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Rote Rosen im Fenster
Hier war ich also auf dem Weg zu meiner neuen Arbeitsstätte. Zum ersten Mal hatte ich einen Job am anderen Ende der Stadt annehmen müssen, was bedeutete, mich morgens und abends auf eine Fahrt durch die dunklen Straßen von Berlin zu begeben.
Verschlafen saß ich in der S-Bahn und ließ die nächtliche Stadt an mir vorüberziehen. Zwischen Friedrichstraße und Lehrter Stadtbahnhof schlängelt sich das Bett der S-Bahn durch aufragende Wohn- und Bürohäuser dahin. Die Fenster waren alle dunkel.
„Die schlafen um diese Zeit wohl noch“, dachte ich voller Neid.
Ein Fenster erregte meine Aufmerksamkeit. Der helle Lichtschein, der daraus hervordrang, ließ es wie ein Schmuckstück an der dunklen Fassade aussehen. Von der Helligkeit umflossen stand darin eine Vase mit einem großen Strauß dunkelroter Rosen.
Mehr konnte ich nicht sehen, viel zu schnell rollte ich mit der S-Bahn meiner neuen Arbeit entgegen.
Der Strauß Rosen ließ mich den ganzen Tag nicht los. Wann hatte ich zuletzt rote Rosen bekommen? Ob in der Wohnung ein junger Mann wohnte, der die Rosen für seine Freundin gekauft hatte? Oder ob die Bewohnerin die Frau war, die sie geschenkt bekommen hatte? Vielleicht war es ja auch ein Paar, das dort wohnte. Ob sie gerade Hochzeitstag hatten? Oder hatte der Mann die Rosen aus schlechtem Gewissen verschenkt? Vielleicht gehörte er ja auch zu den seltenen Exemplaren von Männern, die ihren Frauen ohne Anlass Blumen kaufen. Ich konnte mir die eigenartige Faszination nicht erklären, aber ich fieberte meiner Heimfahrt regelrecht entgegen.
Umso enttäuschter war ich, als ich das Fenster in der Menge der dunklen Maueraugen nicht erkennen konnte.
Mein erster Gedanke am Morgen galt dem Rosenstrauß im Fenster.
In der S-Bahn suchte ich mir einen Platz, von dem aus ich in Fahrtrichtung das Fenster schon frühzeitig sehen musste. Ich atmete auf, als der helle Lichtfleck in der dunklen Fassade auftauchte.
Der Rosenstrauß war verschwunden. Im Zimmer sah ich einen runden Tisch, der für zwei zum Frühstück gedeckt war und auf einem der Stühle saß ein kleiner weißer Hund mit langen Schlappohren.
Wo war der Rosenstrauß? Im Hintergrund des Zimmers hatte ich etwas Rotes leuchten sehen. Waren das die Rosen? Warum hatte sie sie aus dem Fenster genommen?
Immer, wenn tagsüber meine Gedanken zu dem Fenster huschen wollten, rief ich mich ärgerlich zur Ordnung. Das war eine ganz normale Wohnung mit einem ganz normalen Paar mit einem Hund, das sich morgens, wenn ich zur Arbeit fuhr, zum Frühstück setzte.
Als ich an diesem Abend nach Hause fuhr, war das Fenster wieder dunkel und ich beschloss, meine Heimfahrt am nächsten Tag später anzutreten.
So oft ich auch vorbei fuhr, nie sah ich jemanden in dem Zimmer. Ich überlegte, wie groß die Wohnung sein könnte, dass ich nie die Bewohner zu Gesicht bekam. Wenn das Licht brannte, konnte ich immer nur den Esstisch und dahinter einen großen weißen Flokatiteppich sehen.
Das Fenster begann gerade, mich zu langweilen, als eines Morgens die S-Bahn genau davor stoppte. Es war wieder hell erleuchtet und am Tisch saßen ein junger Mann mit dunklem Haar im Schlafanzug und eine Frau mit langen blonden Locken, die noch ihren Bademantel trug. Ihren Gesichtern nach schienen sie zu streiten. Während ich sie beobachtete, schlug der Mann plötzlich mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen tanzten. Der Knall, den die Faust auf dem Tisch erzeugte und das Scheppern des Geschirrs konnte ich natürlich nicht hören, aber das Geräusch hallte in meinem Kopf wider, während die Bahn langsam Fahrt aufnahm.
