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Roter Schnee
Prolog
„Dann bis morgen!“, ruft Insa noch und winkt. Ich bin so glücklich. Was für Angst ich vor diesem Tag hatte! Es erscheint mir lächerlich. Früher, im alten Schuljahr, auf meiner alten Schule, hatte ich nur oberflächliche Freundschaften. Nur mit Mailin war es anders, sie war eine echte Freundin – bis zu ihrem Unfall, bei dem sie ein Bein und ihr Gedächtnis verloren hat. Kein Arzt konnte sich das erklären, aber Mailin war von da an eine Andere. Natürlich, das war zu erwarten bei einer Amnesie, aber ich konnte nichts mehr mit ihr anfangen. Und die anderen in meiner Klasse haben nur angefangen, mich zu verspotten und mir gesagt, ich solle mich doch um meine Krüppel-Freundin kümmern. Ja, besonders beliebt waren Mailin und ich nie.
Aber das ist jetzt vorbei. Ein Neuanfang, neue Stadt, neue Leute, neue Chancen. Ich lächle vor mich hin. Insa ist wirklich nett, und ihre Freunde auch. Es wäre perfekt, müsste ich nicht nur immer wieder an Mailin zurückdenken …
Schwachkopf
Ich zucke zusammen und fahre fast einen Rentner mit Rollator um. Was war das denn? Ich weiß es nicht, es fühlte sich an als hätte mir jemand anders einen Gedanken geschickt. Aber das konnte ja nicht sein.
Vier Monate später
Wir waren sieben, acht, vielleicht auch mehr, als wir durch die Straßen zogen, leere und halbvolle Bierflaschen mitschleppend. Kichernd hakte Insa sich bei mir ein.
„Guck mal, Tascha! Ein lahmer Krüppel!“ Sie klammerte sich an meinen Arm, um nicht vor lauter Alkohol und Kicheranfall zu stolpern. Ich schaute mich um.
„He, du da!“, brüllte ich und lachte, als jemand dem Rollstuhlfahrer eine Bierflasche vor die Räder warf. Wir waren wirklich schon sehr angetrunken. Grölend, lachend, johlend zogen wir weiter, ohne bestimmtes Ziel.
Nach einiger Zeit trennten wir uns. Allein fühlte ich mich schutzlos und lief schnell und möglichst gerade nach Hause. Niemand war da, gut so. Ich stürzte ins Bad und kotzte das Klo voll, dann legte ich mich auf meine Couch.
Schwachkopf, raunte mir jemand ins Ohr. Blitzschnell drehte ich den Kopf. Da war niemand - bis auf mich und die Fische, die im Aquarium friedlich vor sich hinblubberten, war der Raum leer.
Krüppel … Die Stimme war weich, hatte aber einen leicht rauen Unterton, als wäre sie erkältet. Hättest du das auch zu ihr gesagt?
Ich wollte die Stimme nicht hören. Sie störte meine schöne, heile Welt. Mit leerem Kopf daliegen und ausruhen, das wäre jetzt das Richtige für mich gewesen. Ich zog mir ein Kissen über den Kopf und murmelte: „Geh weg!“ Lachen. Sie ließ sich durch das Kissen nicht vertreiben, hätte ich mir eigentlich denken müssen.
Vielleicht solltest du mal wieder dein Gehirn benutzen – vier Monate Pause, das ist ganz schön lang. Aber du kannst natürlich auch weiterhin besoffen herumlaufen und deine Freundin Mailin als Krüppel bezeichnen. Angenehmen Abend wünsche ich.
„Ich habe Mailin nicht …“, knurrte ich in die Matratze, aber ich wusste, wäre Mailin dort gewesen, ich hätte nicht anders gehandelt. Da konnte ich mir nichts vormachen.
Und trotzdem, wen interessierte das? Mailin war Vergangenheit, jetzt ging es um meine neuen Freunde, die alle viel cooler waren als sie. Unwillig schüttelte ich den Kopf, aber die Gedanken an meine ehemalige Freundin und die Worte die ich eben gehört hatte blieben an mir kleben wie Fliegen an einem Hundehaufen.
Ich fühlte mich nicht gut, immer wenn ich einen braunhaarigen Menschen sah, kamen Schuldgefühle in mir hoch – Mailin hatte schokobraune Haare gehabt. Hoffentlich hörte das bald wieder auf, mir war nie klar gewesen, wie viele Leute braunes Haar hatten.
