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Roth
Ein Windstoß bläht die Vorhänge. Ostsonne schneidet ins Zimmer. Rötlich. Kalt. Irgendwo im Halbdunkel – sein Gesicht.
»Hör auf, mich anzustarren«, sage ich.
Roth lächelt, öffnet die Augen. »Du bist schön, wenn du schläfst.«
Ich schlage die Decke zurück, steige benommen aus dem Bett, halte inne. Auf den Dielen wieder tote Nachtfalter. Sie knistern unter meinen Füßen, als ich ins Badezimmer gehe.
Wasser, eiskalt, rinnt über meinen Körper. Ich plane den Tag, versuche, die Teile des Puzzles zusammenzusetzen.
»Heute den hier?« Roth lehnt in der Tür und hält mir den Anzug von Brioni entgegen.
Ich sage nichts.
»Der steht dir gut.« Er bleckt die Zähne, ich sehe ihn an und kann den Blick nicht abwenden.
Ich drücke die E-Taste, die Kabine sackt abwärts. Im dritten Stock gibt es einen Ruck. Ich sehe Roth lächeln, als Jasmin zusteigt. Da, in der Reflexion der Aufzugtüren, das ist sein wahres Gesicht.
»Na«, sagt Jasmin, streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und schaut auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Spät dran, heute.«
Ich nicke. »War eine lange Nacht.«
Sie schürzt die Lippen, sagt dann aber nur: »Schicker Anzug.«
»Ja, hab nachher einen wichtigen Kunden.«
Wir treten aus dem Aufzug, und sie berührt flüchtig meinen Arm. Ich atme den Duft ihres Parfüms ein. Der Concierge eilt herbei. »Ihr Wagen wartet, Frau Erickson.«
»Die Muschi riecht gut«, sagt Roth, als Jasmin in das Taxi steigt.
Ein schiefes Lächeln, eher Ekel als Belustigung – mehr hat mein Vater nicht zu sagen, als er die Axt in meiner Hand sieht. Mit einem Knirschen fährt das Blatt des Spatens in die Erde. Mein Vater streift die Arbeitshandschuhe ab, streckt den Rücken. Ich rieche den Geruch des Waldbodens. Totholz, Farn und Moos dünsten in der feuchten Hitze des Spätsommers. Eine Weile schweigen wir.
»Diese Jagdhütte gehört unserer Familie seit vier Generationen«, sagt er irgendwann. Er steckt sich eine Zigarette an. »War mal das Land der Roten, hat mir dein Großvater erzählt.«
Er schaut mich an. »Blackfoot, Crow – was weiß ich.«
Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu.
»Hatten hier eine Bestattungsstätte, sagte er. Als Kind habe ich mir nachts fast in die Hosen gepisst.«
Ich hebe die Axt. »Ich weiß, dass du sie getötet hast.«
Er schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern. »Klar, dass du mir die Schuld gibst. Du bist jung.«
»Nein«, sage ich. »Du redest dich nicht raus.«
Brendler sinkt in die Polster des Sofas und richtet seine Krawatte. Die Pflanzen des Wintergartens verströmen einen zarten Dunst.
»Ehrlich gesagt, hatte ich nie vor, dieses Bild zu verkaufen«, sagt Brendler.
Wie auf Kommando schauen wir drei hinüber zur Wand.
»Aber Ihr Angebot ist … Sie wissen, dass Sie mir dabei zu viel bezahlen.«
Ich setze das Glas an die Lippen, trinke einen Schluck. Aus den Augenwinkeln sehe ich Roth neben mir, sehe die harten Züge seines Gesichts. Sehe seine schmalen Augen.
»Nun, es ist ein Werk mit einer bewegten Geschichte«, sage ich.
»In der Tat«, erwidert Brendler und in eigenartigem Ton, wie zu sich selbst: »Aber das sieht man ihm nicht an.«
Ich bemerke, dass die Fensterscheiben des Glasanbaus beschlagen.
»Wussten Sie, dass der Vorbesitzer in Majdanek umgekommen ist?«, frage ich.
Brendler schaut mich an. Es ist, als erinnere er sich an etwas weit Zurückliegendes.
»Ich …«, beginnt Brendler, spricht aber nicht weiter. Roth erhebt sich.
Im Westen setzt der Glutball der Sonne die Frankfurter Skyline in Brand. Noch immer flimmert die Luft über der Stadt, aber hier auf der Terrasse ist es kühl. Ich drücke den Knopf unter der Armlehne und justiere die Höhe der Fußstütze. Jasmin neben mir rekelt sich und nippt an ihrem Glas.
