Roter Apfel
Ich war gerade in der Küche damit befasst, die zerlesenen Zeitungen der letzten Wochen zu ei*nem Bündel zusammenzuschnüren, als ich die Klingel schellen hörte. Augenblicklich unterbrach ich meine Tätigkeit und begab mich hinauf in das Kaminzimmer, wo ich meinen Herrn zurecht vermutete.
Er saß wie so oft auf dem alten Sessel vor dem fla*ckernden Feuer und wandte mir den Rücken zu. Es war beinahe dunkel in dem Raum, denn die Nacht war bereits angebrochen und außer dem flackernde Schein der Flammen gab es keine weiteren Lichtquellen.
Der Herr konnte mein Kommen kaum überhört ha*ben, denn die Flurtür war schon eine Weile verzogen und öffnete sich nur unter Preisgabe eines laut vernehmlichen Knarrens. Doch zeigte er bei meinem Eintreten nicht den Ansatz einer Regung. Ich zögerte, den Raum zu betreten ohne hereingebeten worden zu sein und blieb zunächst im Türrahmen stehen.
"Ihr habt geläutet, Herr", sprach ich ihn aller professionellen Unterwürfigkeit an und wartete auf eine Antwort.
Und tatsächlich vernahm ich nach einem langen Augenblick des Schweigens seine Stimme oder vermeinte sie wenigstens zu hören. Ganz leise, leiser noch als das Prasseln des in der Hitze berstenden Reisigs, drangen Worte durch den Raum herüber zu mir.
"Viktor", hauchte es durch das Prasseln des Feuers zur mir herüber, "ich sterbe."
Ich erschauderte, denn in den brüchigen Worten lag eine derartiges Leiden, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass sie im tiefstem Ernst gesprochen worden waren.
Wie um den Herrn und wohl auch mich selbst zu beruhigen, ging ich nun ein paar Schritte in den Raum hinein und entzündete die mir am nächsten hängende Gaslampe. Doch das matte Licht, das sie in den Raum hinein verströmte, brachte mir keine Erleichterung. Vielmehr eröffne*te es mir einen ganz schauderhaften Anblick. Das Haar des Herrn war schneeweiß und ganz schütter ge*worden. Es hingen nur noch einige dünne Fäden fein wie Spinnweben von seinem Haupt herunter. Überall auf der Kopfhaut hatten sich Altersflecken und andere Hautveränderungen ausgebreitet. Doch war dies nur das Vorspiel zu einem noch viel entsetzlicheren Anblick, der sich mir bot, als ich mich dem Sessel von der Seite zu näheren begann.
Der erschlaffte und beinahe leblose Körper, der dort mehr hing als saß, raffte sich bei meinem Herankommen auf zu einer schwer*fälligen Bewegung und der Herr drehte seinen Kopf in meine Richtung. Und was mich dort anstarrte, war die Fratze des Todes. Sein Gesicht war eingefallen und sein Ausdruck leer. Die Gesichtshaut, die so dünn zu sein schien, als sei sie durchsichtig, spannte sich wie fleckiges Pergament um einen dahinter hervor schimmernden Totenschädel.
Mich schauderte und doch war mein dienendes Herz mehr er*griffen von der Not, in der ich meinen Herrn sah, als von dem entsetzlichen Anblick, der einen weniger gefassten Menschen als mich wohl um den Verstand gebracht hätte.
"Hilf mir", krächzte der Sterbende und sah mir mit weit aufgerissenen Augen angstvoll ins Gesicht. Dann verstummte die Stimme und seiner Kopf sank zu Boden. Nur ein kaum wahrnehmbares Keuchen verriet mir noch, dass der Tod ihn noch nicht ergriffen hatte.
Es war wohl die tiefe Sorge um das Leben meines Herrn, die mich dazu brachte, mich vom Anblick des entsetzlichen Elends loszureißen und mich zu besinnen. Ich wusste, dass ich nun schnell handeln musste.
"Herr, ich eile", versprach ich und machte mich schon in aller Hast auf den Weg zur Tür hinaus.
Da hörte ich erneut das Krächzen, das eine Stimme kaum mehr zu nennen war.
"Nimm dir einen der Äpfel. Sie sind gut."
Ich blickte zurück und sah eine Schale mit roten Äpfeln, frisch und prall, die ich heute morgen auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel drapiert hatte. Ich ging hin, wählte den prächtigsten unter ihnen aus und steckte ihn in die Tasche meines Rockes.
