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Rote Tinte
Die Ketten brechen
Als die Schüsse fallen, fließt rote Tinte.
Wahllos feuern die Regimesoldaten mit ihren Gewehren in die Menschenmenge, die über die Straße auf das Waffenlager zustürmt. Das Donnern und die Schreie hallen kilometerweit durch die sternenlose Nacht. Zuerst sterben die Menschen in den vordersten Reihen. Sie lassen ihre behelfsmäßigen Waffen und die Bücher mit den roten Einbänden, die sie eben noch fest umklammert haben, fallen, stürzen in den Schnee und werden von den nächsten Reihen überrannt. Die Männer, die Frauen, die Jugendlichen – sie alle sind Gefangene, die an ihren Ketten reißen, vereint durch die Bücher, die ihnen den Weg in die Freiheit gezeigt haben. Mit Tinte in den Herzen ziehen sie in den Kampf gegen die Soldaten in Weiß. Kugeln zerfetzen Gesichter, Schläger zertrümmern Knochen, Molotov-Cocktails schmelzen Fleisch und Steine zerschlagen Augen. Ihre Lichter erlöschen im Sekundentakt des Liedes der Natur.
Die rote Tinte fließt, bis das Waffenlager der Soldaten geplündert ist und die Ketten der Gefangenen knirschen; bis der Präsidentenpalast eingenommen ist und die Ketten beben; bis das Regime fällt und die Ketten brechen. Sie brechen, wie sie schon oft gebrochen sind und immer wieder brechen werden, denn jedes Mal werden neue angelegt. Es ist ein Kreislauf, der sich wie die Umlaufbahnen der Planeten auf ewig wiederholt.
Bis der Takt zu Ende ist und das Lied verstummt.
Alice und Teddy
Wenige Minuten bevor die Schüsse fallen geht Alice, ihren Teddybären an sich drückend, hinaus auf den Balkon.
Schwarz! Da ist nichts als Schwarz vor ihr! Aber sie hat keine Angst; sie ist schon oft nachts mit Papa auf dem Balkon gewesen. Sie streckt ihre freie Hand aus, und der Wind schüttelt sie, bläst ihr Schneeflocken ins Gesicht und wirbelt ihre Locken durcheinander. Zitternd bleibt sie vor dem Geländer stehen und stellt sich auf die Zehenspitzen, um nach unten auf die Straße sehen zu können. Gerade richten die bösen Männer ihre Gewehre auf die Menschen, die schreien und Feuer machen und Bücher über ihre Köpfe halten.
Teddy sagt ihr, sie solle lieber wieder ins Bett gehen. Sie küsst sein flauschiges Ohr und verspricht ihm, dass alles gut werde. Genau das würde Papa sagen, wenn er da wäre! Aber Papa ist seit gestern fort. Er hat sie gezwungen, sich unter ihrem Bett zu verstecken. Dann haben ihn die bösen Männer mitgenommen.
Alice hebt ihren Kopf zum Nachthimmel und denkt an den Tag, an dem Papa ihr zum ersten Mal die Sterne durch das Teleskop gezeigt hat. Er hat ihr beigebracht, dass die Sonne auch ein Stern ist, und dass die Erde genau im richtigen Abstand um sie kreist – ein bisschen weiter, und sie wäre ein großer Schneeball; ein bisschen näher, und sie würde schwitzen wie Eis in der Sonne. Und dann hat Papa ihr gesagt, dass die Sterne funkeln, weil sie den Menschen zuzwinkern würden. Sie hat ihn fasziniert angestarrt und ihn gefragt, woher er das wissen wolle. Es könne ja auch sein, dass die Sterne nur blinzeln, weil sie etwas in den Augen haben würden! Da hat Papa gelacht und gemeint, er wisse genau, dass die Sterne ihnen zuzwinkern würden, weil sie froh seien, dass es sie gebe.
Warum zwinkern die Sterne heute nicht? Teddy gibt ihr keine Antwort.
Auf einmal hört sie ein Klopfen hinter ihrem Rücken. Sie wirbelt herum und blickt durch die Balkontüre und das spärlich beleuchtete Wohnzimmer auf die Eingangstüre. Draußen auf dem Flur sagt jemand etwas, aber sie versteht kein Wort. Ihr Herz klopft so fest, dass es ihr wehtut. Was jetzt?
