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Rotkäppchen
Das Laub raschelt, wenn du dich bewegst. Ich bin leise, lautlos, kaum mehr als ein Schatten. Und hungrig, so lange schon. Ein Hunger, so schwer zu stillen. Du bewegst dich unbeschwert. Ich kann dich riechen, vom zarten Duft deines Haares bis zu dem jungfräulichen Saft, der zwischen deinen Schenkeln fließt. Diese jungen, weißen Schenkel. Mager in den rauen Strümpfen. Lass mich dir eine Geschichte erzählen; „es war einmal, mein kleines Mädchen“. Der Wind spielt in deinem Haar und weht seinen Duft zu mir herüber. Hungrig, so hungrig. Die Augen groß, naiv und unschuldig. Du siehst den Schatten nicht. So jung, so gut behütet in deiner Welt ohne Kummer.
„Verlasse nicht den Weg.“ Mütter haben immer Recht. Auf dem Weg ist es sicher. Doch auf dem Weg bleibt niemand lange. Steinig reißt er sich durch das dunkle Grün des Waldes. Wie grün ein Wald doch sein kann, wenn der Weg voller Steine ist. Lauf, mein kleines Mädchen, lauf! Die alte Frau wartet schon, nun lauf. Ihr Herz ist schwach, die Knochen alt, das Fleisch ist zäh. Zäher, alter Braten. Faltig und runzlig erwartet sie dich in ihrer Hütte, die nach Mottenkugeln, Lavendel und Verwesung stinkt.
Du, mein Kind riechst süß und frisch. Unberührte Blume. Ein Duft, der mich packt und schüttelt bis schwindelig ist. Sing nur, mein Vögelchen in deinem Käfig aus Gold und Zucker, dessen Stäbe du nicht siehst. Die Blätter schlucken deine Melodie und träufeln sie mir zu wie Ruinart rosé. Schüre meinen Hunger nur. Der Magen knurrt mir so laut, dass die Vögel in den Büschen erschrocken auffliegen. Doch ich bleibe im Schatten. Hinter dir, lautlos, hungrig. Mager und struppig vor lauter Hunger. Würdest du mich entdecken, würdest du schreien; ganz sicher. Fast spüre ich schon deine zarte, blasse Haut an meiner Zunge, zwischen meinen Zähnen. Fürchte dich, fürchte dich nicht. Schrei für mich, nein, du brauchst nicht zu schreien. Doch schrei! SCHREI SO LAUT DU KANNST! Kein Jäger hört dich hier so tief im Wald. Sie werden mich nicht finden, denn wenn sie mich finden, werden sie mich töten. Keine Verhaftung, kein Prozess, kein Gefängnis kann unsereins halten. Zückt die Flinte, ihr Feiglinge und schießt! Es ist nur fair.
Deine Schritte werden unruhig. Oh, du ahnst es wohl schon. So tief im Wald, wo ist da die Unbekümmertheit? Wo ist deine naive Unsterblichkeit, mein Liebling? Tief im Wald, noch immer auf dem rechten Weg. Was nützt er dir jetzt? Verschlungen, voller Kurven verwehrt er dir den Blick auf den sicheren Ort, von dem du kamst und gönnt dir auch noch nicht die Ahnung deines Ziels. Wer sieht denn hier, ob du abweichst oder folgst? Nur ich, mein Liebling, und ich bin hungrig. Diese straffen Schenkel, dieser kaum zu erahnende Ansatz zarter Brüste und der Duft deines Haars. Mädchenduft, süßer als die feinste Pâtisserie française. Ich bin Feinschmecker, mein Liebes und was könnte seltener und kostbarer sein als du? Was könnte mehr die Zunge streicheln, den Gaumen liebkosen und die Lippen verwöhnen?
