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Rotkäppchen und die Plastikschlangen

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18.01.2012
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Rotkäppchen und die Plastikschlangen

„Du kannst mich doch nicht die ganze Zeit so zum Lachen bringen.“ Mit einer Hand hielt sich Mama den Bauch, während sie sich mit der anderen die Tränen aus den Augen wischte. „Was sollen denn die Ärzte und die Patienten im Nebenzimmer denken, wenn wir hier ständig Radau machen?“

Sie gab sich alle Mühe, das Grinsen auf ihrem Gesicht in einen tadelnden Blick umzuwandeln, dabei war es schon abzusehen, dass ihr das nicht gelingen würde. Es war Mamas ‚Eigentlich-müsste-ich-dich-jetzt-schimpfen-Blick’. Sie setzte ihn immer dann auf, wenn Mike etwas ausgefressen hatte, sie ihm aber nicht böse sein konnte. Schon als kleiner Junge hatte Mike ganz genau gewusst, wenn es ihm erst mal gelungen war, dass Mama so guckte, dann hatte er es geschafft. Dann gab es keinen Hausarrest mehr und auch kein Süßigkeitenverbot.

“Was hab ich denn jetzt schon wieder gemacht?“, gab Mike mit gespielter Entrüstung zurück. „Ich hab doch nur gesagt, dass ich nie damit gerechnet hätte, dass ausgerechnet meine eigene Mutter mir mal den Rang als Trendsetter ablaufen würde. Nur wegen dir entwirft jetzt jeder Designer, der was auf sich hält, neue Schmuck-Kollektionen im Plastikschlangen-Look.“

Vorsichtig betastete Mama die beiden Schläuche, die von ihrer Nase über Ohren, Schultern und Bettdecke zum Sauerstoffgerät wanderten. Plastikschlangen hatte Lia sie genannt und sich gewundert, ob sie auch Mäuler hatten. Mike fand, dass sie eher wie eine außerirdische Technik aussahen, aber mit den Darth-Vader-Sprüchen waren sie mittlerweile durch. Die rangen Mama nur noch ein müdes Lächeln ab.

Er schlug die Wimpern nieder, um Mamas ‚Eigentlich-müsste ich dich-jetzt-schimpfen-Blick’ mit seinem ganz persönlichen ‚Können-diese-Augen-lügen-Unschuldsblick’ zu kontern. Genaugenommen war es Papas ‚Können-diese-Augen-lügen-Unschuldsblick’, aber Mike und Lia hatte Papas große braune Kulleraugen geerbt und es mittlerweile zur Meisterschaft in Unschuldsblicken gebracht. Nur Vinca nicht, aber die hatte das auch nicht nötig. Vinca stellte nie etwas an. Sie verbrachte ihre Zeit damit, Verben zu konjugieren und Merkzettel nach dem Alphabet zu ordnen.

Mama holte tief Luft und das Gerät gluckerte leise. Sie ließ sich gegen die aufgestellte Lehne ihres Bettes zurücksinken, ihr rotes Häubchen ein bunter Farbtupfer auf dem weißen Kissen. Ihr Kopf sah so winzig aus, ohne Haare auf diesem großen Kissen, fast wie der Kopf eines Babys.

„Du hast dich noch immer nicht daran gewöhnt, stimmt’s, Michael?“ Mama lachte jetzt nicht mehr, sie griff nach Mikes Hand und drückte sie. „Ich wollte eigentlich heute nachmittag meine Perücke aufsetzen, aber sie kratzt so sehr.“

Doch Mike grinste nur. „Ach, Mama, wer trägt denn heutzutage noch Haare? Haare sind doch total out. Selbst der Sänger von der Front Row Band hat sich jetzt eine Glatze rasiert und der hat noch in allen Interviews rumposaunt, dass er nie zum Friseur gehen würde. Aber wenn du höchstpersönlich einen neuen Modetrend setzt, dann bleibt dem Rest der Stars und Sternchen ja nichts anderes übrig, als mitzuziehen.“