Plötzlich tritt jemand gegen die Türe. Schnell verstecken, ruft Teddy, aber als sie loslaufen will, merkt sie, dass der Wind ihre Beine eingefroren hat. Der zweite Tritt gegen die Türe ist so stark, dass sie aufbricht und nach innen kippt. Ein Fremder betritt die Wohnung. Er trägt eine weiße Rüstung und einen geschlossenen Helm und hält eine Pistole in der linken Hand. Er ist einer von den bösen Männern! Sie muss sich sofort verstecken! Warum müssen ihre blöden Beine jetzt eingefroren sein? Sie klammert sich an Teddy, so fest sie kann.
Der Soldat geht durch das Wohnzimmer an dem Regal vorbei direkt auf zu. Die Glasscherben, die auf dem Teppich verteilt sind, knirschen unter seinen Stiefeln. Er tritt auf den Balkon, schaltet das Licht ein und bleibt vor Alice stehen. Im Visier seines Helmes sieht sie ihr eigenes Spiegelbild. Er fragt sie nach ihrem Namen, wobei seine Stimme durch den Helm so dumpf und mechanisch klingt wie die von Kora.
Als sie nicht antwortet, sagt er, sie müsse jetzt mit ihm mitkommen, sofort!
Der Widerstand
Zelda beißt sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckt, und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Achtzehn Uhr. Die Sonne ist also bereits untergegangen. Fröstelnd zieht sie den Reißverschluss ihrer grauen Uniform bis zum Kinn und stellt sich vor, wie es sein muss, der Präsident zu sein, in einem warmen Bett zu liegen und ein dreigängiges Abendessen zu verschlingen, während die Menschen in den Außenbezirken frieren und hungern.
Du wirst brennen, denkt sie hasserfüllt. Es dauert nicht mehr lange.
Zelda befindet sich mit ihren knapp fünfzig Gefolgsleuten in einem unterirdischen Bunker, dem Hauptquartier des Widerstands. Mit ihrem Berater Arthur, einem Techniker und zwei ihrer Soldaten steht sie in der Kommunikationszentrale vor der Funkstation, durch die sie seit Monaten auf geheimen Frequenzen mit dem Volk kommuniziert und den Widerstand organisiert.
Zelda setzt sich und greift nach dem Mikrofon.
„Einschalten?“, brummt der Techniker. Sie öffnet ihren Mund, zögert, und schließt ihn wieder. Bis jetzt ist alles nach ihrem, Arthurs und Walters gemeinsamen Plan gelaufen: der Druck der Bücher in der illegalen Druckerei, die Verteilung der Bücher durch bestochene Postboten und die Ausgabe der Waffen, die sie über die Jahre im Bunker gebaut und gesammelt haben. Auch den Angriff auf das Waffenlager der Weißen Wölfe – so bezeichnen sie die Soldaten des Regimes – und die darauffolgende Einnahme des Präsidentenpalasts sind bereits durchgeplant.
Was jetzt noch fehlt, ist Zeldas Startschuss. Und…
„…ein Ablenkungsmanöver“, murmelt sie. „Wir können noch nicht starten. Wir brauchen ein Ablenkungsmanöver.“ Arthur macht einen Schritt auf sie zu und sagt mit gezwungen ruhiger Stimme:
„Zelda, wir haben Jahre auf diese Chance hingearbeitet.“
„Ich weiß“, entgegnet sie und sieht zu ihm auf. „Daran musst du mich nicht erinnern.“
„Dann nutze sie, solange du noch kannst! Tausende Menschen werden heute Nacht für dich kämpfen, und hunderttausende werden dir morgen vor dem Palast zujubeln.“
Zelda seufzt und lässt das Mikrofon los. „Du hast selbst gesehen, wie schwer das Waffenlager bewacht ist. Was, wenn wir es ohne ein Ablenkungsmanöver nicht schaffen?“
„Dann sind wir weiter gekommen, als alle anderen zuvor“, erwidert Arthur.
„Aber nicht weit genug!“, schreit Zelda, schlägt mit der Faust auf den Tisch, springt auf und wirft den Sessel zu Boden. Der Techniker zuckt zusammen, doch Arthurs faltiges Gesicht bleibt regungslos. Sie nähert sich ihm, bis ihre Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt sind und er gezwungen ist, ihren lodernden Blick zu erwidern.