Der Hunger quält mich mit seinem eisernen Griff. Werde ich dich verschlingen mit Haut und Haaren oder werde ich dich genießen?Es wäre Verschwendung dich nicht zu genießen. Der Wald ist dunkel und tief, mein Liebes. Hast du Angst? Ahnst du es schon? Wie könntest du, unschuldig wie du bist. Mein Kleines, mein Engelchen. Flatterhaft wie ein junger Spatz, sanft und unschuldig wie ein Kaninchen. Ich halt es kaum noch aus, mich zu bremsen fällt so schwer. Wie leicht wäre es, dich zu packen, vom steinigen Weg zu pflücken wie ein verirrtes Gänseblümchen und jedes Blatt einzeln von deiner Blüte zu zupfen.
Ich trete aus dem Schatten. Meine Beine zittern, so sehr muss ich mich beherrschen, dich nicht anzufallen und meine Zähne in diese zarte Haut zu schlagen. Du erschrickst nur kurz. Ja, mein Liebes, ich bin groß, ich bin gefährlich, ich bin böse. Doch diese Angst, sie hält nicht lange. Nur ein kurzer Schrecken und die Neugier siegt. Tapferes, naives, dummes kleines Mädchen.
„Guten Tag“, sagst du höflich. Deine Stimme ist wie Meißner Porzellan. So fein, so zart, so zerbrechlich. Was wird das für ein Klirren und Springen, wenn du erst zu Boden fällst. Deine Scherben werde ich vom Boden auf lecken.
„Auch dir entbiete ich einen guten Tag. Wohin führt dich dein Weg zu so früher Stunde?“ Bemerkst du das Flattern in meiner Stimme? Nein, nicht du, unschuldiges Lämmchen. Die Kontrolle wackelt und schwankt auf ihren hohen, dürren Stelzen, doch sie bleibt stehen – vorerst. Meine Worte sprudeln perlend wie Château Margaux; schwer, bedächtig, dunkel. Ich bemerke kaum, welche Worte meine Kehle formt. Dein Duft wird stärker mit jedem Zentimeter, den ich dir näher komme. Wie ein dichter Schleier, der meine Sinne vernebelt, mich blind und taub macht. Zurückhaltung! Noch ist genug übrig. Noch. Genug.
„Zur Großmutter.“ So viel jugendliche Schüchternheit in deinem Blick. Verlegenheit in deiner Stimme, doch deine Augen … sehe ich sie vor Neugier glühen oder täuschen mich meine Sinne geblendet von deiner unschuldigen Schönheit. Was bin ich hungrig!
„Was trägst du bei dir?“ Als wenn ich all das nicht schon längst wüsste. Locken, ködern, in Sicherheit wiegen.
„Kuchen und Wein.“ Oh dieser Plauderton, dieser kindliche Stolz. Deine Unschuld würzt dein Fleisch wie Thymian und Karamell. „Gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und schwache Großmutter etwas zu Gute tun und sich damit stärken.“ Die Worte ihrer Mutter. Wiederholung, Imitation, so wird man erwachsen. So lange wirst du nicht mehr sein, mein Kind. Wein und Kuchen, Brot und Spiele. Wenn ihr kein Brot habt, dann esst doch Kuchen. Die Gedanken brodeln und vermischen sich. Zu nah bist du mir. Beherrschung! Ich berühre deinen Arm. Nur ganz flüchtig, ein Wimpernschlag ist eine Ewigkeit dagegen. Beherrschung, Ablenkung!
„Wo wohnt denn deine Großmutter?“ Ablenkung. Noch nicht! Zu früh. Zu hungrig, um zu genießen. Dich zu verschlingen wäre Verschwendung.
„Noch eine gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen, da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken.“ Als wüsst ich's nicht. Als wüsste ich nicht alles schon über dich, mein Herz. Wer kennt dich so wie ich? Wer könnte? Du trägst dein Lieblingskleid, du liebst Kätzchen und Häschen und bunte Blümchen, wie alle kleinen Mädchen. Und du fürchtest keine Fremden. Naive, kleine Unschuld, die du bist. Beherrschung Ablenkung!
„Sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen. Warum schaust du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen. Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und es ist so lustig hier draußen im Wald.“ Ablenkung. Beherrschung. Für dich ist die Zeit noch nicht gekommen. Du wirst das Dessert, auf das man sich schon vor dem Amuse gueule freut. Zeit für ein fettes Hauptgericht, das mir den Hunger zügelt und den Magen füllt.