Ich kam zu spät zur Schule, inzwischen nicht Neues mehr. Die Mathestunde ging komplett an mir vorüber, ich hätte nicht ansatzweise sagen können, worum es ging. Ich starrte nur, ohne es zu merken, unsere Lehrerin an. Braune Haare. Und sie hatte die gleichen Lachfältchen wie Mailin. Warum war mir das noch nie aufgefallen?
Insa hat eigentlich auch braune Haare. Die schon wieder. Mein Blick glitt unwillkürlich zu Insa, während ich die Stimme verfluchte. Sie musste in meinem Kopf sein, denn niemand anders reagierte irgendwie. Nicht gerade beruhigend.
Insa hatte blondiertes Haar, klar, das wusste ich auch ohne hinzuschauen, aber mich interessierte ihr Ansatz. Tatsächlich – er schimmerte braunblond.
Mehr blond als braun!, dachte ich trotzig.
Das spielt keine Rolle.
Ach, hau doch einfach ab!
Ich will dir doch nur helfen, du Dummkopf.
Danke für das großzügige Angebot, aber ich komme allein ganz gut zurecht! Und nenn mich nicht Dummkopf.
Das sehe ich anders, aber wenn du meinst …
Ja, ich meine!
Die Stimme lachte leise. In den Sekunden danach wurde mir klar, dass sie weg war. Aber wer oder was war sie?
Am Nachmittag stellte ich mich krank und lag laut Musik hörend auf dem Sofa. Neben dem Sofa stand das Aquarium. Die Sauerstoffanlage war durch die Musik nicht zu hören. Ein Fisch glotzte mich mit großen Augen dümmlich an. Ich schloss meine. Der Bass wummerte gnadenlos in mein Ohr und machte mich frei.
Da bin ich wieder. So viel zum Thema frei.
Hau ab, dachte ich und versuchte dabei so gelangweilt wie möglich zu „klingen“.
Hier drüben, am Fenster. Mein Blick glitt betont langsam zur gegenüberliegenden Wand, auch wenn es mir schwer fiel. Auf dem Fensterbrett saß Mailin, ihr Bein hing locker in mein Zimmer. Das Fenster schwang im Wind leicht hin und her. Ich sprang auf.
„Ich will nichts mit dir zu tun haben!“, schrie ich schrill.
„Angst mich zu sehen? Angst, zu sehen, was du angerichtet hast?“ Mailin lächelte und ihre Lachfältchen gruben sich in die Wangen. Ich stutzte.
„Was meinst du damit?“
„Jetzt tu doch nicht so! Du hast mir alles genommen, was ich hatte, Natascha Grasberg.“ Ihre Stimme war ruhig, eine Mischung aus Wut, Melancholie und Mitleid war darin schwach zu erkennen. Das machte mich rasend. Es gab nur noch Mailin in ihrem roten Kleid, das wir noch vor einem halben Jahr zusammen gekauft hatten. Mailin, mit ihren Lachfältchen, den tiefen grauen Augen und den wunderschönen, schokobraunen Haaren, in denen der Wind spielte. Sie gehörte hier nicht hin.
„Mach mir doch nichts vor …“ Ihre Stimme war wie ein Windhauch, der meine Beherrschung kippen ließ. Ich stürmte auf Mailin zu und stieß sie mit voller Wucht aus dem Fenster.
„Lass mich einfach in Ruhe!“, kreischte ich ihr hinterher, noch während sie fiel.
Jetzt hast du mir wirklich alles genommen … mein ganzes Leben. Tascha, du bist eine Mörderin … eine Mörderin …
Ich lag wieder auf dem Sofa, wie auch immer ich dort hingekommen war. Es herrschte eine vollkommene Stille. Die Uhr tickte nicht mehr, die Musik war schon lange aus und auch mein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Mein Mund war staubtrocken, als ich aufwachte. Ich griff neben mich, doch die Flasche Wasser war leer. Fluchend stand ich auf und stolperte in die Küche. Hatte ich nur geträumt?
In der Küche stand meine Mutter.
