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Rotkäppchen im 21. Jahrhundert
»Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kind geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm „komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du zu ihr in die Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in allen Ecken herum.“«
Rotkäppchen musste sich sehr zusammennehmen, um ihrer Mutter nicht mit einem flapsigen „Ja, ja“ zu antworten. Warum nahm ihre Mom nur an, ihre Tochter sei so dämlich, dass sie nicht bis drei zählen könne? In der Bullenhitze der Mittagssonne würde sie höchstens mit ihren Freundinnen am See im Schatten der Bäume liegen, quatschen und das Lunchpaket plündern. Keine zehn Pferde würden sie dazu bringen, zwischen 12 und 17 Uhr einen schweren Korb quer durch den Wald zu schleppen! Die Sache mit dem guten Benehmen hatte Mutter ihr ja schon von Anfang an eingetrichtert. Jetzt war sie 12 Jahre alt, aber niemand wollte ihr abnehmen, dass sie auch ohne mehrfache Ermahnungen und Hinweise jemanden angemessen begrüßen konnte und das auch immer von allein tat. Was sie allerdings nie tat war „sittsam zu gehen“. Da sie sowieso lieber in Hosen rumlaufen würde als in diesen blöden Kleidern, die sie immer anziehen musste, und es satt hatte, beim Wettlauf von der Schule nach Hause immer die letzte zu sein, weil man als Mädchen ja bloß Trippelschritte machen durfte (und ihre Kleider ihr das auch gar nicht anders erlaubten), hatte sie schon immer einen Hass auf diese Art von Belehrungen gehabt. Ach ja, und dieses Käppchen, was ihr ihre Oma geschenkt hatte. Sie hatte sicherlich viel Arbeit damit gehabt, es zu nähen, aber Rotkäppchen fand das Teil inzwischen ziemlich albern. Mal ganz davon ab, dass es ihr schon lange nicht mehr richtig passte. Und überhaupt: Rotkäppchen! Sie hatte einen richtigen Namen! Warum sagte niemand Johanna oder besser „Jo“ zu ihr?
Der Weg war nicht sonderlich weit, nur eine halbe Stunde, aber der Korb war sehr schwer. ,Andere Mütter hätten ihren Kindern einen Rucksack mitgegeben. Darin hätte ich den Kram viel besser tragen können. Ich begreife nicht, warum Mom das nicht einsieht...’ »Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf.«
,Ach du Hilfe! Da lungert ja schon wieder so ein stinkender Bettvorleger rum’, dachte Johanna genervt. Laut sagte sie: „Grüß dich, Wolf. Heute hab ich leider keinen Groschen für dich. Und den Wein kriegste schon mal gar nicht.”
„Hallo Rotkäppchen!” Jeder Taube hätte den lauernden Unterton in der Stimme dieses verlausten Streuners gehört.
,Bangemachen gilt nicht, Alter!’, dachte Johanna trotzig.
„Wo willst du denn hin, meine Kleine?“
„Ich bin nicht deine Kleine, klar! Soll meine Omma besuchen gehen. Is krank. Wohnt am andern Ende des Waldes.“
„Das ist aber wirklich sehr lieb von dir, dass du sie besuchen gehst. Da wird sie sich sicher sehr freuen.“
„Das hoffe ich doch sehr. Musste ihretwegen ’n Treffen mit meiner Clique sausen lassen.“ „Hast du den Kuchen da selbst gebacken?“
„Nee, hat meine Mom gemacht.“
„Willst du deiner Großmutter nicht noch ein paar Blumen mitnehmen? Da drüben, ein Stück in den Wald hinein, wachsen wunderschöne!“
Johanna überlegte einen Moment. Einen Blumenstrauß mitzunehmen war vielleicht gar nicht so dumm. Ihre Oma freute sich immer darüber, und eigentlich war sie ja auch gar nicht so uncool, die alte Dame.
„Da runter, ja?“, vergewisserte sie sich noch, bevor sie durchs Gehölz stapfte. Dabei bemerkte sie weder, dass sich der Wolf eiligst in Richtung des Häuschens ihrer Großmutter aufmachte, noch dass sie sich ihr Kleid am Saum total zerriss.
»Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen, und als es soviel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich sehr, dass die Türe aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte „ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mirs heut zumut, und ich bin sonst so gern bei der Großmutter!“ Es rief „guten Morgen“, bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück; da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gezogen und sah so wunderlich aus.«
„Hallo, mein Kind“, krächzte eine Stimme von unter der Haube, die so gar nicht nach Johannas Oma, sondern vielmehr nach dem Wolf von vorhin klang.
,Oh Shit! Was hat der Typ mit meiner Omma gemacht?’ Irgendwie musste die 12-Jährige den Landstreicher unschädlich machen. Plötzlich kam ihr eine Idee. „Äh, Oma, ich hab noch was draußen vergessen, was ich dir mitgebracht habe. Eine tolle Überraschung. Bin gleich zurück!“ Und schon war sie wieder aus der Tür und kam kurz darauf mit einem dicken, schweren Ast zurück, den sie hinter ihrem Rücken verbarg. Offensichtlich hielt sie der Wolf für genauso dumm wie ihre Mutter, vielleicht war es ja aber auch nur die viel zu große Haube, die ihm die Sicht nahm, jedenfalls argwöhnte er nichts, und ehe er sich’s versah, hatte Johanna ihm die Keule über den Schädel gezogen, und er war k.o.
,Wo ist nur meine Omma geblieben?’ Während Johanna noch grübelte und im Kleiderschrank und der großen Truhe suchte, hörte sie auf einmal dumpfe Geräusche von unter der Bettdecke. Es war ihr ein Rätsel, wie er das geschafft hatte, aber augenscheinlich hatte der Wolf ihre Oma mit Haut und Haar verschluckt, was der das Leben gerettet hatte. Um sie aus dem Bauch des Pelztieres zu befreien, suchte das Mädchen nach einem großen Küchenmesser, als der Revierförster des Wegs kam, die offene Tür sah und sich vergewissern wollte, dass alles in Ordnung war. Mit seiner fachkundigen Hilfe war der Wolf schnell Geschichte und die Großmutter wieder frei. Der Förster erklärte sich auch bereit, den schäbigen Pelz mitzunehmen und gab Rotkäppchen ... äh Johanna noch eine kleine Belohnung für ihre mutige Tat.
Nach einer Weile saßen dann Enkeltochter und Großmutter bei Kuchen und Wein zusammen. „Auf den Schreck kannst du doch bestimmt auch ein Gläschen vertragen, nicht wahr, Kind?“ Die Zeit verging wie im Fluge. Beide hatten sich viel zu erzählen, und im Laufe des Nachmittags wurde nicht nur der Kuchen alle, sondern auch die Weinflasche leer. Johanna fühlte sich an dem Abend, als sie nach Hause ging, seltsam beschwingt, musste sich aber auch eine gehörige Standpauke von ihrer Mutter anhören. Dabei ging es weniger um das ruinierte, teure Kleid, sondern vielmehr darum, dass sie so betrunken war.
(Die Zitate aus dem originären Märchen sind aus Christian Strich (Hrsg.). „Das große Märchenbuch“.1987.Diogenes Verlag, Zürich.)