Ich betrachte ihr Gesicht im Abendlicht, betrachte ihren Hals, ihr Dekolleté. Ich würde sie gern berühren.
»Und das ist es, was du machst?«, sagt sie. »Leute finden?«
»Bin ziemlich gut darin.«
Roth steht, die Ellenbogen auf das Geländer der Terrasse gestützt, ein paar Schritte entfernt. Sein Blick ist auf einen Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet, aber ich weiß, dass er uns zuhört.
Im Gegenlicht der Nachmittagssonne spielt ein goldener Schimmer auf ihrem Haar. Sie beugt sich zu mir herab. Küsst mich.
»Na, mein Kleiner. Wie lief es in Mathe?«
»Hm«, sage ich, ziehe den Stuhl unter dem Küchentisch hervor.
Ich beobachte sie, während sie den Tisch deckt.
»Wir haben es doch gestern geübt«, sagt sie.
Ich spüre, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt. Ich sage ihr, dass heute mein Kopf wie leer war, dass mich alle angestarrt haben, dass ich dachte, ich müsste ersticken …
»Schon gut, mein Liebling.« Sie legt mir die Hände auf die Wangen. Ich rieche den Duft von Kräutern und Gewürzen. »Das macht nichts.« Sie küsst mein Haar. »Bestimmt klappt es beim nächsten Mal besser.«
Ich öffne das Fenster, schaue hinaus in die Nacht, spüre seinen Atem auf meinem Nacken.
»Ich könnte es beenden«, sage ich und deute in die konturlose Tiefe. »Sofort. Hier und jetzt.«
»Und unsere Vereinbarung?«, sagt er. Ich fahre herum.
»Fick dich«, spucke ich ihm entgegen.
Er zuckt die Schultern. »Du hattest die Wahl.« Und dann noch: »Ich habe dich nie belogen.«
So stehen wir, bis der Morgen dämmert.
»Zehn für einen«, sage ich irgendwann erschöpft. »Ist das gerecht?«
»Sind doch nur noch zwei«, sagt Roth. »Das schaffst du schon.«
Ich klappe den Laptop zu. Roth sitzt mit übergeschlagenem Bein auf dem Sofa und döst, aber ich weiß, dass er mich durch die geschlossenen Augenlider beobachtet.
»Hab ihn«, sage ich. »Wenn wir jetzt losfahren, erwischen wir ihn auf dem Weg zur Arbeit.«
Die Tür ist nur einen Spaltbreit geöffnet, aber auf diesem schmalen Streifen tobt alles Grauen meiner Kindheit.
»Geh ins Bett, John«, sagt meine Mutter und legt ihre Hände beschwichtigend auf die breite Brust meines Vaters. »Du bist betrunken.«
Er schwankt ein wenig vor und zurück, dann schlägt er zu.
Meine Mutter schreit nicht. Wegen mir.
Er packt sie an den Haaren, stößt sie gegen die Wand. Er reißt ihr das Kleid vom Leib, schlägt noch einmal. Sie sinkt zu Boden, röchelnd.
Ich schließe die Tür. Das Pochen meines Herzens übertönt das Poltern im Zimmer nebenan.
Mierlings Schritte hallen durch die Tiefgarage. Ich höre das Fiepen der Zentralverriegelung und dann das Klacken der Türschlösser.
»Peter, einen Moment bitte«, rufe ich und trete ins Licht der Neonleuchten.
Mierling bleibt stehen. Irritiert sieht er zu mir herüber.
»Was wollen Sie? Ich habe es eilig«, sagt er und wendet sich zum Weitergehen.
»Es geht um Ihre Frau.«
Mierling dreht sich wieder um. »Helena? Was ist mit ihr?«
»Nicht Helena«, sage ich. »Ich meine Ihre erste Frau.«
Mierling öffnet den Mund, doch er sagt nichts.
»Ich weiß, dass Sie sie getötet haben, Peter.«
Er starrt mich an, schließt den Mund, schluckt. Er scheint nicht zu bemerken, wie Roth sich ihm nähert. Er blickt mich nur an, fassungslos, blass, verstört. Beinahe tut er mir leid.
Jasmin seufzt, sinkt zurück in die Kissen, atmet schwer. Ich sehe, wie sich ihre Brüste heben und senken, die Haut an ihrem Bauch schimmert feucht.
»Das habe ich gebraucht«, sagt sie und lacht.
