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Rosengrüße aus Damascus
Rosengrüße aus Damascus
Dimashq, Außenbezirk. Auf der Straße hektische Betriebsamkeit, hupende Autos, rastloses Gewimmel rund um die kleinen Lädchen, die sich eins neben dem anderen jenseits der Fließenmauer aufreihten. Aus dem Lautsprecher übertönten die Rufe des Muezzins den Lärm des chaotischen Treibens. Zum dritten Mal war ich hier, weil ich sie sehen wollte. Kennengelernt hatte ich sie ein Jahr zuvor auf meiner ersten Reise. Es war Zufall gewesen, möglicherweise ein herbeigeführter, aber es störte mich nicht, da mein Begleiter mich einfach auf die Feier mitgeschleppt hatte und dann nie wieder ein unnützes Wort darüber verlor. Anders als ihre Freundinnen, hatte sie sich nicht so sehr nach vorne gedrängelt, stattdessen unsichtbare Konfetti aus der zweiten Reihe in die Atmosphäre versprüht. Damals wollte sie für ihre Abiturprüfung lernen, doch sie klappte ihr Buch immer wieder nur zu.
Was mache ich hier? - ging mir durch den Kopf. Um mich herum flüsterten einige Männer etwas vor sich hin, andere knieten auf dem Teppich, Spiegel umlichteten den reich verzierten Schrein. Unter dem arabischen Gemurmel drangen gelegentlich auch persische Wortfetzen an mein Ohr.
Wer waren all diese Leute?
War dies etwa meine Heimat?
Was hatte ich von der Zukunft zu erwarten?
Warum gerade diese Rose?
Liebte ich sie wirklich, oder wollte ich nur einen strategischen Vorteil?
Oder wollte vielmehr sie einen Vorteil?
Vor meinem geistigen Auge wurde ihre Farbe undeutlich. Natürlich hatte sie ein hübsches Gesicht, liebliche Wangen und lächelnde Augen. Bestimmt war sie fleißig, und man erahnte ihre fürsorgliche Haltung, die sie am liebsten in einer baldigen Familie eingebracht hätte.
Gab es aber etwas Unverwechselbares an ihr, etwas Herausragendes?
Nun saß ich hier, am Heiligtum der Tochter des ersten Imams, und grübelte, ohne eine klare Richtung zu finden. Morgen würde mein vorerst letzter Tag in Damascus sein, und ich hatte sie gebeten, in die Altstadt zu kommen. Gedanken an eine vierte Reise konnten sich nicht recht einstellen, und jetzt wußte ich plötzlich nicht mehr, ob ich sie morgen überhaupt noch sehen wollte. Ich verfolgte die Lichteinstrahlungen an den Spiegeln vor mir, ohne irgendwas zu erkennen.
Sie kam nicht. Ihr älterer Bruder, mit dem ich fast die gesamten zwei Wochen fröhlich durch die Stadt gezogen war, kam an ihrer Stelle und teilte mir mit, sie hätte eine Vorlesung an der Uni und könne mich nicht verabschieden. Sie lernte deutsch. Verärgert, wütend und dennoch erleichtert, stieg ich ins Flugzeug. Das Gefühl der Belastung wich dem paradoxen Gedanken, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben.
Etliche Wochen später. Heimat. Besuch beim Imam. Als ich in sein Haus mehr oder minder unvorbereitet stolperte, traf mich der berühmte Pfeil: Lichtblitze seiner jungen Rose durchzuckten mein Gemüt, Kaliumionen rasten wirr durch die schwitzende Seele, während mein Herz vergaß, wer die Dampfmaschine erfunden hatte. Wenn es denn je einen Gott gab, dann hatte er die schönsten Farben der Natur für diese Kreation verschwendet, die derart unverhofft vor mir stand! Ein wohlige Vertrautheit verband mich augenblicklich mit der Märchenfee, so als würde ich sie schon ewig kennen. Zierlich wie eine hüpfende Gazelle, glitzerndes Funkeln in ihren Augen, eine atemberaubende Anmut zog mich gravitativ an. Widerstand zwecklos. Das ersehnte Etwas fiel aus heiterem Himmel, und jene Besonderheit, die mir am Fuße des Jebel Qasjun gefehlt hatte, brauchte keine Erläuterung mehr. Es wurde zu einer Kraftanstrengung, mir nichts anmerken zu lassen - erst mal abkühlen und Ruhe bewahren, hieß die Devise. Überlegenheit vortäuschen. Nochmal von vorne:
Was war das denn nun für eine Rose?