Ich eile durch den Wald. Keine Sorge, dich vergess ich nicht, mein Herz. Eeine Viertelstunde? Ich brauche nur Atemzüge bis zu ihr. Sie ist alt, man wird sie nicht einmal vermissen. Ich kann sie schon riechen, bevor ich an die Tür klopfe. Ein schwerer, düsterer Geruch, gereift wie Grana Padano oder Gruyère.
„Wer ist draußen?“ Ihre Stimme bröckelt wie Gips. Wer besucht dich denn schon so weit draußen, so tief im Wald? Schließ die Tür auf, ich bin hungrig!
„Drück nur auf die Klinke. Ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Närrisch, naiv wie deine Enkelin. Verrat mir deine Schwächen, zeig mir wohin ich beißen muss. Deine Haut ist runzlig, wie die Rinde einer Eiche. Sie erzählt deine Geschichte in all ihren Facetten. Wen hast du geliebt? Wen hast du gehasst? Knurrende, alte Bärin, zermürbt von jahrelanger Arbeit, gebeugt von kummervoller Einsamkeit. Die Hüfte schwach vom Gebären unzähliger Bälger. Wie viele überlebten ihren ersten Winter? Wie viele leben jetzt noch? Drei? Vielleicht nur zwei? Frustrierende Quote bei der Aufzucht. Und jetzt bist du allein im dunklen Wald, alte Frau und wartest auf das Kind, das du niemals wieder sehen wirst.
Das Fleisch ist zäh, doch aromatisch. Frauen sind wie Wein. Ob süß, ob trocken, schwer, zart perlend, dunkel, hell. Ob frisch gekeltert oder lang gereift. In jedem Alter sind sie ein Genuss. Dich werde ich nicht genießen. Viel zu hungrig. Dein Fleisch wird mir dir Ruhe geben, mir dein kleines Vögelchen auf der Zunge zergehen zu lassen. Mit jedem Bissen, jedem Atemzug. Es ist schnell vorbei. Schrei ruhig, alte Frau. Dich hört hier niemand. Der tiefe Wald macht anonym. Du warst keine Trophäe. Hausmannskost. Gute Nacht, Großmutter. Mein Magen schreit nicht mehr. Nun bin ich bereit für mein Prinzesschen. Ich bin sanft und verspielt, wenn du mich lässt, das wirst du schon sehen. Und du wirst mir eine Freude sein. Ich schlüpfe in Großmutters Kleider und lege mich in ihr Bett. Das wird ein Spaß. Ich werde lachen, du wirst schreien.
Ungeduldig wartend. Oh, wie furchtbar ist doch das Warten. Ich sollte die Vorfreude genießen, doch ich warte nur. Mein Knie zuckt wie unter Strom. Die Zweige knacken vor der Tür. Bist du es schon, Geliebte? Ein Kaninchen, nur ein Kaninchen. Vorfreude. Wie soll ich mich bloß darauf konzentrieren? Wartend, wartend. Wartend warten auf die Eine. Die große, alte Standuhr tickt verhöhnend. Ein Haar hängt mir noch zwischen den Zähnen. Zähe, alte Großmutter. Sie hat lange geschrien, doch dafür schwach und leise. Kaum mehr als ein Wimmern. Wie lange wirst du schreien? Ich seh schon die Tränen über deine zarten, rosigen Wangen kullern. Ich werd sie dir weg küssen. Oh, dieses zarte, straffe Fleisch. Weiß wie frische Milch und rosa wie eine Apfelblüte. Werd ich den ersten daunengleichen Flaum schon zwischen deinen Beinen spüren? Wie weit wölbt sich der erste Ansatz von Brust unter deinen feinen Kinderkleidern, denen du schon fast entwachsen bist? Der Hunger kehrt zurück. Nein, nicht Hunger; Appetit. Die Sorte Appetit, die dir das Blut zum Kochen bringt und das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Die Beine in den langen Strümpfen, knackig und doch zart, der zarte runde Po, der sich unter dem Kleine-Mädchen-Rock erahnen lässt, wie kein Maître de Cuisine ihn jemals formen könnte. Oh, wie werde ich genießen.