Dann verließ ich das Haus und begab mich auf die Straße. Mein Weg führte mich geradewegs in das Viertel der armen Leute, wo meine Suche mir den schnellsten Erfolg versprach.
Es dauerte nicht lange, bis ich unter all den Lumpen und Wegelageren, die hier im Straßendreck hockten und jeden Fremden bald flehentlich, bald bedrohlich um eine milde Gabe baten, einen Knaben erspäht hatte, den ich anzusprechen gedachte. Er war noch jung, keine zehn Jahre vielleicht, und das Haar unter der Kruste aus Schmutz und Filz mochte einmal blond gewesen sein. Seine zarte Jugend war nur noch in den strahlenden, blauen Augen zu entdecken, die ganz im Gegensatz standen zu dem Anblick der allgemeinen Erschöpfung, die seiner elenden Existenz geschuldet war.
Ich zog meinen Apfel aus der Tasche hervor und hielt ihn dem Jungen vor das Gesicht.
"Willst einen Apfel, mein Junge?"
Der Knabe blickte zu mir hinauf und ohne ein Wort zu sagen griff er nach der frischen Frucht. Hastig biss er hinein. Er kaute kaum und schluckte die Stücke schnell herunter. Wahrscheinlich hatte er seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen.
Zufrieden blickte ich zu ihm hinunter.
"Du willst doch sicher noch mehr davon?"
Er nickte.
"Dann komm mit mir. Ich habe einen Herrn, der will dich sehen. Er hat einen Auftrag für dich. Folgst du gehorsam seinen Worten, dann bekommst du so viele Äpfel wie du dir in die Hosenta*schen stecken kannst und vielleicht auch ein paar Münzen, wenn du dich als besonders fleißig er*wiesen haben solltest."
Wie von mir erwartet willigte der Junge ein. Er war es sicher gewohnt, kleine Dienste zu verrichten, Botengänge hier und da oder auch andere Dinge und folgte mir ohne großes Zaudern.
So war am Ende keine halbe Stunden vergangen, als ich wieder vor der Tür zum Kaminzimmer standen. Diesmal mit dem Jungen an meiner Seite.
"Geh hinein, mein Herr wartet dort auf dich. Er wird dir sagen, was zu tun ist", instruierte ich den Knaben. Ich begab ich unterdessen wieder in die Küche und wid*mete mich meiner restlichen Arbeit.
Dies tat ich eine gute Stunde lang, dann ging ich abermals hinauf, um nach meinem Herrn zu sehen und wie die Dinge standen.
Als ich den Raum betrat, sah ich ihn vor dem Kamin stehen. In der einen Hand hielt er ein Stück Papier, einen Brief vielleicht, das er angeregt studierte, in der anderen ein Glas Cognac. Als er mich eintreten hörte, blickte er sich sogleich zu mir um und sah mich an.
Und welche eine Veränderung konnte ich feststellen!
Wo eben noch der Tod von seinem Antlitz Besitz ergriffen hatte, blickte ich nun in das strahlende Gesicht eines Mannes, den man wohl auf keine vierzig Jahre schätzen würde. Wie klar und stolz war sein Blick, fest und aristokratisch! Und sein Haar, es war dunkel wie Ebenholz und voll wie bei einem Knaben. Die Haut war fest und stramm und schimmerte in einem freundlichen Rosaton, ja fast vermeinte ich im Schein des Feuers leicht rote Bäckchen erkennen zu können. Welch herrlicher Anblick des prallen Lebens! Welch Freude und Erleichterung!
"Es ist alles gut, Viktor, mein treuer Diener. Du kannst dich nun beruhigt zu Bett begeben", sprach er zu mir mit seiner gewohnten Stimme, aus der die ganze edle Tiefe der Täler seiner karpartischen Heimat sprach und vertiefte sich wieder in seine Dokumente.
Ich freute mich, ohne dabei meiner Freude einen sichtbaren äußerlichen Ausdruck zu geben, ihn bei so außerordentlicher Gesundheit zu sehen und als ich mich umdrehte, um beruhigt in mein Schlaf*gemach zu gehen, da spürte ich in mir den Stolz, dass der Herr sich auf seinen treuen Diener ver*lassen konnte und den Stolz ein Würdiger vor meinen Ahnen zu sein, die diesen Dienst in den Jahrhunderten vor mir so treu getan hatten.