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Rotbart, der Blutige
Rotbart der Blutige war ein Pirat. Mit seinem Schiff, der „Amalia“, machte er mit seinen Männern die Nordsee unsicher und überfiel jedes Schiff, was seinen Weg kreuzte.
Eines Tages — sie hatten schon längere Zeit in einer Flaute festgesessen und die Stimmung war dementsprechend angespannt — traf Rotbart auf ein englisches Frachtschiff.
Piet rief vom Ausguck herunter: „Schau dir den Kahn da vorne an! Der hängt so tief im Wasser, der ist bestimmt randvoll mit Gold und Juwelen!“
Rotbart spuckte aus und knurrte: „Bald nicht mehr.“
Er überquerte das Schiff und ging zum Heck, wo Klaus, sein Steuermann, das Ruder fest in der Hand hielt. „Klaus, du alte Scholle, halt dich an den Kutter da. Den holen wir uns!“
Klaus nickte und drehte das Steuerrad und die „Amalia“ drehte sich ächzend in Richtung des englischen Schiffes. Rotbart spürte, wie ihn die Aufregung durchströmte. Bald würden sie alle reich sein und konnten den Abend im sicheren Hafen bei Piet in seiner Kneipe „Zum toten Fisch“ verbringen. Doch jetzt war erst einmal volle Konzentration gefragt.
„Männer! Alle auf Position! Klarmachen zum Entern!“, tönte es aus seinem Mund über das Deck.
Sofort begaben sich alle auf ihre Posten. Man hörte das Rumpeln der Kanonen, die an die Schießscharten geschoben wurden und das Poltern der Kanonenkugeln, als sie an Deck gerollt wurden. Der englische Frachter war nur noch eine Seemeile von ihnen entfernt. Klaus schlug das Steuer erneut ein, sodass die „Amalia“ dem englischen Frachter langsam ihre Breitseite zeigte. Rotbart marschierte in seine Kajüte. Er ging zu einem Schrank, zog die knarrenden Türen auf und griff nach den beiden Pistolen, die dort in einer Kiste lagen. Er lud sie mit schnellen und geübten Bewegungen durch und steckte sie in seinen Gürtel. Dann zog er eine Schublade auf und holte dort vorsichtig einen Dolch hervor. Er wog ihn kurz in seinen Händen. In den Griff war ein Totenkopf hineingeschnitzt. Er zog die Klinge aus der Lederscheide und sie blinkte wie frisch poliert. Rotbart schob die Klinge wieder zurück und befestigte den Dolch ebenfalls an seinem Gürtel. Dann begab er sich wieder an Deck.
„Kanonen laden, ihr Schnecken! Los, los, los!“, brüllte er.
Das Frachtschiff war nun fast direkt neben ihnen. Sie mussten sich beeilen, sonst würde ihnen die Beute durch die Lappen gehen.
„Aaachtung!“, befahl er: „Und Feuer!“ Es krachte und kurz darauf barsten die Balken des englischen Frachters. Die gegnerische Mannschaft war vor Schreck wie gelähmt. Sie schienen unbewaffnet zu sein. Rotbart grinste grimmig.
„Die Enterhaken!“, schallte sein Ruf. Seine Männer griffen zu den Seilen mit den metallenen Haken, schwangen sie und schleuderten sie zum anderen Schiff. Dann zogen sie sich mithilfe der Seile an ihre Beute heran. Es sah aus wie ein einstudiertes Ballett. Rotbart nahm Anlauf und sprang hinüber auf das Schiff ihres Opfers. Auf einmal kamen Männer in Uniformen aus den Kabinen hervor, die Musketen im Anschlag. Doch sie hatten noch nicht einmal die Möglichkeit, Luft zu holen, da lagen sie schon von Kugeln durchlöchert auf den Planken. Rotbart und seine Männer waren viel zu stark. Sie schossen alles nieder, was ihnen in den Weg kam. Bald hatten sie das Schiff geentert.
