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Rote Flut
Der Investor war ein junger Mann. Jünger als Günther, aber was hieß das schon? Günther war alt. Aus grau wurde weiß, Strähne für Strähne. Wenigstens hatte er sie behalten, seine Haare. Wer wusste, wie lange noch? Manche erzählten, die Termiten sammelten Skalps.
„Es freut mich, Sie endlich mal kennenzulernen.“ Der Investor bot ihm die Hand. Günther packte sie und drückte zu. Sein Leben lang hatte er mit den Händen gearbeitet.
„Au!“ Der Investor lachte. „Starker Mann.“
Günther fühlte sich dumm. Ein sehniger Unterarm gegen Köpfchen und Kohle. Geld hatte den längeren Atem, als wüsste das nicht jeder. Wenn seine Hand jetzt allerdings nach diesem dünnen Hals griff und zudrückte, der Kehlkopf wie eine Pflaume in seiner Faust, das könnte klappen.
„Sie haben ganz schön was losgemacht.“ Der Investor klatschte leisen Beifall. „Robin Hood.“
Günther schüttelte den Kopf. „Wir wohnen hier seit vierzig Jahren.“ Kurz drehte er sich um zum Haus. „Deshalb.“
Der Investor schob die Unterlippe nach vorn und spielte mit dem Zeigefinger daran. „Eine Bruchbude. Wenn Sie mich machen lassen, wird aus diesem Loch wieder ein Zuhause.“ Er faltete die Hände wie zum Gebet. „Es muss doch nicht sein.“
„Wenn wir Sie machen lassen, sitzen wir auf der Straße.“
Der Investor seufzte. „Man könnte auch einfach besser haushalten. Weniger rauchen, weniger trinken.“ Er stieg auf das Fahrrad, das er gegen das Haus gelehnt hatte. Neu dürfte es drei bis vier Monatsmieten kosten, schätzte Günther.
„Gut wohnen hat seinen Preis.“ Als würde er die Graffiti studieren, die Bandenembleme, die Pimmel, die Kuh mit Fedora und Thompson-Maschinengewehr, sah der Investor am Haus empor. „Ich kann Sie wirklich nicht umstimmen? Mit einer Prämie vielleicht?“
Günther schüttelte nicht mal mehr den Kopf. Der Investor zuckte die Schultern. „Wenigstens kann ich allen sagen, dass ich es versucht habe.“
Diesmal nahm Günther die Hand nicht. Der Investor zog sie zurück. „Sie sind nicht Robin Hood“, sagte er. „Wie Sie Ihre Frau da mit reinziehen.“
Er setzte seinen Helm auf und trat in die Pedale. Günther kratzte sich an der Wange. Dieser Drecksack mit seinem Fahrrad und das in dieser Gegend. Wo waren sie mit ihren Knüppeln und Messern, wenn man sie brauchte? Robin Hood am Arsch.
Edit wartete im Treppenhaus. Günther wollte ihre Wange küssen, aber sie brachte die Hand zwischen sich und seine Lippen.
„Was hat er gesagt?“
Günther ging weiter, blieb im Türrahmen der Wohnung stehen und drehte sich zu ihr um. „Was denkst du?“
Sie sah nach unten. Vier Stockwerke. Drei über ihnen. Alle leer. Alle hatten aufgegeben. Alle hatten Angst. „Dann lass uns gehen. Wir haben es versucht.“ Sie kniff die Augenlider zusammen. „Warum grinst du?“
„Das hat er auch gesagt.“
„Wie bitte?“
Günther winkte ab. „Nicht so wichtig.“ Er machte eine Geste, als würde er sie zum Tanz auffordern. Warum hatten sie eigentlich so lange nicht mehr getanzt? „Komm rein.“
Sie saßen auf dem Sofa, ihr Kopf an seinen Schultern. Bilder an den Wänden. Bergen in Norwegen, seine Eltern. Edits nicht. Immer nur Streit, weil sie als Lehrerin diesen Hilfsarbeiter geheiratet hatte.
„Wir finden was.“ Sie strich durch sein grauweißes Stippgrütze-Haar. Er nahm ihre Hand.
