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Rote Minze
Rote Minze
Der Fluss war schnell und gewaltig. Tausende kleine Wellen überschlugen sich mitten im Strom des Flusses und formten diesen. Es war schlichtweg unmöglich ihn zu durchqueren bei dieser Strömung, selbst Leute die keinerlei Wissen hatten über Schwimmen oder Flüsse oder Wasser an sich, wussten dies. Am Ufer dieses reißenden Flusses saß er, weich gebettet auf dem sattgrünen Gras der angrenzenden Wiese, welche wiederum von großen, noch sattgrüneren blühenden Schwarzpappeln umgeben war. Ein Mann, mit dunkelblonden Haaren, seine Augen waren, wie ihm alle sagten, grün und manchmal gräulich. Vielleicht waren sie auch ein Gemisch aus beiden Farben. Seine grün-gräulichen Augen waren mit Leere gefüllt und selbst Optimisten würden keine Hoffnung in ihnen erkennen können. Sein Blick war starr gerichtet auf den Fluss. Seine Knie waren an seinen Oberkörper gezogen und die Arme umklammerten die Knie innigst. Es war Sommer und alles um ihn herum stand in prächtiger Blüte. Doch dieser Mann saß da, in einem dünnen Baumwollpullover, dunkelrot gefärbt und seiner vom Gras, teilweise, grün verwaschenen Jeans. Neben ihm standen seine Schuhe, welche er nun packte und anzog. Das Anziehen der Schuhe fiel dem Mann offensichtlich sehr schwer und nur mit größter Mühe schaffte er es den zweiten zu schnüren.
Nachdem die Schuhe angezogen und geschnürt waren, verharrte der Mann noch ein paar wenige Momente in seiner innig umklammernden Pose und konnte sich schließlich aus dieser befreien und aufstehen. Als er gerade stand, schien es als würde er taumeln vor Benommenheit, von weiten konnte man ihn für einen Betrunkenen halten, der sich erholen musste am Ufer des Flusses von einer anstrengenden Nacht. Jedoch war der Mann nicht betrunken, er taumelte vor innerer Leere und Verzweiflung Richtung zuhause. Ihm graute es vor dem Heimweg. Dennoch verließ er die sattgrüne Wiese und wandte sich ab von den noch sattgrüneren Schwarzpappeln. Er folgte einem kleinen Pfad, schnitt sich dabei die, eh schon verunstaltete, Jeans auf und kam schlussendlich an einer kleinen Mündung zu einer Straße an.
Die Häuser waren in dezenten, aber doch auffallend hübschen Farben gehalten. Es reihten sich sanfte Gelb-, Rosa-, Blau- und Grüntöne aneinander, gepaart mit den altertümlich wirkenden Ornamenten an deren Fassaden. In den Erdgeschossen, dieser bezaubernden alten Häuser, wurden im Laufe der Zeit immer mehr Läden eröffnet und einen Laden kannte der Mann besonders gut. Er hatte Angst an diesem Laden vorbeizulaufen, nicht weil er aussah wie er nunmal aussah, sondern aus Angst vor Erinnerungen, jedoch führte kein Weg vorbei, so schmerzlich es auch sein mochte. Der Mann trat den schweren Gang an auf dieser Straße, er nahm weder die wunderbaren Fassaden noch die umherlaufenden Leute, die wie Ratten aus ihren Löchern empor krochen, sobald es warm wurde, wahr. Er passierte viele kleine Läden, das Café, in dem er einst so gerne saß, seinen Espresso trank und die Tageszeitungen verschlang, das Kiosk, in dem er einst so gerne seine Zigaretten kaufte, welche er genüsslich im Café nebenan rauchte, die kleine Boutique, in der er einst so gern abwertende Gespräche mit dem Besitzer hielt über die unsägliche heutige Mode und das kleine Antiquariat, in dem er stundenlang ungestört stöbern konnte und bei Fragen zu bestimmten Werken, jederzeit von der älteren Dame, der das Antiquariat gehörte, viel zu lange Antworten bekam.
Doch nun, stockte sein Atem. Er bekam kaum Luft, so stockte es. Die Luft in seiner Lunge konnte nicht entweichen und sein Herz fing an zu rasen. „Rote Minze“, leuchteten die entsprechend angeordneten Neonlichtröhren über dem bevorstehenden Laden. Es war ein kleines Restaurant, zwischen dem kleinen Antiquariat und einem feinen Schuhladen, in dem hoher Wert gelegt wurde auf Handarbeit und Freundlichkeit. Vor dem Restaurant „Rote Minze“ befanden sich mehrere kleine Tische und Stühle, ein paar Menschen aßen dort ihr Abendbrot, sie lachten und unterhielten sich lautstark, teilweise über die einzelnen Tische hinweg.
Der Mann erinnerte sich, wie er einst an eben diesen Tischen saß, seine blutrote Tomatensuppe schlürfte und Teil der lautstarken Masse war. Er diskutierte und unterhielt sich mit Fremden, teils ihm bekannten Leuten über die Geschehnisse der Welt und andere Themen. Er war so enthusiastisch und voller Freude am Leben. Aus wenig machte er viel.
Als der Mann sich dem Restaurant weiter näherte warf er einen flüchtigen Blick hinein und er erkannte die Bilder an den Wänden, die Stühle und Tische aus Kirschholz, die roten Stoffservietten, ordentlich gefaltet auf den Tischen liegen und er traute seinen Augen kaum, sein Atem stockte ihm wieder, schlimmer als jemals zuvor, sein Herz raste unaufhörlich, seine Benommenheit war verschwunden, er konnte fühlen wie die Freude den Weg zu ihm zurückfand. Er taumelte nicht, sondern er ging entschlossenen Weges auf den Eingang des Restaurants zu.
„ Du bist hier!“, sagte der Mann im Moment des Eintretens mit einem Zittern in seiner sonst so gefestigten Stimme. „Du bist hier!“, sagte der Mann erneut und dieses Mal konnte er seine unfassbare Freude nicht verbergen.
Eine Frau an der Bar drehte sich um. Die Frau hatte lange, glänzende braune Haare, ihre Augen waren braun, wie die Tische und Stühle, die sie umgaben. Ihre Nase war klein und passte perfekt zu ihrem Gesicht, ihre Lippen waren gefüllt und rot geschminkt, jedoch nicht zu aufdringlich, wie man es öfter sah auf den Straßen. Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen und sie hatte eine Freude in ihren Augen, die selbst Pessimisten nicht verkennen konnten. Sie ging auf den Mann zu, ohne Worte, der Mann stand regungslos im Eingang der „Roten Minze“ und sie umarmte ihn, sie umarmte ihn, wie sie noch nie jemanden umarmte.
„Ich bin nicht gegangen“, flüsterte sie dem Mann in sein Ohr.
„Nimm Platz und ich bringe dir etwas zu essen. Hast du einen Wunsch?“, fragte sie erwartungsvoll.
Der Mann erwiderte: „Ja, Tomatensuppe, bitte.“