Und schon schmunzelte sie wieder. „Ja, ich weiß schon, das ist einer von den schwarzgekleideten Ledermännern, die in deinem Zimmer hängen.“ Sie tätschelte immer noch Mikes Hand und ließ sie dann los, um nach dem Schälchen mit Apfelkompott zu greifen, das auf dem Rolltischchen neben ihrem Bett stand. Sofort sprang Mike auf, um das Tischchen näher heran zu rücken, doch sie winkte ab. „Dass du immer noch dieses Geplärre hören musst. Ich hoffe doch, du machst es abends rechtzeitig aus, damit Eliane schlafen kann. Sie ist so blass in letzter Zeit und jedes Mal, wenn sie kommt, hat sie Ringe unter den Augen. Ihr müsst mehr Vitamine zu euch nehmen, alle beide. Und Papa sowieso.“

„Wir passen schon auf, Mama, ich bin inzwischen der Kochmeister zu Hause.“ Das war nicht mal übertrieben, Papa schaffte es immer noch irgendwie, die Gewürze zu verwechseln und die falschen Knöpfe am Herd anzudrehen. Aber das war noch gar nichts im Vergleich zur Waschmaschine. Mama hatte Papa auf einem Zettel ganz genaue Anweisungen aufgeschrieben, welche Einstellungen für welchen Waschgang nötig waren und in den ersten Wochen war Papa zeternd mit dem Zettel in der Hand im Waschkeller auf und ab marschiert, bis Frau Hüter aus dem ersten Stock vorbeikam und ihn von seinem Leid erlöste.

Mittlerweile funktionierte es aber auch ohne Frau Hüter ganz gut, nur dass Lias weißes Sommerkleid jetzt nicht mehr weiß war, sondern rosa, weil Papa es zusammen mit seinem roten Bademantel gewaschen hatte. Aber Lia störte das nicht weiter und Mama brauchte es ja nicht unbedingt zu wissen. Sie schimpfte schon oft genug mit Papa, da konnte ihm auch der’ Können-diese-Augen-lügen-Unschuldsblick’ nicht mehr viel helfen.

Und Lia schlief auch gar nicht mehr so schlecht, weil sie jetzt abwechselnd bei Papa oder Mike schlafen durfte. Anfangs hatte sie sich im Dunkeln vor Mikes Postern gefürchtet, aber mittlerweile kannte sie die Namen aller Bands und ihrer Mitglieder auswendig. Mike hatte ihr zu allem und jedem Geschichten erzählt. Auch wenn sie schon zu groß war, um an magische Schwerter zu glauben, und seine Musiker sicher Besseres zu tun hatten, als drachenreitend den Himmel zu erstürmen und dieselbigen zu schwingen. Lia wollte trotzdem wissen, wie es weiterging und das Ende jeder Geschichte war zugleich der Anfang einer neuen.

„Was macht die Schule? Habt ihr Mathe inzwischen rausbekommen“ Mamas Hand zitterte ein wenig, als sie den Löffel in das Kompott tauchte. Am Ärmel ihres Nachthemdes war ein winziger rotbrauner Fleck, es war die Seite, wo sie immer die Infusionen bekam. „Hast du denn schon angefangen, deine Leistungskurse auszuwählen? Vinca hat damals schon zu Anfang des Schuljahres alle ihre Kurse fürs nächste Jahr ausgewählt. Dir trau ich’s zu, dass du wieder irgendwelche Fristen versäumst.“

„Ich muss nicht viel auswählen, das ist nicht mehr so wie früher, als Vinca noch in der Schule war.“ Er hatte es Mama schon ein paar Mal erklärt, aber sie schien es immer wieder zu vergessen. Vielleicht dachte sie auch, er sauge sich irgendwas aus den Fingern. Aber über die Zwei in Englisch hatte sie sich doch gefreut, als er sie vorige Woche mitgebracht hatte. Auch wenn er nicht lang hatte bleiben können, da Mama sehr müde gewesen war. Wenn die neue Chemo kam, war sie immer so müde, da konnte man sie nur kurz besuchen und manchmal auch gar nicht.

