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Rot wie Schnee
Die Stille um mich herum, die Kälte... Ich fühlte mich einsam, leer und auf beruhigende Art so frei, wie ich es lange nicht mehr getan hatte. Der Schnee knirschte mit jedem Schritt unter meinen Füssen. Er hätte allen Grund dazu, mir beim nächsten Tritt zu entweichen, mich zu Fall zu bringen und zu verschlingen wie ein blutrünstiges wildes Tier, für immer unter sich zu begraben... und doch tat er es nicht.
Das Blut für heute schien ihm wohl zu reichen.
Dieses Ritual... Es hatte schon vor langer Zeit angefangen, ich war noch klein, da sagte mein Vater, ich solle beichten gehen. Ich hatte so etwas noch nie zuvor getan und ging hinaus, die ersten Schneeflocken des Winters wehten mir ins Gesicht. Es begann aufgrund einer kleinen Missetat – ich hatte meiner Schwester den Schokoladen-Nikolaus geklaut. Es war nichts, ich war schließlich noch ein Kind, aber es war eine Untat. Damals fühlte ich mich noch so schuldig. Ich rechnete mit dem Schlimmsten – Einer Woche Hausarrest oder hungrig ins Bett geschickt zu werden... Doch dann wurde mir die Sünde genommen und vergeben. Weiter nichts. Stundenlang saß ich in meinem Zimmer, lief hin und her, und versuchte es zu verstehen. Wieso wurde das Böse nicht bestraft? Wie konnte etwas so schlecht sein, wenn einem einfach so vergeben wurde?
Und seitdem ging ich jedes Jahr mit dem ersten Schnee zur alten Kirche.
Ich war ein guter Mensch, gab acht auf meine Mitmenschen und akzeptierte das Gesetz, auch wenn es viel zu viele Lücken aufwies. Doch jedes Jahr fand ich etwas zum Beichten. Auch wenn es nichts gab - ich suchte mir etwas. Es war zu einem Spiel geworden, dass ich sehr ernst nahm. Schließlich sollte man seine Gewohnheiten nicht einrosten lassen.
Mein ruhiger Atem kräuselte sich neblig vor meinen Augen. Ich hob meinen Blick und blieb stehen. Auf dem Hügel, der das Waldstück von dem Dorf trennte, angekommen, sah ich gleich das alte Gemäuer der Kirche. Ein sanftes, zufriedenes Lächeln legte sich auf meine Lippen, als ein vorfreudiges Kribbeln in mir emporstieg. Nichts hatte sich verändert.
Mit hochgezogenem Kragen und den Händen in den wärmenden Manteltaschen vergraben, tastete ich mir vorsichtig aber gekonnt den Weg hinunter. Der Boden war bereits dick mit einer weisen, unberührten Schicht bedeckt. Durch mein inneres Auge sah ich immer wieder blutige Schatten über sie zucken, sich hindurch fressen, als wolle es der Welt endlich sein wahres Antlitz zeigen, das tief unter diesem makellosen, hübschen Schleier verborgen lag. Ich war wohl wie er, mein Freund...
Das letzte Licht der untergehenden Sonne ließ das schneebedeckte Dach der Kirche wundervoll schimmern. Ich konnte es kaum erwarten, ihn wieder zu sehen. Ich glaube, der Pfarrer hatte Angst vor mir. Ich hoffte es. Es war ein gutes Zeichen. Wenn sich die blanke Angst in ihren Augen widerspiegelte... Es ließ sie verstehen. Was passieren wird. Dass es keinen Ausweg mehr gibt. Dann fangen sie an zu bereuen. Besser spät als nie, auch wenn es ihnen nicht mehr viel bringt. ...Jeder hat seine Leichen im Keller. Mich würden sie dort allerdings stören, deshalb lasse ich sie immer außerhalb verschwinden. Man will ja keine Beweise hinterlassen, sonst wäre es ja irgendwann kein Geheimnis mehr. Mit jedem Jahr wurde es düsterer. Spannender. Doch dieses Mal hatte mein Plan alles übertroffen. Ich war wirklich stolz auf mich und es machte mir Spaß.