Rotbarts Mannschaft kletterte in die Frachträume, um die wertvolle Ware zusammenzuraffen, bevor das Frachtschiff unterging. Die Kajüte des Kapitäns jedoch war immer dem Anführer vorbehalten. Mit entschlossener Miene stapfte Rotbart auf die Tür zu und schmiss seinen gewaltigen Körper dagegen. Das Türblatt zerbarst und Splitter flogen durch die Gegend. Rotbart trat ein. Die Kajüte war nur spärlich beleuchtet und er musste durch einen kurzen Durchgang, bevor er in das Heiligtum des Schiffes eintrat, welches nochmals durch eine Tür abgetrennt war. Die Tür war jedoch angelehnt. Rotbart stieß sie auf und betrat die Kajüte.
Die Fenster waren klein und vor manchen waren die Vorhänge zugezogen. Auf der linken Seite des Raumes stand ein Schreibtisch, auf dem ein Fernrohr aus Messing und ein Sextant lagen. Daneben befand sich ein Stapel mit Briefen sowie ein Federhalter und ein Fässchen mit Tinte. Die Schubladen des Schreibtisches waren verschlossen, aber der Schlüssel hing an einem Nagel an der Wand. Rotbart sah sich weiter um. Irgendetwas war anders an dieser Kajüte. Er wusste nicht, was es war, aber es sorgte dafür, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Ihm gegenüber war das Bett des Kapitäns. Die dünne Decke war zerknüllt und das kleine Kopfkissen war in eine Ecke gestopft. Auf dem Regal über dem Bett stand ein Wecker und daneben lagen mehrere Bücher. Am Fußende des Bettes stand ein weiteres Regal mit einer Kapitänsuniform, allerdings ohne Mütze.
Auf einmal fragte eine Stimme: „Was machst du da?“
Rotbart fuhr herum. In der Ecke hinter der Tür saß eine alte Frau in einem Schaukelstuhl. Ihr schlohweißes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden. Sie musste an die 100 Jahre alt sein. Die Haut der Frau war so faltig wie Rotbarts Lederstiefel. Sie war dünn, fast so als habe sie eine Krankheit oder schon länger nichts mehr zu essen bekommen. Sie trug ein Kleid und eine Schürze und hatte eine Decke über ihre Schultern gelegt. Ihre warmen braunen Augen strahlten ihn aus ihrem faltigen Gesicht an.
„Was du da machst, habe ich dich gefragt!“ Die Stimme der Frau war brüchig, aber trotzdem erstaunlich kräftig.
Rotbart besann sich und gab zurück: „Was geht Sie das an? Wer sind Sie überhaupt?“ Er machte einen Schritt auf sie zu, aber die Frau regte sich nicht.
„Erkennst du mich nicht? Warum tust du das hier?“
Rotbart stutzte. „Warum tue ich was?“, fragte er.
Die Frau wirkte so, als wäre Rotbart etwas begriffsstutzig. „Warum überfällst du dieses Schiff? Warum bestiehlst du unschuldige Kaufleute?“
Rotbart überlegte. Das hatte ihn noch niemand gefragt. Normalerweise winselten Matrosen eher um Gnade als ihn zu fragen, warum er sie überfallen hatte. Aber diese Frau war definitiv kein Matrose. Rotbart wiederholte die Frage noch einmal in seinem Kopf. Da war tatsächlich ein Grund. Nicht der Wille nach Reichtum oder die Abenteuerlust hatten ihn hierhin gebracht.
„War es wegen einer Frau?“ Die Alte sah ihn neugierig an. Rotbart nickte langsam.