Woher kam sie?
Wieso war sie mir nicht schon vorher aufgefallen?
Mein Verstand stellte Fragen, die das Herz zu beantworten suchte. Leider konnte die Wissenschaft nichts mit den Antworten der Poesie anfangen, da beide Instanzen im ewigen Krieg mit einander standen, und nur sie durfte die Parteien schlichten.
Das Intermezzo >sie oder sie?< dauerte nicht allzu lang. Ich merkte, daß ich über die Flora der Heimat weniger Bescheid wußte als über die in Damascus. Diverse Versuche des ersten Kennenlernens schlugen fehl, dennoch diktierte das überschwengliche Herz eine Marschrichtung, die der Verstand durch wissenschaftliche Sorgfalt korrigierte. Netze aus künftigen Erinnerungen wurden gespannt, obwohl die Briefkästen schwiegen. Sie schwiegen Stunde um Stunde, während man draußen das Gras wachsen hören konnte. Auf ihre fehlende Reaktion folgte ein Abbau der Aktion. Enttäuschung plus unkonkrete Hoffnung, dann Stille. Hmmm. War da was gewesen? Oder war die Zeit vielleicht noch nicht reif? Ein Sommer gedanklicher Verflüchtigung wurde mit Arbeit gefüllt, bis sich das Bewußtsein und der Herbst in einen dünnen Nebelschleier einhüllten.
Ein neuer Kalender begrüßte dann den heimatlichen Frühling. Wie immer ging die Sonne im Osten auf, doch an diesem Tag ging sie sogar zweimal auf. In Damascus welkten Rosen. Zunächst von den Morgenstrahlen geblendet, war ich verunsichert, dennoch freute ich mich auf diesen besonderen Tag, der vorsichtig das Ende eines langen Winterschlafs einläuten wollte. Eine nicht-ortbare Stimme rief etwas. Immer wieder, immer lauter. Inzwischen war einiges passiert. Ich hatte aus dem inneren Seelenkrieg gelernt, den Geist vom wuchernden Unkraut befreit und wurde meiner Glücksmomente gewahr, die der Imam umleuchtet hatte. Erneut schenkte sie mir ein sanftes Lächeln. Doch auch sie hatte sich verändert, und eine kleine Träne kullerte über ihre Wangen. Voller Tatendrang, kindlicher Freude und einem unbändigen Willen, meine Rose diesmal besser zu pflegen, ging ich dran, den Nährboden vorzubereiten.
Die Gartenarbeit stellte sich komplizierter heraus als gedacht, denn die Botanik in der Heimat war anscheinend eine andere als im Wüstensand. Die Monde wechselten ihre Namen, doch die Rose wollte und wollte nicht mehr erblühen. Warum nur? - Ratlosigkeit. Anerkennung und Zuversicht, Zuwendung und Anhimmelung - das ganze Alphabet aller denkbaren Themen spielte ich in alle Richtungen durch, um sie zu einem netten Gespräch zu bewegen, doch vehement verweigerte sie jeglichen Zugang. Wechselnde Medien, abenteuerliche Anstrengungen, neue Ideen. Nicht das geringste Entgegenkommen. Ein Felsen aus Granit konnte nicht härter sein als das Herz, dessen Kern einst so zart und sensibel wirkte. Alles war auf den Weg gebracht, die Arbeit getan und frühere Versäumnisse ausgemerzt. Mühevoll kurierte ich meine Rose, richtete sie wieder auf, hauchte ihr neues Blut ein, eine neue Lebensflamme loderte. Und trotz alledem blieb mir nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sie vor meinen Augen psychischen Selbstmord beging.
Ein Regengebiet durchzog Dimashq.