Worüber sie wohl gestritten hatten? Der Mann hatte richtig wütend ausgesehen. Fast begann ich mich vor diesem böse verzerrten Mund zu fürchten.
Als ich später als sonst nach Hause fuhr, spähte ich wieder nach dem hellen Fenster. Tatsächlich saß da der Mann am Tisch und ... o nein, das durfte nicht sein, er polierte einen Revolver! Er wollte sie erschießen! Meine Hände zitterten, aber die S-Bahn rollte unbeirrt weiter. Ich versuchte, das Bild des Mannes mit dem Revolver zu vergessen. Ich nahm mir fest vor, zur Polizei zu gehen, sollte ich die Frau in den nächsten Tagen nicht sehen.
Ich bekam sie früher zu Gesicht, als ich gedacht hatte. Am nächsten Abend musste ich länger im Büro bleiben und fuhr sehr spät nach Hause. Schon von weitem leuchtete mir das helle Viereck des Fensters entgegen. Drinnen lag auf dem Flokati auf einem Bett aus Rosen die Frau und neben ihr saß der kleine weiße Hund. Er sah mit seinen langen Schlappohren traurig aus. Sie trug nur ihre Wäsche. Waren ihre Gliedmaßen nicht unnatürlich verdreht gewesen? Kam all das Rot wirklich nur von den Rosenblättern? Ich war sicher, er hatte sie erschossen. Aber warum hatte er sie auf Rosen gebettet? Als ich in der Friedrichstraße ausstieg, lief ich die Straßen an der S-Bahn entlang, um das Haus zu finden, in dem das Fenster leuchtete. Ich ging auf dem Gehweg auf und ab. Was sollte ich tun? Klingeln? Was sollte ich der Polizei erzählen, wenn ich sie holte? Wenn ich mich nun geirrt hatte?
Obwohl mir bei dem Gedanken, eine Leiche gesehen zu haben, ganz flau im Magen wurde, fuhr ich nach Hause. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass im Haus jemand den Schuss gehört haben musste oder dass es jemanden geben würde, der die junge Frau vermisste. Und der kleine Hund würde bestimmt bellen, wenn er hungrig würde. Ich wollte warten, ob die Zeitungen etwas schrieben.
Am nächsten Morgen war der Tisch wie mir zum Hohn nur für eine Person gedeckt, von Rosen oder einer Leiche keine Spur. Aber ich sah auch den jungen Mann nicht. Für wen war der Tisch gedeckt?
In der Zwischenzeit war ich nahe daran, meinen neuen Job gleich wieder zu verlieren. Ich war unaufmerksam und fahrig. Ich dachte mehr an Rosen und Revolver, als an meine beruflichen Aufgaben. Mehrmals hatte ich das Telefon in der Hand, um die Polizei anzurufen, ließ es dann aber wieder. Es konnte doch alles nur Einbildung sein. Ich wollte mich nicht lächerlich machen.
Die Tage vergingen. Das Fenster war entweder dunkel oder der Tisch für eine Person gedeckt. Ich konnte nicht mehr schlafen, ich wollte nicht mehr essen.
Endlich, nach einigen Tagen des ergebnislosen Beobachtens sah ich eine Bewegung in dem Raum. Eine Polizeiuniform! Also hatte er sie doch erschossen und die Kripo ermittelte. Da drehte sich der Polizist um und ich erkannte den jungen Mann, der die Pistole gereinigt hatte. Dann kam die junge Frau mit den blonden Locken in mein Blickfeld. Sie umarmte und küsste ihn und im Arm hielt sie einen großen Strauß roter Rosen.
Ich begann zu zittern, diesmal vor Erleichterung. Seither sitze ich in der S-Bahn so, dass ich die erleuchteten Zimmer in den vorbeiziehenden Häusern nicht beobachten kann. Ich stecke meine Nase in ein Buch oder versuche, noch ein bisschen zu schlafen.
Wer weiß, was ich sehen, nein, was ich mir zusammenfantasieren würde, wenn ich weiterhin die Fenster beobachtete.