Eigentlich hatte Mike die Zeit zum Lernen nutzen wollen, und die Wohnung hätte auch wieder gesaugt werden müssen. Aber dann war er doch stundenlang vorm PC abgehangen, um House of the Dead zu zocken. Er hatte das Spiel umgestellt, so dass die Zombies jetzt grünes Blut verspritzten. Grünes Blut passte doch auch viel besser zu Zombies als rotes.

Die ganze Woche lang war er schlecht drauf gewesen und am Donnerstag hatte er sogar Lia zum Weinen gebracht, auch wenn er gar nicht sagen konnte, warum, und es ihm hinterher auch leid getan hatte.

Seltsamerweise hatte Papa ihn nicht geschimpft, überhaupt nicht. Er hatte erwartet, dass Mike sich bei Lia entschuldigte und am Freitag war Vinca gekommen, um mit Lia in den Zoo zu gehen, und Papa hatte die zweite Maus angeschlossen, damit sie beide zusammen an Mike’s PC zocken konnten. Den ganzen Nachmittag lang, bis zum Abend und dann waren die Mädchen wieder da und sie hatten alle zusammen einen Film gesehen.

Nur Mama hatte gefehlt. Aber vielleicht hätte ihr der Film auch gar nicht gefallen, sie mochte schließlich keine Actionfilme. Sie sah lieber Krimis und Reportagen.

„Ich weiß, ich sollte mehr Vertrauen in dich haben.“ Mama aß noch einen zweiten Löffel Kompott, dann hob sie das Schälchen, um es zurückzustellen. Diesmal war Mike aber schneller und er nahm es ihr ab. „Du packst das mit der Schule,“ versicherte sie ihm und ihr rotes Häubchen wippte, als sie energisch mit dem Kopf nickte. „Notfalls fragen wir einfach Frau Hüter, ob sie dir Nachhilfe in Englisch gibt.“

Mike prustete los. Frau Hüter konnte kein einziges Wort Englisch, nicht mal ‚hello’ oder ‚good bye’.

„Also wirklich, Mama, du kannst mich doch nicht so zum Lachen bringen. Was sollen denn die Leute denken, wenn wir hier ständig Radau machen?“ Er bedachte sie mit seinem fröhlichsten ‚Eigentlich-müsste-ich-dich-jetzt-schimpfen-Blick’ und wandte sich dann von ihr ab, um das Schälchen, welches er noch immer in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Rollwagen zu stellen.

Und wischte sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen.

 

Hallo Yamato,
Willkommen hier.

Deine Gechichte gefällt mir ausnehmend gut. Ich weiß nicht, wie lange du schon schreibst, wahrscheinlich länger als ich ;). Denn deine Geschichte wirkt erfahren und gut durchdacht.
Der Anfangsdialog ist so geschrieben, dass ich über den ersten Hinweis der Mutter darauf, dass sie krank ist, oberflächlich hinweggehuschelt bin. Umso beklemmender war es dann, als ich gemerkt habe, dass ich da in einer Onkologie-Abteilung gelandet bin.
Es hat mich berührt, das Bemühen des Jungen um Spaß und Sprüche, damit er seine Mutter ablenken kann.
Und dass es ihn überfordert, das kommt an anderer Stelle auch zum Ausdruck.

Ja - Verbesserungsvorschläge habe ich jetzt keine.
Kritische Anmerkungen auch nicht bis auf den letzten Satz. Der kommt mir so ein bissel gezwungen daher. Klar, du woltest den Anfangsrahmen am Ende wieder aufgreifen und das Leid, die Überforderung des Jungen als Kontrapunkt dagegensetzen. Irgendwie hätte ich gerne ein anderes Bild oder anders formuliert. Vielleicht würde es mir schon reichen, wenn du nicht den Plural von Träne verwenden würdest. Aber das ist vielleicht auch echt nur Nörgelei und andere haben darauf eine völlig andere Sicht.