„Tun wir nicht. Wir schlafen auf der Straße. Und du mit deiner Lunge.“
Er sah zum Fenster, als würden die Termiten von dort kommen, hier oben im Vierten. Ausgeschlossen war das nicht. Nicht mehr. Einige waren kaum noch als Menschen zu erkennen, sagten die Leute. Flügel hatten sie wohl noch nicht, aber Krallen. Hieß es. Der Abfall aus den Laboren. Für die Armee zu unberechenbar. Manche sagten auch, sie kletterten übereinander, um die Wände hoch zu kommen. Genau wie ...
„Wir bleiben.“
„Sie kommen.“
Er packte sie vorsichtig an den Schultern. Fühlte Knochen. „Kann sein.“ Er lächelte. „Sollen sie kommen.“
Der Grund für seine Zuversicht hatte 105 Zentimeter Schwertlänge bei 8,4 PS und lag auf dem Wohnzimmertisch. Ein uraltes Modell. Der Schriftzug auf der Klinge war kaum noch lesbar. Er hatte die Husqvarna im Keller gefunden, dort zurückgelassen zusammen mit Fahrräder mit gerissener Kette, Fernseher mit gesplitterten Displays und Telefone. Telefone über Telefone.
„Es wird klappen, weil sie keine Gegenwehr kennen.“ Er legte die Hand auf den vorderen Griff, als wäre es der Kopf eines treuen Hundes. „Wenn ihnen das klar wird, werden sie wieder abziehen.“
Edit hustete in ein Taschentuch und steckte es schnell wieder weg, damit er die roten Punkte nicht sah. Er sah sie jedes Mal. Auf die Straße, dachte er. In den Regen, in den Wind. Zu den Knüppeln.
„Wir haben schon lange nicht mehr getanzt.“
Ihr Blick ging von der Säge zu ihm. „Was?“
Günther machte Musik auf dem Telefon an. Was Schönes von früher. Er nahm Edits Hände und zog sie an sich, legte ihre Arme um seine Hüfte. Um den Hals würde sie sie nicht lange halten können. Sie tanzten. Ihre Füße bewegten sich kaum, aber sie tanzten. Take on me.
Als es dunkel wurde, machte er das Licht an im Treppenhaus. Der Strom war nicht abgestellt. Früher hatten Investoren so versucht, die Häuser zu räumen. Oft hatten sie dabei den Willen der Mieter unterschätzt. Gerade, als es draußen immer schlimmer wurde. Die Banden und die Bekloppten. Ein langwieriges Spiel. Strom abstellen, Heizung abstellen. Holte man eben die dicken Decken raus. Heute gab es die Termiten. Die brauchten eine Nacht, nicht mal die ganze.
„Du stehst da wie Siegfried.“ Edit kam die Treppe runter. Sie hustete.
„Bleib in der Wohnung“, riet er ihr. „Wer ist Siegfried?“
Sie lächelte mit Blut auf den Lippen. „Die Nibelungen? Der Lindwurm.“
Günther verdrehte die Augen. „Auf meinem Grabstein steht mal ein Text und auf deinem die Anmerkungen dazu, wo ein Komma hin muss und so was.“
Sie wischte sich das Blut von den Lippen und lachte. Ihre Hand ging zur Brust. „Au! Oh Gott, hör auf!“
Er legte die Säge auf den Boden und nahm sie in die Arme, als würde das irgendwas bringen. Sie hustete Blut auf sein Hemd. Ihre Augen tränten. Vom Lachen, hoffte Günther, aber er wusste, sie weinte auch wegen der Schmerzen. Als ihr rasselnder Atem sich beruhigt hatte, fragte er sie, ob alles in Ordnung sei.
„Bring mich nicht zum Lachen“, sagte sie. „Oder zum Atmen.“ Sie lachte. „Au! Scheiße!“
„Das warst du selbst.“
Sie schlug ihn gegen die Schulter. Wie schwach sie war. Günther rieb trotzdem die Stelle, an der sie ihn getroffen hatte. „Du spinnst wohl!“
Mit dem Blut auf den Zähnen sah sie aus wie ein Vampir, und trotzdem hüpfte sein Herz beim Anblick ihres Lächelns. Hüpfte noch immer. Hatte nie aufgehört zu hüpfen.
„Der nächste geht auf die Nase.“ Sie ballte ihre dünnen Finger zur Faust.