„Wir dürfen nicht scheitern“, haucht sie. „Ich will Gerechtigkeit. Ich werde die Menschen befreien. Und wenn es soweit ist, lasse ich den gesamten Stammbaum des Präsidenten und alle seine Unterstützer bis auf den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind vor seinen Augen hinrichten, bevor ich ihn lebendig verbrenne.“
Eine neue Falte bildet sich zwischen Arthurs Augenbrauen, doch bevor er etwas erwidern kann, reißt jemand die Türe mit einem Krach auf. Eine Soldatin tritt ein und meldet:
„Commander, Marcel ist eingetroffen!“
Zelda reißt die Augen auf und dreht sich zu ihr um. „Lassen Sie ihn rein!“
Als die Soldatin einen Schritt zur Seite macht, stürmt ein Mann in die Zentrale, der die weiße Rüstung und den Helm eines Regimesoldaten trägt. Er reißt sich den Helm vom Kopf und entblößt sein junges, dunkelhäutiges Gesicht. Marcel ist Zeldas Augen und Ohren auf den Straßen der Stadt. Wenn die Leute ihn sehen, sehen sie bloß seine Rüstung und nicht den Agenten des Widerstands unter ihr.
„Die Druckerei“, keucht Marcel und wischt sich den Schweiß von der Stirne, „die Wölfe haben sie gefunden. Sie haben alle getötet und das Gebäude niedergebrannt. Ich konnte nichts tun.“
Mit offenem Mund blickt Zelda zwischen ihm und Arthur hin und her. Wellen des Entsetzens schlagen gegen ihren Verstand.
„Wie haben sie sie gefunden?“, fragt Arthur nach Sekunden der Stille.
„Vielleicht haben sie unseren Funk abgehört.“
„Unmöglich“, brummt der Techniker.
„Es ändert nichts“, sagt Zelda. „Sie haben sie zu spät gefunden – die Bücher sind verteilt, und die Menschen stehen hinter uns.“
„Wie viele Soldaten sind bei der Druckerei?“, will Arthur wissen.
„Keine Ahnung. Hunderte, tausende“, schätzt Marcel. „Der Präsident ist davon ausgegangen, dass die Druckerei unser Hauptquartier ist, und hat mit einem Kampf gerechnet. Die halbe Armee ist jetzt außerhalb der Innenstadt.“
„Oh mein Gott“, flüstert Zelda und wirft Arthur einen Blick zu. Das Feuer in ihr brennt stärker als je zuvor. „Das ist unsere Chance!“
Sie stürzt sich auf die Funkstation, schnappt sich das Mikrofon und tut das, wovon sie jahrelang geträumt hat: sie wendet sich an ihre Verbündeten und die Bürger, die daheim vor ihren Radiogeräten warten, und gibt den Befehl zum Angriff auf das Waffenlager. Vor ihrem inneren Auge stehen sie bereits mit Gewehren in den Händen vor den Toren des Präsidentenpalasts.
Heute brechen wir die Ketten.
Wie in Trance steht sie auf und wendet sich Arthur zu. „Sag den anderen Bescheid“, weist sie ihn an, woraufhin er nickt und die Zentrale im Laufschritt verlässt.
„Zelda“, hört sie Marcel ihren Namen sagen. Sie dreht sich um und sieht, dass er den Helm auf den Boden gelegt hat. „Es gibt noch etwas, das du wissen musst.“ Das Zögern in seiner Stimme und sein leidender Gesichtsausdruck lassen ihr das Herz hinunterrutschen.
„Was?“
„Walter ist tot.“
Ihr Herz rutscht nicht mehr – es fällt, und als es aufschlägt und explodiert, bohren sich seine Splitter in ihre Lungen.
„Er wurde gestern in seiner Wohnung verhaftet und heute hingerichtet. Die Information kommt von unserem Mann im Gefängnis.“ Er legt seine linke Hand auf ihre Schulter. „Tut mir leid.“
Zelda kehrt Marcel den Rücken zu und starrt ins Leere. Schon wieder hat ein Mensch sterben müssen, weil er sich für das Richtige eingesetzt hat. Walter hat sich dem Widerstand zwar erst vor wenigen Monaten angeschlossen, doch in dieser Zeit hat er mehr bewirkt, als andere in Jahren – dank ihm hat sich das Blatt nach Jahrzehnten der Unterdrückung endlich gewendet. Nun würde er die Revolution nicht mehr miterleben.