Er hatte sie in Hamburg kennengelernt. Er, Robert, war ein 20-jähiger Medizinstudent. Es hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet, seine Eltern davon zu überzeugen, dass er seine Zukunft nicht zwischen Kühen und Schweinen sah. Sein Vater hatte sich tierisch darüber aufgeregt und ihm eine Standpredigt gehalten, in der von Tradition, Kontinuität und Familie die Rede war. „Dein Urgroßvater war Bauer, dein Großvater und dein Vater waren es auch und du wirst kein Kurpfuscher werden! Das verbiete ich dir!“ Robert hatte sich alles angehört und genickt. Zwei Tage später hatte er seine Sachen gepackt und ging, als seine Eltern gerade auf dem Feld arbeiteten. Es war nich leicht gewesen, als Landei in Hamburg Fuß zu fassen, doch er hatte diesen Traum und nichts und niemand würde ihn davon abhalten könne, ihn umzusetzen. Schon bald hatte er Freunde gefunden. Mit diesen Freundn war er auch damals in einer Kneipe gewesen. Sie war dort ebenfalls. Roberts Blick war direkt an ihr hängengeblieben und er musste sich beherrschen, sie nicht die ganze Zeit anzustarren. Sie arbeitete als Bedienung in der Kneipe und Robert hatte sich auf den ersten Blick unsterblich in sie verliebt. Ihr Name war Anni, das hatte er schon herausgefunden. Sie war schlank und hatte langes blondes Haar, welches meistens zu einem Zopf zusammengebunden war. Ihre braunen Augen strahlten selbst dann noch, wenn einer der Kneipenbesucher wieder ausfällig wurde. Auf ihrer rechten Wange prangte ein kleines Muttermal. Zwei Wochen lang verbrachte er jeden Abend dort in dieser Kneipe und beobachtete sie. Jedes Mal, wenn er sie sah, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und fragte sie mit wackeligen Knien, ob er sie zum Essen ausführen dürfe. Sie lächelte ihn nur an und erwiderte: „Ich warte schon seit zwei Wochen darauf!“ An diesem Abend kam Robert mit einem breiten Grinsen zurück in sein Zimmer und seine Vermieterein, eine alte Frau, die in Geld nur so schwamm, fragte ihn, ob ihm jemand die Backen an die Ohren genöht hatte.
Schon bald waren sie ein Paar. Sie verbrachten jeden Tag miteinander, wenn Robert nicht gerade in der Universität war. Wenn Anni arbeitete und Robert zu Hause auf sie wartete, vermisste er sie unsterblich. Sie strahlte so eine Freude aus, dass Roberts Leben hell erleuchtet wurde, wenn sie in seiner Nähe war. Ihr Lachen, das wie plätscherndes Wasser klang, riss jeden mit. Es war einfach perfekt. Und irgendwann nahm Robert noch einmal all seinen Mut zusammen. Er ging zu einem Goldschmied und ließ sich zwei Ringe anfertigen. Dafür brachte er all sein Erspartes auf. Eines Tages, als sie durch einen Park schlenderten, kniete Robert vor ihr nieder: „Anni, als ich dich kennengelernt habe, warst du für mich das wunderschönste Wesen auf dieser Erde. Jetzt bist du noch schöner geworden. Jeder Tag, den wir miteinander verbringen, ist für mich kostbarer als ein Sack voll Gold. Willst du meine Frau werden?“
Anni strahlte ihn mit ihren braunen Augen an. Dann fiel sie ihm um den Hals: „Ja, Robert, das will ich!“
Die Hochzeit war einer der schönsten Tage in Roberts Leben. Es war ein sonniger Tag im Mai. Sie feierten nicht groß, nur ein paar Freunde und Bekannte kamen in die Kirche, als sich Robert und Anni das Ja-Wort gaben. Auch Piet, der Besitzer der Kneipe, in der Anni arbeitete, war gekommen und lud sie danach alle zum Essen ein. Es war ein wunbderschöner Tag und sie aßen, tranken und feierten bis tief in die Nacht.