„Das will ich sehen, Frau. Ich ...“
Es klopfte an der Tür. Ein Mal, kurz und kräftig. Er strich Edit über die Wange. „Geh nach oben. Ich mach das.“
„Ich bleibe. Allein lässt du das Wasser anbrennen.“
„Edit, bitte.“
„Danke.“ Sie griff in die Rocktasche und zog das große Schlachtermesser hervor. Das letzte Fleisch, das die Klinge zerteilt hatte, war vom Schwarzmarkt gewesen. Dabei war seine Frau Vegetarierin, schon seit Jahren. Nur für ihn nahm sie das Messer noch in die Hand. Hier und jetzt würde sie es nicht wieder einstecken. Er sah es in ihren Augen und küsste sie auf die Stirn.
Bumm.
Etwas knackte im Rahmen. Das zweite Klopfen war ein kräftiger Hieb. Günther zuckte zusammen. Edit sah ihn an. „Sollen sie kommen.“
Er nickte und öffnete die Tür.
Der knallrote Arbeitsanzug. Rote Handschuhe, rote Stiefel. Die Termiten trugen Uniform, als rote Flut stürmten sie die Häuser. Im Netz gab es Bilder und Videos davon, wie sie alles kurz und klein schlugen. In einem packte eine Termite ein Baby bei den Beinen und schmetterte den kleinen Kopf gegen eine Laterne. Es war weit weg und dunkel und hatte keinen Ton. In den Kommentaren sagten einige, es sei nur eine Puppe. Oder etwas ganz anderes. Aber sicher wusste es keiner.
Es war das erste Mal, das Günther ein Termitengesicht aus der Nähe sah. Direkt vor sich. Dicke blaue Adern und Venen zogen sich von der Stirn bis zum Kinn, als blitze es unter der Haut. Die Augen schimmerten grünlich, auch da, wo sie eigentlich weiß sein sollten.
Die Termite betrachtete Günther mit Neugierde. „Hi.“ Ihr Atem roch nach Eiern. „Wir fangen gleich an.“
Günther schüttelte den Kopf. „Wir wohnen hier.“
Die Termite grinste und entblößte dabei gelbe Zahnruinen. „Hier wohnt keiner mehr.“
„Wir bleiben.“
Der späte Gast blickte nach rechts und links, so als stünde dort ein Übersetzer für Günthers Worte. „Wir räumen alles raus, was noch da ist. Alles.“
Günther bückte sich nach der Husqvarna. Die Spitze zeigte auf die Termite.
Sie lachte. „Ernsthaft?“ Sie machte einen Schritt nach vorn, so dass die Säge ihren Bauch berührte. Als sie versuchte, noch einen Schritt weiter zu gehen, hielt Günther dem Druck stand. Sein Finger krümmte sich um den Gashebel. Die Augen der Termite weiteten sich. Schließlich machte sie einen Schritt zurück und grinste wieder. „Dann eben so.“
Die Termite warf den Kopf zurück und riss den Mund auf wie eine Anakonda, die zum Fressen den Kiefer ausrenkt. Ein Laut brach aus diesem Schlund in die Nacht. Eine Sirene. Günther wollte die Hände auf die Ohren pressen, aber er brauchte sie jetzt an der Säge. Es ging los.
Schritte. Arbeitsstiefel auf dem Asphalt, immer mehr. Gesichter erschienen hinter der ersten Termite, drängten nach vorn, wollten ins Haus. Die Säge drückte sich tiefer in den Bauch des Herolds.
„Wartet!“ rief er, aber die Termiten taten das, wofür man sie fürchtete. Einmal in Bewegung gesetzt, waren sie nicht mehr zu stoppen.
Günther warf die Husqvarna an. Die Termite glotzte, als die Säge sich in ihren Bauch fraß. Die weichen Teile waren nicht der Rede wert und auch die Knochen hatten der rasenden Kette voller kleiner Klingen wenig entgegenzusetzen. Wie aus einer Sprinkleranlage spritzte Günther und den umherstehenden Termiten das warme Blut ins Gesicht. Einigen schien das zu gefallen. Manche waren Kannibalen, hieß es. Auch von ihren Gelagen gab es dunkle Wackelvideos.
Eine der Termiten sah zu Günther hoch und fauchte ihn an. Sie ging gebückt und versuchte, sich an seinen Beinen vorbei ins Haus zu schieben. Er konnte sie mit der schweren Säge nicht schnell genug stoppen, womöglich hätte er sich das Blatt sonst selbst ins Bein getrieben.