Hab ich echt gerne gelesen
Bis denn
Novak

 

Hallo Yamato,

ja, traurige Sache. Mir gefällt die Geschichte auch gut. Krebs ist eine Krankheit, die eigentlich jedem auf irgendeine Art bekannt ist, weil sie leider in allen Altersgruppen sehr häufig auftritt. Das hat zur Folge, dass wenn man deine Geschichte liest, sich vor dem inneren Auge sozusagen etliche Alltagsdramen abspielen, was für mich die eigentliche Handlung erzeugt. Die Phantasie wird angeregt und man konsumiert nicht nur passiv. Das gefällt mir.
Womit sich dein Text im Grunde befasst, sind die Möglichkeiten mit einer solchen Situation umzugehen. Darüber lachen und es mit Humor nehmen, oder weinen und verzweifeln? Lachen ist denke ich die bessere Variante in der Zeit, die einem noch gemeinsam bleibt, aber es ist nicht so leicht und es macht die ganze Sache im Grunde auch nicht besser. Ich vermute, dass versuchst du mit letzten Satz auszudrücken.

Gruß

Amaguk

 

Hallo Yamato,
auch von mir ein herzliches Willkommen bei kg.de!

Die Geschichte hat mir gut gefallen. Sie brachte gut die beklemmende Krankenhausatmosphäre herüber. Man fühlt sich doch ziemlich hilflos, wenn man ans Bett von einem nahestehenden Menschen tritt, für den die Prognosen evtl. nicht ganz so gut ausschauen. Ich finde es gut, dass die Situation hier mit Humor gemeistert wurde, obwohl alle Familienmitglieder von der Situation ziemlich überfordert waren.

Gruß
Leia4e

 

Salve Yamato und herzlich willkommen im Forum,

die Stärke des Textes ist, dass er auf alles Mitleidheischende und dramatische Entwicklungen verzichtet. Die Dialoge könnten mit anderem Inhalt auf fast jede Familiensituation abgewandelt werden, die Figurenkonstellation bleibt absolut glaubhaft.
So wirkt der Inhalt - die Krebserkrankung der Mutter, und was sie mit ihren Angehörigen macht - umso stärker.

Einiges Entwicklungspotenzial hat der Text dennoch. Die vielen Rückblenden und berichteten Erinnerungen lassen ihn stellenweise steif und schwerfällig erscheinen, das direkte Erleben, dass den Leser mit den Figuren mitfühlen lässt, kommt darüber zu kurz.
Das ließe sich z.B. auflösen, wenn die Geschichte anstatt aus einer erlebten und vielen berichteten, aus mehreren direkt erzählten Szenen bestünde. Die Hilflosigkeit des Vaters angesichts ungewohnter haushaltlicher Aufgaben, die Überforderung Mikes mit seinen eigenen Gefühlen, die Flucht der großen Schwester ins Lernen oder die Schlaflosigkeit der kleinen ließe sich in eine Szene verpacken, die dem Krankenhausbesuch vor- oder nachgeschaltet ist.
Dadurch käme mE auch viel stärker der Kontrast zum Vorschein, dass Mike gegenüber siener Mutter die Fasade von reibungslos ablaufendem Familienleben aufrecht zu erhalten versucht, die aber in der häuslichen Umgebung, weg vom Krankenhaus, wo er den starken, verantwortungbewussten Mann spielen muss, sofort wieder bröckelt.

Ansonsten: ich weiß ja nicht,wie lange Du schon schreibst, aber man spürt dem Text deutlich ab, dass es kein absolutes Erstlingswerk ist.

LG, Pardus

 

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