„Ah. Tascha, du bist wieder wach! Ich wollte dich nicht wecken. Hast du Hunger?“ Ich schüttelte schnell den Kopf, griff nach einer Wasserflasche und krächzte: „Bin noch krank, muss mich ausruhen.“ Mama nickte verständnisvoll.
„Wenn du etwas brauchst, melde dich.“
Fast hätte ich es nicht mehr bis zum Sofa geschafft, sondern wäre auf dem Boden zusammengebrochen. Aber nur fast. Mit zitternden Fingern drehte ich den Verschluss der Flasche auf und trank gierig, wobei ich einen Teil wegen meiner zitternden Hände verschüttete. Ich ließ mich auf den Rücken sinken und dämmerte ein.
An diesem frostigen Morgen im März gehe ich wie immer zur Schule. Mein Atem dampft in der Luft, die Finger frieren trotz Handschuhen. Eine Ecke noch, dann ist das Gebäude zu sehen. Ich freue mich schon auf die erstaunten und freudigen Gesichter, die Mailin und Jannik machen werden, wenn sie sehen, dass ich heute doch nicht krank im Bett liegen muss.
Man erkennt unser Klassenzimmer schon von weitem, wir haben in einer einmaligen Aktion die Tür und die Wände grün gestrichen. Sie steht halb offen. Ein paar Schritte noch … drinnen herrscht wie immer mittelmäßiges Chaos, doch das ist jetzt nicht weiter interessant. Ich achte nur auf die Ecke, in der ich normalerweise zwischen Jannik und Mailin sitze. Meinem Freund und meiner besten Freundin.
Ich sehe sie. Mailin ist einen Platz aufgerückt, neben Jannik. Klar, die Beiden verstehen sich bestens. Aber so bestens, dass sie sich küssen müssen, hätte ich dann doch nicht gedacht …
So verliebt geguckt hat Jannik schon lange nicht mehr, so ein herzhaftes Lachen war von mir nicht mehr auf Mailins Gesicht zu zaubern. Mein Atem wird schneller und ich werde rot, dann wieder bleich. In mir brennt ein Feuer, das meine Hände um Mailins Hals sehen und sie erwürgen will. Ich habe schon einen halben Schritt nach drinnen gemacht, da stoppe ich und renne weg. Zuhause angekommen tue ich so, als wäre ich immer noch krank.
Es ist Mailins Schuld. Es ist alles Mailins Schuld. Sie, die so viel hübschere, hat sich meinen Jannik geschnappt. Tränen fließen kalt über meine Wangen. Meinen ganzen Hass und meine ganze Wut projiziere ich auf Mailin …
Als ich aufwachte, war es draußen schon dunkel. Ich aber war hellwach. Mein Traum … er kam mir so real vor. Natürlich, den Morgen hatte es wirklich gegeben. Ich erinnerte mich noch genau daran, dass ich erst nicht zur Schule gehen wollte und es dann doch getan habe. Mailin hatte sich gefreut, Jannik nicht – es war ihm egal. Ich war nämlich nie mit ihm zusammen, auch nicht in ihn verliebt. Genau so wenig wie Mailin.
Ächzend drehte ich mich auf den Bauch und schaute kurz zur Uhr hinüber. Es war schon nach elf.
Hallo, Mörderin. Ich versuchte, die Stimme zu ignorieren.
Versuch’s gar nicht erst, spottete die Stimme. Sie konnte wohl meine Gedanken lesen.
„Beantwortest du mir eine Frage?“, flüsterte ich leise, damit meine Mutter nicht aufwachte.
Mit Vergnügen.
„War …“ Ich schluckte und nahm meinem Mut zusammen. „War dieser … Traum echt?“
Oh, nun, er ist genau so in Wirklichkeit geschehen, wenn du das wissen willst.
„Aber ich war doch nie mit Jannik …“
Du hast ein bemerkenswert schlechtes Gedächtnis, antwortete die Stimme trocken und ließ mich wieder allein mit meinen Gedanken.
Hatte sie recht? Aber ich hatte doch ein gutes Gedächtnis und war ganz sicher nicht mit Jannik zusammengewesen! Die Stimme log bestimmt.
Den nächsten Tag, einen Freitag, verschlief ich fast vollständig. Am Samstag frühstückten Mama und ich wie immer Brötchen. Meine Mutter las Zeitung und auch ich warf einen Blick auf die knittrigen Blätter, die manche Erwachsene so akribisch genau studierten. Ich schaute auf die Uhr, die hinter meiner Mutter an der Wand hing.
