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Rosengruß
Ich sehe dich noch immer vor mir wie einen Schatten längst vergangener Tage. Du siehst mich an aus deinen blauen Augen. Einst sah ich den Himmel darin, das Leben, dein Lachen. Jetzt ist da nichts mehr. Sie glitzern im Mondlicht, aber dein Blick ist fahl und leer.
Ich möchte dich fragen, was mit dir los ist, als mir klar wird, du bist nur eine Erinnerung. Jedes Flehen, Bitten, Betteln ist vergebens. Du kommst nie wieder zurück.
Ich beginne zu weinen, wenn ich an dich denke, an deinen leblosen Blick.
Und oft sehe ich diese Bilder vor mir.
Ich wusste genau, was mit dir los war, schließlich sah ich das schon so lange mit an. Doch ich konnte dich nicht daran hindern, es immer und immer wieder zu tun. Natürlich habe ich es versucht, mit Worten und schließlich auch mit Taten. Sie halfen nicht.
Du hast nie auf mich gehört. Wie konntest du auch? Ich bin deine große Schwester. Du wolltest schon immer eigene Erfahrungen machen. So war es auch dieses Mal.
Bei der ganzen Sache habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht: ich habe niemandem etwas gesagt. Ich schwieg viel zu lange.
Schon früh merkte ich, dass mit dir etwas nicht stimmte. Deine ständig zitternden Hände, der leere Ausdruck in deinen Augen. Du nahmst niemanden mehr war. Ich wollte mit dir sprechen, es war unmöglich.
Ich wunderte mich nicht, als ich eines Tages das Tütchen mit dem weißen Inhalt bei dir fand.
„Lass mich in Ruhe!“, hast du gesagt, „Du verstehst das nicht!“
Ich wusste, es war falsch, doch ich deckte meine Schwester.
Tage und Wochen, ja sogar Monate waren vergangen. Als ich eines Nachts aufwachte. Das Klingeln des Telefons klang schriller als sonst, durchdringender, fast warnend. Wenigstens kam es mir so vor. Vielleicht ahnte ich etwas.
Meine Stimme klang heiser und kratzig, als ich mich meldete.
Jetzt stehe ich hier und stille Tränen fließen mir die Wangen hinunter, tropfen auf meine schwarze Bluse, durchnässen ihren gestärkten Kragen, fallen zu Boden und gerinnen auf der trockenen Erde.
Ich nehme niemanden wahr, weder die Leute, die mir die Hand schütteln, mir Worte des Beileids zu flüstern, noch den kleinen kahlköpfigen Pfarrer, der leise andeutet nun deinen ewigen Platz der Ruhe zu verlassen und mich wieder dem Leben zu zuwenden.
Ein warmer Sommerwind weht mir ins Gesicht, versucht meine Tränen zu trocknen. Ich kann es verhindern, denn immer wieder benetzen Neue meine Wangen.
Kein Wölkchen trübt den Himmel. Die Vögel zwitschern ein fröhliches Lied.
Ich flehe im Stillen, die Sonne solle untergehen und die Welt in ewige Dunkelheit hüllen.
Sie scheint unbarmherzig weiter.
Ich sehe das Autowrack vor mir, kleine Rauchwölkchen steigen noch aus seinem zusammen geknautschten Kühler auf und verteilen sich in der Luft, und das Blut, dunkles Blut, das über die Straße verteilt ist. Und ich sehe den Baum, der jetzt von einer tiefen Narbe gezeichnet ist, doch ist sie nicht so tief wie die meinen.
Ich kann nicht atmen vor Trauer und bete, dass alles nur ein Traum ist, ein schrecklicher Traum und allein deshalb weiß ich: es ist keiner.
Ich werfe eine Rose hinab. Mit einem dumpfen Geräusch bleibt sie liegen auf dem braunen Buchenholz. Ich sage einen letzten Gruß, drehe mich um und verlasse dich.
Als ich mein Auto aufschließe lächle ich, denn ich weiß wir werden uns wiedersehen.