Werdendes Mitglied
- Beitritt
- 01.01.2017
- Beiträge
- 8
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Rot
Ihr Atem waberte als milchig weisser Dampf vor ihrem Gesicht und sie klappte den Jackenkragen hoch. Selbst der Herzanhänger aus rotem Glas strahlte Kälte aus, obwohl sie ihn direkt auf der Haut trug. Sie richtete den Blick nach vorne und beschleunigte ihren Schritt. Wieder einmal hatte sie Überstunden gemacht, so dass es schon dunkel war, als sie die letzten Unterlagen für den morgigen Tag in ihre Mappe legte. Jetzt wollte sie schnellstmöglich nach Hause. Die Dunkelheit strich an den Hausmauern entlang und schien Augen zu bekommen... Ausser der Frau waren nur wenige Passanten unterwegs, Nachzügler aus dem Büro wie sie, ein paar unerfahrene Touristen und mehrere Nachtschwärmer. Sie fragte sich, wie sie sie wohl wahrnahmen. Als verschwommenen grauen Schatten? Als normale Büroangestellte? Als graue Maus? Vielleicht sahen diese Leute in ihrer verhärmten Gestalt mit den glanzlosen braunen Haaren auch nur eine wie sie selbst, eine unter Millionen. Dann hatte sie die Busstation erreicht und stellte sich zu den anderen Wartenden. Der Bus kam bald, sie stieg ein, setzte sich und lehnte ihren Kopf gegen die beschlagene Fensterscheibe. Das beruhigende Vibrieren des Motors schwoll an, als der Bus losfuhr und sie wegbrachte.
Obwohl der Bus beheizt gewesen war, fror sie noch immer, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg und die Tür aufschloss. Sie trat ein und nahm eine ihr unbekannte Duftnote wahr, unglaublich schwach, aber immer noch betörend. Ihr Ehemann hatte also wieder Besuch gehabt. Und da trat dieser auch schon aus dem Badezimmer heraus, wahrscheinlich hatte er sich den Lippenstift von den Wangen geschrubbt. Bestimmt würde sie wieder Berge von Taschentüchern im Müll finden, wenn sie den Eimer leerte, alle in verschiedenen Nuancen von Rot oder Pink gefärbt, alle durchtränkt vom süsslichen Geruch einer Frau. Und sie würde schweigen und den Müll rausbringen.
Ihr Mann hatte sie inzwischen begrüsst, förmlich fast, nur ein Küsschen auf die Wange. Sie erlaubte es ihrer Enttäuschung nicht, sich in ihrem Brustkorb auszubreiten, lächelte ihrem Ehemann halbherzig zu und ging in die Küche. Unbewusst tastete sie nach dem roten Glasherz, ein Geschenk ihres Mannes, das noch aus besseren Tagen stammte. Als sie zum Kühlschrank ging, wäre sie beinahe über ein Paar achtlos hingeworfene Socken gestolpert. Sie hob sie mit spitzen Fingern auf und warf sie im Badezimmer in den Wäschekorb.
Sie schenkte sich ein Glas Milch ein und wollte sich gerade auf das Sofa setzen, als sie innehielt, den Blick auf das Foto ihrer geliebten Schwester gerichtet. Ihre geliebte Schwester, die an einem lauen Sommerabend vor über drei Jahren plötzlich über Bauchweh geklagt hatte. Am nächsten Tag war sie gestorben, multiples Organversagen, wie die Ärzte meinten. Jetzt stand ein während den Ferien in Italien aufgenommenes Foto in einem goldenen Rahmen auf der Kommode, ein Ehrenplatz, den nicht einmal ihr Mann anzurühren wagte. Bis zu diesem Zeitpunkt zumindest. Eine Flasche Wein stand nun da, die Fotografie war umgekippt, ebenso wie ein mit kirschrotem Lippenstift verschmiertes Weinglas direkt daneben, von dessen rubinrotem, wahrscheinlich unheimlich teuren Inhalt das Fotopapier durchnässt war. Jetzt war das lachende Gesicht ihrer Schwester gewellt und fleckig. Es schien, als würde diese nun fremde, gerötete Fratze sie auslachen.
Etwas klirrte. Scherben. Milch, die auf die Fliesen spritzte und sich in den Bodenfugen sammelte. Sie hatte nicht gemerkt, dass ihre Finger sich geöffnet hatten. Ihr Mann kam ins Zimmer und fragte, was denn los sei. Sie antwortete nicht, doch ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. Er bemerkte es nicht und kam näher, dann fiel sein Blick auf die von Wein durchtränkte Fotografie und er meinte, ob es an dem liege, "ist doch nur ein Stück Papier", und "das kann man doch wieder ausdrucken, ich mach es morgen für dich." Ihm fiel nicht auf, wie sich seine Ehefrau immer mehr verkrampfte, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte und wie sie die Zähne zusammenbiss. Er redete weiter, diesmal über die Bewerbungsgespräche, die er in den letzten Tagen geführt hatte. "Alle Stellen Zeitverschwendung, du weisst ja, wie das ist. Also eine Arbeit zu finden, meine ich. Aber ich gebe mir Mühe, morgen habe ich schon ein vielversprechendes Gespräch, ich bin mir sicher, dass die mich dort nehmen." Die Wände rückten näher, alles wurde eng, selbst ihre Haut. Ihr Mann hatte jetzt aufgehört zu reden, wahrscheinlich hatte er ihre Veränderung bemerkt. Er sah sie genauer an, fragte, was los sei, sie sehe so komisch aus, krank irgendwie.
Ihre Hand wanderte automatisch zu dem gläsernen Herzanhänger, dessen Kanten tiefe rote Furchen in ihre Handfläche gruben, als sie ihn umklammerte. Es schmerzte. Ein Ruck mit der Hand, das Knirschen der Kettenglieder, als sich der Anhänger losriss, eine ausholende Bewegung, das Klirren von Glas auf Fliesen und schliesslich Scherben. Schon wieder. Flammende, blutrote Splitter. Und dann schrie sie.