„Ich glaub, du musst, wenn du deinen Zug noch bekommen willst.“ Überrascht sah sie auf und meinte dann: „Oh, du hast recht, ich sollte mich beeilen. Du kannst dir heute Abend eine Pizza bestellen, wenn du willst. Mach keinen Unfug und geh bitte nicht allzu spät ins Bett. Ach ja, wenn irgendetwas ist …“
„… hängen die Notrufnummern an der Pinnwand, soll ich bei den Nachbarn klingeln oder dich anrufen, ich hab’s kapiert.“ Ich verdrehte gelassen die Augen. „Du bist ungefähr zwei Tage weg, jetzt mach keinen so Wirbel.“
„Du hast ja recht, Schatz. Mach’s gut.“ Sie drückte mir schnell einen Kuss auf die Stirn und hastete dann mit offenem Mantel aus dem Haus. Es war gespenstisch leise, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Unschlüssig sah ich mich um und griff schließlich nach der Zeitung. Das Papier raschelte, während ich die Schlagzeilen überflog und hier und da hängen blieb.
Das Telefon klingelte. Ich griff danach und warf einen beiläufigen Blick auf das Display. Meine Finger erstarrten: es war Insas Nummer. Ich zog meine Hand zurück und versuchte, das Klingeln zu ignorieren, auch wenn mir dabei nicht ganz wohl war. Sie rief mich auch noch auf dem Handy an und hätte das sicher mehrfach getan – ich habe es aber sofort ausgeschaltet.
Der Tag ging nur langsam vorbei. Ich surfte, zappte durch alle Kanäle, griff wieder zur Zeitung, starrte die Uhr an. Erst zwei. Fast wünschte ich mir, die Stimme wäre wieder da, nur um die Stille zu durchbrechen. Ich beschloss, ein kleines Nickerchen zu machen, war ich doch seltsam erschöpft vom Nichtstun. Aber kaum lag ich im Bett, war die Müdigkeit weg und so begnügte ich mich damit, in das trübe Aquariumswasser zu starren. Ich sollte es mal erneuern, der Filter schien defekt zu sein.
Der Himmel ist so schwer und grau wie das Wasser, doch immerhin regnet es nicht. Meine Lippe ist rot, von der Kälte und meinen Zähnen, die auf ihr herumbeißen. Weißer Dampf strömt aus meinen Nasenlöchern. Die Flügel blähen sich.
Da hinten will ich mich mit ihr treffen, an der Straßenecke. Will ich? Es war meine Idee, aber ich bin nicht sicher, ob ich wirklich will – ich weiß nicht, ob ich ihren Anblick ertrage. Da kommt sie. Könnte ich mich doch nur auf sie stürzen, sie würgen, bis der letzte Funke Leben aus ihr entweicht.
„Was gibt’s?“, fragt sie mich gelassen. Meine Hände zittern.
„Du Schwein!“, zische ich. „Du miese Betrügerin, du …“ Kein Wort der Welt genügt für das, was sie mir angetan hat. Mailin bleibt stehen. Sie schaut mich an, nur einen klitzekleinen Moment, doch der reicht. Ich sehe ihr an, dass sie ganz genau weiß, was ich meine.
„Tascha, ich weiß, das ist ganz, ganz schwer für dich …“ Sie klingt wie eine Psychologin, die mich mit ihrer sanften Stimme einlullen will. Ganz sanft. Ich will keine Psychologin, ich brauch keine! Mit einem Mal sind alle Gefühle verschwunden, übrig bleibt nur frostig-kalter Verstand und der Gedanke, mich zu rächen.
Meine Hand schiebt Mailin unauffällig, aber mit Druck nach hinten. Meine ehemalige Freundin gerät aus dem Gleichgewicht. Ein kleiner Schritt nach hinten, es scheint, als fängt sie sich noch ab. Hätte sie auch geschafft, wäre nicht unter ihrer Hacke der Bordstein schon vorbei gewesen. Doch so fällt sie wie im Film mit einem Schrei und ausgebreiteten Armen direkt vor das eisweiße Auto.
