- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Rote Gummibärchen
Sobald die Schulglocke ertönte, schloss ich meine Bücher, sprang von meinem Sessel auf und hastete zurück in die letzte Reihe zum Platz meiner besten Freundin Lisa. „Schnell, beeil dich !“, drängte ich sie. Inzwischen war auch schon Jenni nach hinten gekommen, um Lisa zu unserem täglichen Pausenrundgang abzuholen. Unsere Freundin packte nur noch ihre Mathebücher in den Schulrucksack und dann gingen wir los.
Wir hatten seit wenigen Tagen nur mehr einen einzigen Grund, in den großen und auch kleinen Pausen durch die ganze Schule zu rennen. Dieser Grund ging bereits in die Oberstufe und war mit großem Abstand der allerhübscheste Mensch unserer Schule und darüber hinaus des ganzen Universums. Aus Routine wussten wir bereits, dass wir ihn heute in der Pause zur dritten Stunde am Stiegenaufgang antreffen konnten. Also wollten wir als Erstes das Klassenzimmer verlassen, doch bevor wir um die Ecke der Klassentüre bogen, musterten wir uns noch gegenseitig und richteten einander die Haare in die passende Position. „Schaue ich so gut genug für ihn aus?“, fragte ich unsicher. „Na klaro!“, antwortete Jenni prompt und zwinkerte mir zu. „Also gut, dann mal los!“, sagte Lisa anschließend und öffnete die Klassentüre.
Wir verließen den Raum und liefen geradewegs auf die Treppe zu. Beim Stiegenabgang angekommen, glotzten wir sehnsüchtig nach unten und hofften sehnlichst, dass er nun erscheinen würde. Und wir mussten wirklich nicht lange warten. Schon nach wenigen Sekunden erblickte Jenni die tolle Gestalt unseres Schwarms. „Da, da ist er!“, schrie sie hektisch und klopfte uns dabei nervös auf die Schulter. Nun waren wir alle in einem anderen Universum. Wir drei hatten nur mehr Augen für ihn. Um die ganze Aktion etwas unauffälliger zu machen, gingen wir die jetzt die Treppe abwärts. Als Lisa und Jenni, die mir wieder einmal vorausgeeilt waren, ungefähr bei der Hälfte der Stufen angelangt waren, kam ihnen unser Schwarm entgegen. Unbeeindruckt blickte er auf die andere Seite und ich konnte den beiden die Enttäuschung schon von hinten ansehen.
Doch als ich mit ihm auf gleicher Höhe war, schaute er mir ganz intensiv in die Augen. Ich blickte in sein überperfektes Modelgesicht und spürte, wie meine Knie immer weicher, meine Handgelenke taub wurden und meine Hände zu zittern begannen, so wie immer, wenn ich ihn sah. Ich versuchte nicht aufdringlich zu wirken und deshalb wandte ich mit einem neckischen Grinsen meinen Blick wieder von ihm ab, so schwer es mir auch fiel. Stumm gingen wir hintereinander den restlichen Teil der Treppe abwärts. Unten abgekommen war ich die Erste, die das Schweigen nicht mehr länger ertragen konnte. „Habt ihr ihn gesehen? Er ist soooo enorm hübsch! Und wisst ihr was? Wir haben uns mindestens fünf Sekunden in die Augen geschaut! ...“, sprudelte es aus mir heraus. Meine Freundinnen, lachend vor Freude, antworteten mir: „Gratuliere! Ja, klar haben wir ihn auch gesehen! Denkst du etwa, wir sind so blöd und schauen weg?“. Weiters antworteten sie mir: „ Ja, du hast vollkommen recht! Dieser Junge ist so wunderschön!“
Nachdem wir uns über dieses Thema geeinigt hatten, marschierten wir weiter Richtung Garderobe, die heute das eigentliche Ziel unseres Spazierganges war.
Die nächste Stunde war nämlich Turnen und da es seit einigen Tagen Pflicht war, das Turngewand in der Garderobe zu verstauen, waren wir vor jeder Turnstunde darauf angewiesen, dieses von unten zu holen. Doch spätestens seit wir ihn kannten, machte uns dieser Umweg gar nichts mehr aus.