Ein Knacken vor der Tür und ich rieche deinen Engelsduft, sauge ihn so tief ein, dass das Nachtgewand der Alten sich wölbt wie ein Ballon. Meine Hände zittern vorfreudig, als ich dein Klopfen höre. Mit einer Stimme, die dem Theâtre de Paris würdig wäre, rufe ich im Ton der Alten, die in meinem Magen ruht.
„Drück nur die Klinke. Ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen.“ Perfektion. Mein Publikum ist getäuscht, ich bitte um Applaus. Die Göttin betritt die Bühne. Jung und unschuldig, wie Diana selbst und dich bist du mir Venus, du bist Kalypso, meine Nymphe. Meine Persephone, ich werde dich entführen.
Dein Duft stürmt mir entgegen wie der Sonnenaufgang. Du siehst mich nicht, das Bett hat Vorhänge. Wie altmodisch und doch so praktisch. Der verstaubte Stoff wird uns verhüllen wie die Blütenblätter der Magnolie. Deine Schritte sind zaghaft. Ahnst du etwas? Ich wette, du riechst es. Ja, du musst es riechen, weißt nur nicht, was es sein könnte. Du trägst Blumen in deinem Arm. Klatschmohn und Kornblumen, frisch gepflückt, noch nicht in voller Blüte und doch jetzt schon wunderschön. Mein ganzer Körper bebt. Beherrschung. Ein letzter Moment, nur noch ein Augenblick. Komm näher, Kind, näher heran. Dein aufblühendes Misstrauen macht das Spiel nur spannender. Ich kann fast deinen Herzschlag hören. Do-Domm, do-domm, do-domm. Mein Häschen in der Grube, du kannst den Räuber fühlen, aber du siehst ihn nicht.
„Großmutter, was hast du für große Ohren?“ Das Zimmer ist finster und die Vorhänge werfen Schatten. Naives, kleines Täubchen.
„Damit ich dich besser hören kann.“ Deine Engelsstimme. Nein, du willst es nicht, du wirst um dein Leben schreien und ich schreie mit dir.
„Großmutter, was hast du für große Augen?“ Mein Herzschlag mit deinem. Ein Trommelkonzert. Crescendo. Stakkato.
„Damit ich dich besser sehen kann.“ Deine helle Haut, dein weiches Haar, die aufkeimende Angst in deinen Augen.
„Großmutter, warum hast du so große Hände?“ Das Blut pocht gewaltig in meinen Adern. Der Atem stößt in meine Lungen und verlässt mich als Keuchen. Zurückhaltung. Ein letzter Moment nur noch.
„Damit ich dich besser packen kann.“ Deine winzigen Brüste, die zarten Beinchen, der knackige Po und der flaumige Spalt zwischen deinen Schenkeln. Du schauderst. Ich sehe es; rieche, fühle, höre deine Angst. Sie füllt den Raum und verbrennt unter meiner Hitze.
„Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul?“ Nein, du willst es nicht und du wirst schreien. Mein verschrecktes Kaninchen, mein Spätzchen. Ich nenne dich Lucretia, Jeannie, Charlene.
„Damit ich dich besser fressen kann!“
Es ist schnell vorbei. Zu schnell. Das ist es immer. War es jedes Mal, wird es immer sein. Der Hunger ist gestillt, der Appetit gezügelt. Verschwinden wird er nie. Ich muss weiter, bevor er wieder brennt. Schnell weiter. Die Jäger kommen. Für dich ist es zu spät, mein Herz, sie wissen es nur noch nicht. Ich kann sie hören. Die Stampede aus Lederstiefeln, das Klappern der geladenen Gewehre. Es ist zu spät, sie sind zu nah. Was soll's, kommt nur! Findet sie, die Reste meiner Mahlzeit. Kommt doch her! Es sind zu viele. Sie sind hier. Nur wir Auge in Auge. Schießt doch, ihr Feiglinge! Schießt!