Dann, eines Tages, verschwand Anni. Drei Wochen suchte er ununterbrochen. Er schlief kaum noch, aß nicht mehr, sondern suchte nur noch nach Anni. Doch irgendwann sah er ein, dass Anni ihn wahrscheinlich verlassen hatte. Vielleicht ein neuer Geliebter, mit dem sie abgehauen war, oder sie wollte einfach nur weg. Er war am Boden zerstört und versank in tiefer Trauer. Er ging nicht mehr zur Universität, verließ nicht einmal mehr sein Zimmer, in dem er zur Untermiete wohnte. Sein Herz war in zwei Hälften zerbrochen. Irgendwann musste er das Studium abbrechen. Er versuchte sich als Tagelöhner durchzukämpfen, aber das Geld reichte hinten und vorne nicht. Eines Tages spazierte er durch den Hafen, als ihn ein bärtiger Kapitän ansprach: „Hey, du da. Willst du reich werden?“ Erst hatte Robert Bedenken gehabt, doch die waren schnell beseitigt. Was hielt ihn noch hier? Richtig: nichts und niemand. Und so heuerte er auf dem Piratenschiff des bärtigen Kapitäns an, der sich übrigens Alrich nannte. Und sein Schmerz und sein Zorn ließen ihn zum brutalsten Piraten werden, der je seinen Fuß auf ein Schiff gesetzt hatte. Nach zwei Jahren war er Kapitän, nachdem Alrich, der ihn angeworben hatte, eines Nachts sturzbetrunken über Bord gegangen und ertrunken war. Und so räuberte sich Robert, der sich inzwischen Rotbart, der Blutige nannte, durch die Nordsee. Bis heute.
Auf einmal weiteten sich seine Augen. Die alte Frau war Anni! Natürlich, ihre Augen, der Zopf — aber wieso war sie so alt? War sie krank? Fragen über Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: ihre Mutter. Rotbart erinnerte sich noch, wie Anni eines Abends davon erzählte, dass ihre Mutter sehr krank sei. Er hatte dieser Tatsache nicht viel Beachtung geschenkt. Sollte Anni Hilfe benötigen, dann würde sie ihn schon fragen. Wie herzlos das von ihm gewesen war, fiel ihm jetzt erst ein. Dann erinnerte er sich an einen seiner vielen Abende bei Piet, nachdem Anni verschwunden war. Robert hatte wieder viel getrunken und saß als einer der letzten an der Theke. „Mensch, Piet“, hatte er damals gelallt: „Das mit den Frauen ist doch immer das gleiche. Erst schöne Augen machen und dann abhauen.“ Piet hatte ihn nur angesehen. Dann hatte er ganz ruhig gefragt: „Hat sie dir nie von ihrer Mutter erzählt? Wahrscheinlich musste sie dringend zu ihr.“ Roberts einzige Reaktion war, dass sein Kopf auf den Tresen fiel und er anfing zu schnarchen.
Auf einmal wusste Rotbart, wo Anni war.
Als er der alten Frau antworten wollte, war sie verschwunden. Auf dem Schaukelstuhl lagen nur eine Decke und eine Schürze.
Rotbart verließ die Kajüte. Seine Mannschaft wartete bereits auf ihn. Sie hatten fleißig die Goldbarren von dem englischen Schiff geholt. Wie sich später herausstellte, war das Gold von einem englischen Kaufmann gewesen, der mit fernöstlichen Gewürzen handelte und damit ein Vermögen gemacht hatte. Rotbart sagte kein Wort. Nach zwei Tagen kamen sie im Hafen an. Nachdem Rotbart jedem seiner Männer ihren Anteil an der Beute gegeben hatte, verließ er die „Amalia“ und verschwand. Er musste Anni finden. Es war keine Alternative, vor seinen Sorgen wegzulaufen. Anni war verschwunden, aber er, Robert, war fest davon überzeugt, sie finden zu können. Er griff in seine Hosentasche. Darin befand sich ein kleiner runder Gegenstand. Er holte einen goldenen Ring aus seiner Tasche und steckte ihn auf seinen Finger. Dann machte er sich auf den Weg zu der Adresse, die er von Piet bekommen hatte.