„Nein…“, murmelt Zelda, „er ist nicht tot. Er hat den Weg zur Unsterblichkeit gefunden.“
Dann dreht sie sich wieder zu Marcel um und sagt: „Es darf nicht umsonst gewesen sein. Es muss gelingen.“
„Das wird es“, erwidert er. „Ich stehe euch bei.“
Zelda schüttelt den Kopf. „Nein, du kämpfst nicht mit.“
„Was? Aber-“
„Weißt du, wo Walters Wohnung ist?“
„Ja, warum?“
„Er hat eine Tochter. Ihr Name ist Alice. Sieh nach, ob sie noch dort ist.“
„Und dann?“
„Bring sie hinaus aus der Stadt, so weit weg wie möglich.“
„Ist das ein Befehl?“
„Nein“, sagt Zelda, hebt den Helm vom Boden auf und hält ihn vor seine Brust. „Das ist eine Bitte. Ich flehe dich an, Marcel – bring Alice in Sicherheit! Versprich es mir!“
Marcel sieht ihr fest in die Augen, nimmt seinen Helm entgegen und sagt: „Ich verspreche es.“
Das letzte Wort
Ein Strahl der Abendsonne scheint durch das vergitterte Fenster direkt auf das unrasierte Gesicht des Gefangenen, der mit dem Rücken zur Wand auf dem Bett sitzt. Seine Haare sind schweißnass, seine Augen geschwollen, seine Nase gebrochen, und in seinem Unterarm und seiner Hüfte stecken Glassplitter. Auf seinem Hemd klebt in Brusthöhe ein Etikett mit der Aufschrift „Walter S.“.
Er hätte sich nicht wehren sollen. Alles, was ihm das eingebracht hat, ist, dass die Weißen Wölfe ihm die Nase gebrochen und ihn in den Glastisch geworfen haben.
Du musstest es versuchen, hallt Zeldas kraftvolle Stimme durch seine Gedanken. Man kann einen Kampf, bei dem man nicht antritt, nicht gewinnen.
Walter rutscht auf der harten Matratze hin und her und starrt gegen die Betonwand. Er sollte nicht hier sein, in dieser Zelle. Um diese Zeit sollte er eigentlich von der Arbeit bei der Müllverbrennung nach Hause kommen, seine Tochter zur Begrüßung küssen, das gestohlene Altpapier aus seiner Tasche holen und die nächsten zwei Stunden mit ihr Schreiben und Lesen üben, da weder das eine noch das andere in ihrem Schullehrplan steht. Nein – nicht einmal das sollte er gerade tun. Er weiß genau, dass Schreiben und Lesen hier in den Außenbezirken offiziell verboten ist, obwohl viele Eltern es ihren Kindern heimlich beibringen. Nun bereut er es. Sein Papierdiebstahl ist aufgeflogen, und jetzt ist er hier. Er hat denselben Fehler begangen, den damals seine Frau begangen hat: er hat sich den Regeln widersetzt.
Was sind Menschen ohne Bücher? Ohne ihre Schrift? Ohne ihre Fähigkeit, Gesprochenes abzubilden und Gedanken festzuhalten?
Dieselben Tiere, die sie mit ihrer Schrift sind, mit dem Unterschied, weniger Wissen sammeln zu können, um es für ihre Grausamkeit einzusetzen.
Das ist nicht wahr, sagt Zeldas Stimme. Du bist der letzte Mensch, der das glauben würde!
Das Brennen in seinem Unterarm wird wieder so stark, als würde er ihn auf eine Herdplatte legen. Walter beißt die Zähne zusammen, schließt die Augen und denkt an seine Familie.
Ist seine Frau damals auf demselben Bett gesessen, bevor sie hingerichtet worden ist? Er weiß es nicht. Marie und er haben sich vor zehn Jahren durch ihren gemeinsamen Job bei der Entsorgung kennengelernt und sind bald danach in die Wohnung ihrer verstorbenen Großmutter gezogen. Im Gegensatz zu Walter hat Marie nicht bei der Papierverbrennung, sondern bei der Objektverwertung gearbeitet, von der sie immer wieder Dinge mit nach Hause geschmuggelt hat, so wie einen Teddybären, den sie ihrer gemeinsamen Tochter zum dritten Geburtstag geschenkt hat. Marie ist zweimal erwischt und nur verwarnt worden, doch beim dritten Mal, als sie das bis dahin wertvollste Objekt gestohlen und ohne Walters Wissen in einem Geheimfach in der Wohnung versteckt hat, sind die Weißen Wölfe zu ihnen nach Hause gekommen und haben alles auf den Kopf gestellt. Ohne fündig geworden zu sein, haben sie Marie verhaftet und mitgenommen. Das ist das letzte Mal gewesen, dass Walter seine Frau gesehen hat. Die Wunde, die ihre Hinrichtung in seinem Herzen hinterlassen hat, hat mittlerweile aufgehört zu bluten, doch die Narbe würde er für immer spüren.
Nein, nicht mehr lange; bald würden sie ihn genauso hinrichten, und dann würde Alice ganz alleine sein. Es ist unmöglich, dass Zelda und Arthur ihn noch rechtzeitig befreien.