Sie steigt aus dem Bett, geht zum Fenster und öffnet die Vorhänge.
»Mein Job killt mich«, sagt sie, steckt sich eine Zigarette an. »Keine Familie, kein Privatleben, kein Sex.«
Ich betrachte ihre Silhouette vor den Lichtern der nächtlichen Stadt.
»Ich geh dann mal«, sage ich, als Roth mir ein Zeichen gibt.
Jasmin zuckt die Schultern. »Kannst ruhig bleiben«, sagt sie.
Ich schüttle den Kopf. »Muss morgen früh raus.«
Die verrostete Klinge des alten Buschmessers kratzt über den Stein. Im schmierigen Wasser des Weihers steigen Blasen an die Oberfläche, ich höre, wie sie an der Luft zerplatzen.
»So wird das nichts, mein Kleiner.«
Ich zucke zusammen, fahre herum. Sein Blick presst meine Brust zusammen und, ohne zu wissen, weshalb ich das sage, stoße ich hervor: »Ich werde nicht schreien.«
Tiefe Stille durchdringt den Wald. Kein Baum knarrt, kein Vogel singt.
Er lächelt, entspannt sich und gibt mich frei. Mit seinen langen, schmalen Fingern deutet er auf das Buschmesser. »Damit verletzt du ihn nur. Wenn du ihn nicht sofort tötest, erledigt er dich.«
»Wer sind Sie?«, frage ich, noch immer schwer atmend.
»Jemand, der dir helfen kann.«
»Und wie?«
Er lacht, und selbst im Dämmerlicht des Waldes sehe ich das Weiß seiner Eckzähne, das Rot seiner Zunge.
Ich erschrecke vom Klang seiner Stimme, als er sagt: »Ich zeige dir, wie du deinen Vater töten kannst.«
»Eine süße Muschi«, sagt Roth, nachdem ich die Tür meiner Wohnung hinter mir geschlossen habe. In meinen Schläfen hämmert es.
»Ich halte das nicht mehr aus«, sage ich, gehe in die Küche, schalte den Wasserkocher an.
»Machst du jetzt Kaffee?«, fragt Roth. »Es ist drei Uhr.«
Ich sehe ihn an, sehe die Muskeln seiner Arme, die Sehnen über Hals und Brust. Die Klauen.
»Ich will das nur noch zu Ende bringen«, sage ich. »Und dann bin ich frei.«
Roth lacht, reicht mir den Laptop. »Dann ans Werk! Ich kümmere mich um den Kaffee.«
Ich atme durch. Meine Finger fliegen über die Tastatur, ich knacke ein paar Backdoors, platziere einen Wurm, lasse Algorithmen nach Informationen schürfen.
Roth stellt mir den dampfenden Kaffee hin, ich nehme einen Schluck, kippe einen weiteren hinterher.
Dann sehe ich es. Ich starre auf den Bildschirm. Die Buchstaben flimmern vor meinen Augen. Roth lehnt in der Küchentür. Ich spüre seine Blicke auf mir.
»Nein«, sage ich wie betäubt. Ich höre die Tür des Eisschranks klappen.
Roth stellt zwei Gläser auf den Tisch, gießt Wodka ein.
»Auf die Freiheit«, sagt er.
Ich klopfe an die Tür, schaue im Gang nach links und rechts.
Jasmin öffnet. »Na, hast du es dir anders überlegt?«
Ich zucke die Schultern.
»Komm rein«, sagt sie und im Umdrehen gleitet der Morgenmantel an ihr herab.
Dann steht sie im Dämmerlicht vor mir, die Vorhänge hinter ihr bewegen sich leicht im Wind.
»Worauf wartest du?«, sagt sie und lacht. »Auf einmal schüchtern?«
»Ich weiß von dem Unfall«, sage ich.
»Hm?«
»Du hast vor drei Jahren ein Kind angefahren. In Prag.«
Sie wendet sich ab, starrt aus dem Fenster.
»Du bist einfach abgehauen. Hast die Kleine liegen lassen.«
Eine Weile spricht niemand ein Wort.
»Woher weißt du davon?«, sagt Jasmin schließlich. Sie klingt erschüttert.
»Bin gut in Mathe«, sage ich leise und zusammenhangslos. Dann lauter: »Ich verstehe was von Hacking. Ich finde Informationen.«
Roth tritt neben Jasmin, lässt die schmalen Hände über ihren nackten Rücken gleiten, leckt sich die Lippen.
»Werde dich vermissen«, sagt er zu mir.