würde sie ja ihr Fahrrad nehmen, doch zu ihrem großen Schrecken musste sie feststellen, dass ihr Hinterrad einen Platten hat. Also geht sie zu Fuß, verlässt das Haus um 7:00 Uhr, Doreen ruft ihr noch ein „trödel nicht wieder herum“ hinterher und schaltet den Fernseher an, nachdem die kleine Nervensäge endlich außer Hörweite ist. Dann ruft sie Ronny, den schniecken Dachdecker aus dem Nachbardorf an und beide gönnen sich einen Tagesausflug nach Berlin, man lebt schließlich nur einmal.
Rotkäppchen (sie hasst diesen Spitznamen, aber was kann man schon tun?) schlendert die Dorfstraße entlang bis zum Dorfende. Sie beschließt spontan, heute einen kleinen Umweg durch den Wald zu nehmen und Tante Helge zu besuchen. Tante Helga ist nicht ihre richtige Tante, aber wenn sie sie besucht, steckt diese ihr oft einen Fünfer zu, außerdem hat Tante Helga einen Flatscreenfernseher und eine Perserkatze. Tante Helga wohnt ein wenig einsam auf einer Lichtung im Wald, ca 15 Minuten entfernt.
Kurz nachdem sie den Wald betreten hat, nähert sich der Wolf. Er fragt ( ja, Tiere können in dieser Geschichte sprechen), was der alte , grummelige Nachbar macht und ob sie, Rotkäppchen, ihn heute schon geärgert habe. Sie verneint dies, sie hätte ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Der Wolf sorgt sich ein wenig, schließlich kennt er den alten Mann schon sein ganzes Wolfsleben lang. Er erzählt Rotkäppchen von einem neuen Rudel polnischer Wölfe, die seit kurzem in der Uckermark wohnen und sie beschließen, Schule Schule sein zu lassen und dieses Rudel zu besuchen.
Tiefer und tiefer gehen sie in den Wald, plötzlich verdunkelt sich der Himmel und es beginnt zu regnen. Sie laufen zu einer kleinen Kirche, Rotkäppchen geht hinein, der Wolf wartet draußen, schließlich ist er ein wildes Tier und darf als nichtgetauftes Wesen die Kirche nicht betreten.
Innen ist es kühl, aber trocken. Rotkäppchen setzt sich erschöpft in die zweite Reihe. Der Pfarrer entdeckt sie und bietet ihr leckere Kekse an. „Komm, mein Kind, hinter der Kanzel habe ich noch mehr davon.“ Sagt er und das gutgläubige Mädchen geht mit ihm. Jesus guckt vorwurfsvoll vom Kreuz, sagt aber nichts, schließlich ist er nur eine Holzstatue. In Situationen wie diesen wird ihm das immer schmerzlich bewusst. Manchmal hängt er da und beginnt zu philosophieren: da hat er nun eine so große Anhängerschaft, das Haus ist voll, jeden verdammten Sonntag ist die Kirche voll, und niemand, wirklich niemand kam je auf den Gedanken, ihm von Kreuz zu holen. Auch hat ihm bisher niemand je eine warme Decke im Winter gegeben, immerzu, sein ganzes Leben schon (also, zumindest seit er 1823 von Sven Heinar geschnitzt wurde und vom Pfarrer Blumberg, Gott habe ihn selig, 1824 an die Kirchenwand gehangen wurde, hängt er hier. Sogar im Krieg, als jeden Sonntag schnicke junge Männer in heißer Uniform die Kirche besuchten, hing er herum. Tja, und so hängt er auch jetzt noch hier und wird wohl auch noch im Jahre 2019 hier hängen. Manchmal ist das schon ziemlich langweilig, aber jeder hat sein Kreuz zu tragen. Er sieht, wie sich die Tür vom Beichtraum öffnet und das weinende Rotkäppchen vom Pfarrer herausgeführt wird. Kurz fragt er sich, warum das Rotkäppchen weint, aber junge Mädchen weinen ja ziemlich oft.
Der Pfarrer schaut ihn an und zwinkert ihm zu. Jesus freut sich und zwinkert zurück. Er würde ihm ja gern eine Kusshand zuwerfen, aber beide Hände sind ans Kreuz genagelt. Überhaupt, nageln, er würde ja gern mal den Pfarrer …aber nein, solche Gedanken sind ziemlich unanständig und gehören sich nicht.
Das Rotkäppchen verlässt die Kirche, ihre Tränen sind mittlerweile getrocknet. Sie sucht den Wolf, es scheint, als hätte er nicht auf sie gewartet, aber wenigstens hat der Regen aufgehört.
Sie mag den Pfarrer nicht besonders, noch weniger mag sie es wenn er sie hinter die Kanzel bittet und sie ihm ihre Sünden beichten muss. Ihr fallen immer keine Sünden ein, weswegen sie sich heute schon den ganzen Weg überlegt hat, was sie ihm heute beichten könnte. Nachdem ihr eine richtig gute Sünde eingefallen ist und sie ihm diese gebeichtet hat, ist der Pfarrer rot geworden, hat ihr links und rechts eine kräftige Ohrfeige gegeben und sie angebrüllt, dass sie mit 15 Jahren ja wohl noch etwas jung für so etwas sei und ihre Mutter sich schämen solle. Daraufhin ist sie in Tränen ausgebrochen, was meistens immer hilft, doch statt sie zu trösten, gab ihr der Pfarrer erneut zwei Backpfeifen, und die letzte hat wirklich weh getan. Dann hat er sie aus der Kirche geworfen und das Jugendamt informiert. Nun ist sie sauer: sauer auf sich, weil sie so eine beschissene Sünde erdacht hat, sauer auf den Pfarrer, der ihr einige Ohrfeigen gegeben hat, sauer auf ihre Mutter, die bestimmt vom Pfarrer angerufen wird, nur, damit er feststellt, dass die ganze Geschichte erlogen ist und erst recht sauer auf den Wolf, der einfach so abgehauen ist, und nicht vor der Kirche auf sie gewartet hat. Sie grummelt vor sich hin und trifft nach einiger Zeit auf den Wolf. Dieser hat sich mit seinen polnischen Leidensgenossen getroffen und in großer Runde haben sie gekifft. Nun sind sie ziemlich heiter und lachen immer drauf los, sobald das Rotkäppchen ihnen sagt, dass sie total sauer ist. Schließlich muss auch sie lachen.
Sie beschließen, zusammen zum alten Nachbarn zu gehen und ihn in der Gruppe zu ärgern, doch das ist eine andere Geschichte.