„Edit!“
Mit ihrer Schweißerbrille sah die Termite aus wie eine Fliege in einem Theaterstück für Kinder. Edit zielte mit dem Messer auf eines der schwarzen Gläser, glitt aber ab und traf die Wange darunter. Das Blut floss in den offen stehenden Mund der Termite. Sie schien überrascht.
„In den Hals!“, rief Günther, und genau da versenkte Edit den Stahl als nächstes.
Die Klingen drangen durch Haut und Knochen, aber die Termiten hatten einen gewaltigen Vorrat daran mitgebracht. Eine rote Pfütze breitete sich aus und Günther musste darauf achten, nicht auszurutschen. Die Säge verlor Benzin, Günther verlor Kraft, Edit hatte ohnehin nicht zu viel davon gehabt. Der Druck dagegen stieg sogar.
Die nächste Termite gelangte ins Haus, wieder vorbei an seinen Beinen. Es war ein Mädchen, noch ein Kind. Sie hatte eine Glatze und Bakterien hatten ihre Wange zerfressen wie Motten ein Hemd. Durch die Löcher sah Günther die Zunge im Mund umherschlackern.
Das Mädchen stürzte sich auf Edit, die ihr Messer kaum noch halten konnte. Günther schrie, wütend und ratlos und voller Angst um sein Mädchen. Wenn er den Eingang aufgab, war das das Ende.
Er fuhr herum mit der Säge, wollte der jungen Termite den kleinen Glatzkopf abschneiden, aber sie duckte sich. Vielleicht sah sie mehr als nur das, was ihre Augen ihr zeigten. Günther konnte den Schwung seiner schweren Waffe nicht mehr bremsen. Die Säge fraß sich tief in Edits Arm. Die Finger klammerten sich noch einmal fest um den Griff des Messers, dann fiel es auf den Boden.
Edit bekam keine Luft zum Schreien, ihr Mund ging lautlos auf und zu wie in einem Stummfilm. Die Termiten fluteten das Haus, schwappten über sie beide hinweg. Im Gedränge riss die Haut, an der Edits Arm hing.
Sie trugen seine Frau nach draußen. Er hörte Ansätze seines Namens, als sie versuchte, nach ihm zu rufen. Eine kalkweiße Termite ohne Fingernägel hob den Arm auf und lief damit den anderen hinterher, als wäre er aus einem Umzugskarton gefallen.
Von den ersten Händen, die nach ihm griffen, konnte sich Günther losreißen. Dann wurdenes zu viele. Er spürte, wie seine Füße vom Boden abhoben, als sie ihn auch rausbringen wollten. Eine große, blonde Termite hob die Hand. Statt einer Nase hatte sie zwei Schlitze im Gesicht. Günther konnte nicht sagen, ob es Mann oder Frau war. Ob das überhaupt Bedeutung hatte bei den Termiten.
Das Ding nahm die Husqvarna und musterte sie anerkennend. Blut tropfte von der Klinge auf den Boden.
Die Schlitznase bedeutete den anderen, Günther fester zu packen. Er zog und riss und wehrte sich, aber jedes seiner Gliedmaßen wurde von zwei Termiten gehalten. So konnte er nur schreien, als die Blonde die Säge wieder anwarf und ihm das Blatt durchs linke Bein trieb. Beim Knochen änderte sich das Geräusch.
Eine der Termiten, die das Bein gehalten hatten, verschwand damit. Der Blick der Nasenlosen ruhte kurz auf dem roten Loch mit weißem Punkt in der Mitte, das ihre Arbeit hinterlassen hatte. Dann setzte sie die Klinge am rechten Oberschenkel an.
Was von Günther blieb, konnte sogar das Glatzenmädchen allein auf die Straße tragen. An dem einen Arm, den er noch hatte, hielt sie ihn wie eine kaputte Puppe. Sie warf ihn auf einen Lastwagen, auf einen Haufen aus Sofas, Tischen, Gläsern, Bildern. Reste.
Wenigstens hatte sie ihn auf denselben Wagen geworfen wie Edit. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen und Take On Me zu summen, während das Leben ihnen aus den Stümpfen floss. Die Termiten machten einfach weiter.
Nicht mal die Nacht brauchten sie.