In der Garderobe angekommen, musste ich feststellen, dass mein Turnbeutel nicht auf dem Garderobenhaken hängte. „Vielleicht hast du ihn ja in der Klasse?“, meinte Lisa schmunzelnd. Ich überlegte. Konnte das überhaupt sein? Nach längerem Denken musste ich wirklich zugeben, dass Lisa recht hatte, denn nach der letzten Turnstunde wollte ich das Gewand zum Waschen mit nach Hause nehmen. „Also noch einmal hinauf in die Klasse“, merkte Jenni mit genervtem Unterton an. „Sorry Mädels!“, entschuldigte ich mich. Also liefen wir noch einmal den langen Gang entlang und die noch längere und vor allem steilere Treppe aufwärts, bis wir wieder auf dem kleinen Gang waren, der zu unserer Klasse führte. Wir lachten gerade über das heutige Outfit unseres Chemielehrers, als mir beim Anblick unseres Klasseneingangs das Herz stehen blieb. Meine Freundinnen musterten mich, weil ich vor lauter Schrecken mitten im Reden stockte. Sie blickten zuerst auf mich und dann ebenfalls auf die Klassentüre. Was mir nun bevorstand, war die Hölle pur. Schon wieder machte sich die Taubheit in meinen Handgelenken breit, als Lisa mitfühlend sagte: „Oh,oh! Das wird jetzt aber nicht leicht werden!“ „Allerdings!“, gab ihr Jenni recht.
Ich hatte einen Puls von 380 und wusste nicht mehr, an was ich zuerst denken sollte. Gerade gehen und nicht umfallen hielt ich für das Wichtigste und sagte es mir deshalb in Gedanken immer wieder vor. Der Grund für meine Hektik war wieder einmal er, unser Topmodel und Herzeroberer.
Lässig lehnte er gegen die linke Seite des Türpfostens und tratschte gerade mit einem seiner Kumpels, der ihm gegenüber am Gang und somit vor der Klasse stand. Wie sollte ich es also schaffen, ohne zu sterben oder irgendetwas Peinliches zu verursachen, an ihm vorbeizugehen und aus der Klasse den Turnbeutel zu holen? Ich hörte Lisa noch Jenni fragen, ob sie etwa wisse, warum seine Klasse heute ausgerechnet in unserer eine Stunde haben musste und ob sie, wenn sie ich wäre, auch so mutig vorbeigehen würde.
Mutig?
Pah, ich musste mich wahnsinnig bemühen nicht umzufallen! Ich wollte einfach stehen bleiben und weglaufen, doch kurz bevor ich stoppen wollte, spürte ich etwas, was mich förmlich zu ihm zog. Also ging ich ohne Pause auf die Klassentüre zu. Ich senkte schüchtern meinen Kopf und fokussierte meinen Blick auf seine grauen Converse und seine rote Röhrenjeans, die mir sehr imponierten. Doch eine innere Kraft zog mein Gesicht nach oben, sodass ich genau in sein Modelgesicht mit der außergewöhnlichsten Frisur auf diesem Planeten blickte. Noch drei Schritte, dann bist du an ihm vorbei, sagte ich mir vor. Je näher ich ihm kam, desto größer wurde meine Anspannung. Doch nun war es endlich soweit: Ich ging direkt an ihm vorbei. Ich spürte eine Kraft zwischen uns, die mich an ein elektrisches Hochspannungsfeld erinnerte. Ich roch den Duft seines Parfums, das mich an eine schöne Blumenwiese und rote Gummibärchen denken ließ und sah seine rehbraunen Augen, die in meine blickten. Ich sah uns in Gedanken im Regen stehen und uns leidenschaftlich küssen. Ich wollte ihn in diesem Moment einfach nur, wenn nötig auch nur „zufällig“, berühren, doch ich traute mich nicht. Außerdem spürte ich meine zitternden Hände gar nicht mehr, da die tauben Handgelenke sie für mich verschwinden ließen. Ich machte den letzten Schritt in das Klassenzimmer hinein. Drinnen angekommen spürte ich die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern und legte meine zittrige Hand darauf. Mit der anderen holte ich den Turnbeutel aus dem Kasten. Dabei blickte ich erneut zur Türe, als mir plötzlich ein Gedanke kam: Wie sollte ich es wieder nach draußen schaffen ?