Mit aufgerissenen Augen und verkrampften Muskeln starrte ich geradeaus. Erst nach und nach erkannte ich meine Umgebung. Vor mir begann sich alles zu drehen und ich schloss einen Moment lang die Augen und wisperte: „Nein! Nicht Mailin, Mailin!“ Sofort sah ich sie wieder, ihre angstgeweiteten Augen, die mich entsetzt anstarrten. Das hätte sie nie gedacht von mir. Ich auch nicht.
Wie betäubt stolperte ich in die Küche und zum Kühlschrank. Da hinten war nur eine Flasche mit Wein. Ich schüttete ihn mir in den Mund. So einiges ging daneben und wurde dankbar von meinen Kleidern aufgesogen. Ich muss irgendetwas tun, dachte ich benebelt vom Alkohol. Und so griff ich zum x-ten Mal an diesem Tag zur Zeitung.
77-Jähriger immer noch vermisst, Parlament beschließt Gesetzesänderung, Mädchen im Rollstuhl überfahren. Ich hielt inne. Es war eine relativ kleine Meldung.
„Ein tragisches Schicksal hat eine 15-jährige Rollstuhlfahrerin ereilt, die am Donnerstag-abend unter die Räder eines LKWs geriet und noch am Unfallort ihren Verletzungen erlag. Bereits vor einem Jahr hatte Mailin K. …“
Mailin? Aber sie konnte doch nicht … Mein Herz zog sich zusammen. Ich selbst hatte sie doch umgebracht, sie aus dem Fenster gestoßen.
Ich schnappte nach Luft, doch um mich herum schien keine mehr zu sein. Trocken schluchzte ich und alles in mir drängte danach, mich in Mailins Arme zu legen, ihre Hand zu spüren, die mir den Rücken streichelt, und ihre sanfte Stimme am Ohr zu hören. „Ist ja schon gut … wir kriegen das hin … keine Sorge.“
Ein Jahr lang hatte ich mich nicht getraut. Ein ganzes Jahr, das ich hauptsächlich allein verbracht hatte. Nur zwischendurch hatte ich die eine oder andere Beziehung mit dem einen oder anderen Jungen gehabt, doch sie verloren alle schnell ihr Interesse an mir, wie es auch Insa und meine anderen ehemaligen Freunde getan hatten.
Ich stieg aus dem Zug und blickte zum Himmel. Es begann schon zu dämmern. Ich lief schnell los, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Dieser 30. November war wirklich ein ausgesprochen kalter, es hatte sogar schon geschneit. Weit und breit waren keine anderen Besucher zu sehen. Sollte mir nur recht sein. Ich las die Inschriften auf den Gräbern. Nach einer Stunde hatte ich es gefunden.
Sanft ruhte die Schneedecke auf den Pflanzen, die die Grabstelle überwucherten. Mit steifen Fingern zog ich ein Teelicht aus der Tasche und zündete es an. Eine Träne lief über meine Wange und wärmte sie, bevor sie hinuntertropfte und ein winziges Loch im Schnee hinterließ. Ich stellte das Teelicht ab und setzte mich in das kalte Weiß, um bei Mailin zu sein und über sie zu wachen.
Epilog
Eine friedliche Stille lag auf dem Friedhof, nur durchbrochen von dem Gezwitscher der Vögel und Schritten auf dem Kiesweg. Ein Mann mit einer großen Gießkanne, einem Blatt Papier und einigen Rosen lief den Weg entlang und blieb bei einigen Gräbern stehen, um sie zu gießen. Die Rosen hatte der Mann privat mitgebracht und er steckte sie mal an dieses, mal an jenes Grab.
Ernst von Fransen. Der Mann konnte sich ein belustigtes Lächeln nicht verkneifen und klemmte eine weiße Rose unter den Grabstein. Es kam nicht oft vor, dass er ein neues Grab mit erheiternder Inschrift fand. Er lief weiter.
Mailin Konuki. Er goss die Pflanzen, denn dieses Grab stand auch auf der Liste der Friedhofsgärtnerei, und er sah, dass die Arme jung gestorben war, mit noch nicht mal 16. Überrascht stellte er fest, dass das Mädchen im Grab daneben am selben Tag gestorben war, nur ein Jahr später. Der Mann legte auf jedes der beiden Gräber eine tiefrote Rose und ging weiter.