Du wirst freikommen! Die Revolution startet noch heute. Nur dank dir ist es überhaupt so weit gekommen. Du warst der Funke, der das Feuer entfacht hat.
Aber zu welchem Preis? Wieviel ist Freiheit wert? Mehr als sein Leben? Mehr als das seiner Tochter?
Alice geht es gut!
Die Angst, seine Tochter nie wiederzusehen, wächst, bis sie größer ist als jeder Schmerz. Die Risse in der Betonwand verschwimmen vor Walters Augen. Er spürt, wie die Tränen seine Wangen hinunterlaufen und auf seine wunden Hände tropfen. Die Verzweiflung verbrennt sein Herz und füllt seine Lungen mit Asche. Er würde alles dafür geben, um in die Zeit zurückreisen zu können und das Geschehene ungeschehen zu machen: seine Beteiligung an Zeldas Widerstand, seine Mithilfe, die Bücher zu verbreiten und das Volk mit verbotenen Worten und Gedanken zu infizieren, das Geschenk, das er Alice zu ihrem siebten Geburtstag gemacht hat, ihre gemeinsamen Schreib- und Leseübungen und sein Papierdiebstahl, wegen dem er heute in dieser Zelle sitzt und auf den Tod wartet.
Plötzlich öffnet sich die Zellentüre; zwei Wölfe treten ein, bewaffnet mit Elektroschockern und Schlagstöcken. Walter springt auf die Beine, doch die Wölfe packen seine Arme und zerren ihn hinaus auf den Weinen, Stöhnen und einzelne Schreie dringen aus den anderen Zellen, und als sein Blick auf einen der Bildschirme an den Wänden fällt, schreit auch er.
Die Fernsehübertragung zeigt die Druckerei, in der Zelda und er die Bücher haben drucken lassen. Flammen dringen aus den Fenstern, und eine schwarze Rauchwolke steigt zum Abendhimmel auf. Unzählige schwerbewaffnete Wölfe stehen vor dem Gebäude, durch dessen offenes Tor brennende Druckmaschinen und Bücherstapel zu sehen sind.
„Nein“, krächzt Walter und versucht vergeblich, sich loszureißen. Sind Christoph und die anderen Drucktechniker noch am Leben? Wie haben die Wölfe die Druckerei gefunden? Haben sie auch den Bunker aufgespürt? Hat der Präsident die Revolution gerade in der Krippe erstickt? Ist alles umsonst gewesen?
Solange wir nicht aufgeben, ist nichts umsonst!
Die Wölfe schleifen ihn in die Todeszelle, einen grellweißen Raum voller piepsender Monitore und Maschinen und einem Krankenbett mit gelblich verfärbtem Leintuch; der Uringestank dreht Walter den Magen um. Die Soldaten stoßen ihn auf das Bett und halten ihn fest, während ein Mann in einem Arztkittel seine Arme und Beine mit Gurten festzurrt.
„Bitte nicht“, fleht Walter, doch der Arzt beachtet ihn nicht und verschwindet, so wie auch die Wölfe, aus seinem Blickfeld.
Halte durch. Du kommst hier raus!
Sein Atem ist ein stoßartiges Keuchen, sein Herz rast, und seine Gedanken sind bei Alice. Er sieht sie vor sich, mit ihrer Stupsnase, den goldenen Locken und den braunen Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, liest die Faszination und die unendlichen Fragen in ihren Zügen, als er sie zum ersten Mal den Nachthimmel mit dem Teleskop erforschen lässt, sieht das Leuchten in ihren Augen, als sie ihr Geburtstagsgeschenk auspackt, und hört die Wärme in ihrer Stimme, als sie ihm an einem Sommerabend vor dem Schlafengehen aus dem Bett zuflüstert:
„Ich hab dich lieb.“
Walter schüttelt den Kopf und fängt an zu weinen. Sekunden später ist der Arzt wieder über ihm und kontrolliert die Spritze, die er in der rechten Hand hält. Dann bückt er sich und legt ihre kalte Spitze auf seine Pulsadern. Walter brüllt und reißt mit aller Kraft an den Gurten.
„Nein! Ich sage euch alles, egal was, aber bitte, lasst mich leben! Bitte!“
Der Arzt zeigt ihm die Zähne und drückt die Spritze in sein Fleisch. Allmählich beruhigt sich seine Atmung. Das Licht schwindet. Seine Lippen formen Worte, die niemand hört.
Das letzte Wort ist der Name seiner Tochter.