Und schließlich war es für das Wohl meiner Mitmenschen. Wirklich, ich wollte nur das Beste für alle. Deshalb suchte ich mir auch nur böse Menschen aus. Leute, die das Wohl Anderer gefährdeten. Sünder. ...Ich musste wohl so etwas wie ein Held sein, dachte ich schmunzelnd. Es war schon fast ein wenig Schade, dass keiner von meinen guten Taten erfahren würde.
Das schwere Pochen schallte durch die große Halle und durchbrach die angespannte Stille wie ein unheilvolles Grollen. Ich klopfte mir die Schuhe ab, schob den Flügel der mächtigen Eingangstür einen Spalt auf und trat ein in die vergleichsweise unangenehm stickige Wärme.
„Ich bin wieder da.“ rief ich aufgeregt, als wäre ich gerade nach langer Zeit wieder nach Hause gekommen. „Herr Pfarrer?“
Ich schloss die Kälte draußen aus, die mir mit einem letzten, anspornen Windstoß zu folgen versuchte.
„...Ja, ich komme schon.“ hörte ich ihn schließlich von weiter hinten sagen. Ich lächelte glücklich. Er hatte Angst. Das war aber gar nicht nett.
Während ich meinen Mantel auszog, hörte ich schon die Schritte und sah ihn kurz darauf aus dem Nebenzimmer hinaustreten.
„Schön, Sie wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen?“ fragte ich und ging mit eifrigen Schritten auf ihn zu. „Es ist schon eine Weile her.“
Er war alt geworden – seine grau-weißen Haare waren weniger geworden, sein Gesicht sah eingefallen aus, seine Erscheinung müder. Dunkle Augenringe verrieten, dass er wohl schon längere Zeit nicht mehr gut geschlafen hatte. Ob er sich so auf mich gefreut hatte?
Er machte eine Bewegung zum Beichtstuhl, in seinem Gesicht zeigte sich Missmut, auch wenn er ein höfliches Lächeln aufgesetzt hatte. „Setzen Sie sich, Jack.“ brachte er einladend heraus, auch wenn wir Beide wussten, dass er es nicht so meinte. Dennoch nickte ich enthusiastisch, strich mir meine dunklen Haare zurück und glättete mir rasch das weiße Hemd, bevor ich die Kammer betrat und mich setzte.
Ich konnte nicht einmal abwarten, bis er zu reden anfing. Kaum hatte er sich gesetzt sprudelte es aus mir heraus.
„Ich habe wirklich lange überlegt, zu unserem 25. Jubiläum wollte ich etwas ganz Besonderes machen, und ich bin beinahe daran verzweifelt. Aber ich verspreche Ihnen, dieses Mal habe ich mich selbst übertroffen!“
Der Pfarrer erstarrte unmerklich. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. Aufgeregt wie ein kleiner Junge drückte ich meine Hände aneinander, wartete ungeduldig auf seine Reaktion. Voller Vorfreude biss ich auf meine Unterlippe.
Er brauchte ein paar Sekunden. „...Mein Sohn...“ begann er schwach. Seine Lippen zitterten. Und wäre er meinem Blick nicht ausweichen, hätte er gesehen, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. Jeder hat seine Geheimnisse...
Beinahe genießerisch holte ich Luft, als würde ich eine Rede beginnen oder etwas Wichtiges kundtun wollen.
„...Wie oft haben Sie gesündigt?“
Etwas irritiert auf meine unerwartete Frage hob er seinen Blick und sah mich an. Plötzlich wisch jegliche Farbe aus seinem Gesicht. Das, was er jetzt in meinen Augen sah, schien ihn wohl begreifen zu lassen.
„Ich habe gehört, Sie waren ein böser Junge."