Veränderung
„Wohin fahren wir?“, will Walter wissen und blickt in alle Richtungen durch das kreisrunde Fenster des Wagens auf die schneebedeckten Straßen. Daraufhin fragt Zelda, die links neben ihm sitzt:
„Vertraust du mir?“
Walter hat ihre Stimme zum ersten Mal vor zwei Wochen im Radio gehört. Der kraftvolle, selbstbestimmte Ton, in dem sie über den Widerstand und ihren Kampf für die Freiheit gesprochen hat, hat etwas in ihm zum Leben erweckt, das bis dahin bloß als ein Echo in seinen Gedanken existiert hat. Dieses Echo ist es gewesen, das seine Hände an einem Sommerabend über die Tasten der Maschine bewegt hat. Als er schließlich vor zwei Wochen Zeldas Stimme im Radio gehört hat, ist sie ihm merkwürdig vertraut vorgekommen; es war so, als wäre das Echo in seinen Gedanken in die Realität übergegangen, als wäre er dazu bestimmt gewesen, sie zu finden. Alles, was er dann tun musste, war, ihrer Stimme zu folgen. Und nun sitzt er mit Zelda in einem Wagen, der sich immer weiter von seinem Heimatbezirk entfernt.
„Ja“, sagt er und erwidert ihren Blick. „Ich vertraue dir.“
„Okay.“ Sie lächelt und streicht sich ihre schwarzen Haare aus den Augen, deren Braun deutlich dunkler ist als das von Maries Augen gewesen ist. „Dann genieße die Fahrt.“
Walter seufzt und blickt nach vorne. Kora sitzt am Steuer. Tatsächlich steuert sie den Wagen jedoch nicht mit ihren Händen und Füßen; Kora hat weder das eine noch das andere. Doch selbst wenn sie Hände und Füße hätte, wären sie nutzlos, da der Wagen nämlich gar kein Steuer hat, weder ein Lenkrad noch Pedale. Alles, was Walter sieht, wenn er nach vorne blickt, ist eine durchgängige Windschutzscheibe. Arthur hat ihm bei ihrem ersten Treffen erklärt, Kora sei eine künstliche Intelligenz und kontrolliere nicht nur die Autos, die die Menschen hier in den Außenbezirken zwischen ihren Wohnungen und ihren Arbeitsstellen hin- und hertransportieren, sondern auch Aufzüge, Computer, Roboter und das Internet in der Innenstadt. Walter hat ihn angesehen wie ein Hund, dem man beizubringen versucht, mit Besteck zu essen. Natürlich hat er sich nicht getraut zu fragen, was die Wörter Computer, Roboter und Internet überhaupt bedeuten; schließlich wollte er vor Zelda nicht wie ein Idiot dastehen.
„Sie erreichen Ihr Ziel in fünf Minuten“, ertönt Koras dumpfe, mechanische Stimme.
„Wohin fahren wir?“, wiederholt Walter. „Geht es etwa um die Büch-“
„In das Restaurant, von dem ich dir gestern erzählt habe“, fällt Zelda ihm ins Wort.
„Aber wir haben uns gestern gar nicht gesehen.“
„Doch, haben wir“, sagt Zelda und fügt nach kurzem Zögern hinzu: „Du, äh, bist so vergesslich!“
„Blödsinn, ich-“
„Weißt du noch, dass du mir versprochen hast, mir mit dem Ausmalen zu helfen?“
Verständnislos schüttelt Walter den Kopf.
„Da hast du es“, meint sie.
Was soll das? Macht sie sich lustig über ihn?
„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, dröhnt Koras Stimme durch den Wagen, der sogleich rechts abbiegt und in einer Seitengasse anhält. Zelda und er steigen aus. Sie stapft durch den Schnee, bleibt neben Walter stehen und wartet, bis der Wagen weg ist, bevor sie sagt:
„Tut mir leid. Ich dachte, du wüsstest es schon.“
„Was?“
„Kora belauscht uns. Wenn ihr etwas nicht gefällt, informiert sie den Präsidenten. Wir konnten in dem Wagen nicht offen sprechen.“
„Oh mein Gott…“
„Das ist nicht alles. Siehst du das Licht dort oben?“
Zelda deutet auf ein nahegelegenes Restaurant, über dessen Eingangstüre ein weißes Licht schimmert. Er nickt; das Licht schimmert über fast allen Türen und in jedem Auto der Stadt. „Das sind Kameras. Kora beobachtet uns, überall, zu jeder Zeit. Und wenn ihr etwas nicht gefällt… tja, du kannst es dir denken. Also gut, los jetzt.“
Zelda führt Walter in das Restaurant und durch den Eingangsbereich in die Küche. Nachdem sie einem der Köche einen Geldschein in die Hand gedrückt hat, öffnet dieser die Türe des Hinterausgangs für sie. Als sie wieder draußen in der Kälte stehen, fragt Walter:
„Wozu war das gut?“
„Kora glaubt, dass wir immer noch in dem Restaurant sind“, erklärt Zelda. „Das heißt, wir sind von nun an unter ihrem Radar.“
„Was, wenn sie uns durch eine andere Kamera sieht?“
„Das wird nicht passieren.“
Zelda führt Walter durch ein Labyrinth aus schmalen Gassen, in denen Obdachlose zwischen Müllbergen, Alkoholflaschen und Injektionsnadeln auf den Gehsteigen schlafen, zu einer Straße, auf der sie patroullierende Wölfe sichten. Als den beiden Soldaten ein umherstreifendes Kind, das vermutlich die Schule schwänzt, auffällt, verlassen sie ihre Position, sodass Walter und Zelda die Straße ungesehen überqueren können. Kurz wirft Walter einen Blick über die Schulter und sieht, wie einer der Soldaten das Kind auf den Asphalt stößt, dann läuft er Zelda nach.
Zehn Minuten später bleiben sie in einem Industriegebiet am Stadtrand vor dem geschlossenen Tor eines Gebäudes stehen. „Wir sind da“, verkündet Zelda. „Marcel hat den Ort für uns gefunden.“
Sie umkreist das Gebäude, sperrt die Hintertüre auf und führt Walter durch mehrere Gänge in ein Büro, in dem ein Mann um die Sechzig mit runden Brillengläsern und kariertem Hemd auf sie wartet. Erst begrüßt er Zelda, dann schüttelt er Walter die Hand.
„Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Walter. Mein Name ist Christoph. Willkommen in meiner Druckerei.“
Christoph führt die beiden aus dem Büro und eine Treppe hinunter durch eine Türe. Mit offenem Mund betritt Walter eine weite Produktionshalle, in der dutzende Arbeiter an ihren Maschinen stehen. Unter Brummen und Rauschen werden Papierbögen über Zylinder bewegt und mit Tinte bedruckt. In der Mitte der Halle wächst ein Berg aus Büchern mit roten Einbänden.
Vor Freude fängt Walter zu lachen an, läuft auf den Berg zu und betastet ihn mit der Hand, um sicherzugehen, dass er keine Einbildung ist. Nach kurzer Zeit blickt er zu Zelda zurück und fragt:
„Was meinst du, wie viele Menschen überhaupt lesen können?“
„Mehr als du denkst“, erwidert Zelda. „Und die, die es nicht können, werden die Geschichte mündlich weitererzählt bekommen.“
„Warum glaubst du, dass es funktionieren wird? Dass eine Kindergeschichte irgendetwas bewirken kann?“
„Ich glaube es nicht – ich weiß es. Bücher können Menschen verändern, und Menschen können die Welt verändern.“ Nach einer kurzen Pause sagt sie: „Die Welt ist bereit für Veränderung. Sie hat sie nie dringender gebraucht. Also schenken wir sie ihr.“
Das Geschenk
„Ich hab dich auch lieb“, flüstert Walter und drückt Alice einen Kuss auf die Stirne. Er deckt sie zu und schaltet das Licht aus. Danach schließt er ihre Zimmertüre und geht hinaus auf den Balkon in die warme Sommerluft, um das Teleskop wegzuräumen. Während er arbeitet, tropfen seine Tränen auf die Linse.
Unsere Tochter ist ein Wunder, denkt er, und jeder Atemzug füllt seine Brust mit Stolz. Er blickt zum Himmel auf und beobachtet eine Sternschnuppe, bis sie in der Atmosphäre verglüht ist. Das größte Wunder. Ich wünschte, du könntest sie jetzt sehen, Marie.
Als Walter sich wieder dem Teleskop zuwendet, fällt ihm auf, dass Alice ihren Teddybären auf dem Stuhl vergessen hat. Er nimmt ihn in die Hände und runzelt die Stirne, als er etwas Hartes unter dem flauschigen Stoff spürt. Daraufhin dreht er ihn um und erkennt eine Naht auf seiner Rückseite.
Alice kann das unmöglich gemacht haben, überlegt er. Aber wer sonst?
Vorsichtig öffnet er die Naht, greift in das Innere des Plüschtiers und zieht einen Schlüssel heraus, der im Mondlicht silbern funkelt. Verwirrt geht er mit dem Schlüssel ins Wohnzimmer und sieht sich um. Er verbringt die nächste halbe Stunde damit, wie ein Verrückter nach einem passenden Schloss zu suchen, wobei er die Decke mit einer Taschenlampe ableuchtet, Läden aus Regalen reißt, Bilder abhängt und sogar unter Teppichen nach Falltüren sucht.
Schließlich bleibt er verschwitzt vor dem Regal im Wohnzimmer stehen. Er erinnert sich, wie Marie ihm erzählt hat, dass ihre Großmutter es in ihrer Kindheit noch als Bücherregal verwendet hat. Heute stehen in dem Regal keine Bücher mehr, sondern Bilder von ihm, Alice und Marie, als sie noch am Leben gewesen ist. Er schiebt die Familienbilder zur Seite und tastet die hintere Regalwand Ebene für Ebene ab, bis seine Finger auf der dritten Ebene eine Kante streifen. Hastig greift er nach der Taschenlampe, und als er den Lichtkegel auf die Stelle richtet, entdeckt er ein Schlüsselloch in der Wand.
Was hast du mir verschwiegen, Marie?
Mit zitternden Fingern steckt Walter den Schlüssel in das Loch und dreht ihn um. Eine kleine Geheimtüre öffnet sich nach außen und enthüllt den Blick auf ein Loch in der Wand, in dem ein schwarzes, eckiges Ding aus Metall steht. Fassungslos hält er die Luft an. Seine Augen wandern über die Walze, das Farbband, die Hämmerchen und das Tastenfeld.
Eine Schreibmaschine! Marie hat eine Schreibmaschine hinter dem Bücherregal versteckt! Das ist es, was sie von der Arbeit gestohlen hat, um es vor der Zerstörung zu bewahren. Danach haben die Weißen Wölfe gesucht. Darum haben sie sie hingerichtet!
Nimm sie heraus, hört er plötzlich das Echo einer fremden Stimme in seinen Gedanken. Erst zögert er, doch dann hebt er die Maschine aus dem Versteck und stellt sie auf dem Glastisch ab. Anschließend eilt er zur Garderobe, nimmt ein paar der gestohlenen Papierbögen aus seiner Tasche und spannt sie in die Schreibmaschine ein. Danach starrt er minutenlang auf ihr Tastenfeld, ohne sich zu rühren. In seinem Inneren ringen zwei Mächte miteinander.
Weiße Seiten. Schwarze Tinte. Unendliche Freiheit.
Eine Freiheit, für die Marie gestorben ist.
Lass ihren Tod nicht umsonst gewesen sein. Die Maschine ist ihr letztes Geschenk an dich.
Sie muss vernichtet werden. Es ist zu riskant. Alice braucht ihn.
Alice hat eine bessere Welt verdient. Marie hat dir den Weg gezeigt. Du musst den ersten Schritt gehen.
Die Stimme in seinen Gedanken gewinnt den Kampf, und Walter lächelt, da er nun endlich weiß, was er seiner Tochter zum siebten Geburtstag schenken würde: eine Geschichte. Er würde ihr die simpelste Geschichte schreiben, die ihm in den Sinn kommt.
Walter geht vor der Maschine auf und ab wie ein eingesperrtes Tier, bis ihm etwas einfällt: Alice liebt Tiere! In der Geschichte soll es um einen Vogel gehen – einen Papageien, der in einem Käfig eingesperrt ist und dessen Besitzer sich nicht darum kümmert, ihn mit Wörtern zu füttern. Da der Papagei jedoch hungrig nach neuen Wörtern ist, ist er bald so abgemagert, dass er sich durch die Gitterstäbe zwängen kann und in die Freiheit entkommt.
Doch wie soll er sie schreiben? Kann er das überhaupt?
Er schließt die Augen, und seine Gedanken driften ab. Es ist, als würden sie durch einen Tunnel rasen, der sie immer weiter von der Realität wegführt, während elektrisierende Wellen durch seinen Körper rollen und Bilder vor seinen Augen aufblitzen. Er ist ein Seefahrer auf der Suche nach neuem Land; ein Forscher, der mehr Fragen aufwirft, als er beantworten kann; ein Archäologe, der mit Schaufel und Pinsel eine Geschichte aus dem Sand gräbt; ein Schmied, der Gedanken zu Wörtern gießt und sie zu Sätzen verschweißt. Er ist all das und gleichzeitig nichts davon – er ist ein Autor.
Walter setzt sich an die Schreibmaschine und legt die Finger auf die Tasten. Jeder Buchstabe ist der Abzug eines Gewehres.
Und als die Schüsse fallen, fließt rote Tinte.
Ende