Romeo
Romeo
Der schwarze Punkt entspringt dem Licht der untergehenden Sonne, bewegt sich rasch, einer schnurrgeraden Linie folgend und eine Schneewolke hinter sich herziehend, auf Romeo zu, welcher bald verunsichert, bald sicher sieht, wie was einst nichts als ein schwarzer Punkt am unendlichen Horizont war, sich als kräftigstes aller Pferde entpuppt, mit hämmernden Hufschlaegen die unberührten Felder ihrer Unschuld beraubend. Doch nicht dies bannt Romeos Blick: Es ist Juliette, wie sie Stolz auf dem Rücken des Hengstes trohnt, und hätte sie langes, goldenes Haar gehabt waere es wohl als niemals brechende Welle der Schneewolke vorausgeeilt, hätte die Szenerie romantisch erscheinen lassen. Doch Juliettes blutentste Lippen verziehen sich nicht zum alles zerstoerdenden und ihre dunkelsten Augen fesseln die des Romeo, der, keines Wortes fähig, wo kein Wort nötig, sich von der ausgestreckten Hand aufs vorüberschiessende Pferd heben lässt, und wie sich der Schleier der Nacht schwer legt, erreicht das Liebespaar den Baikalsee: Über gefrohrene Wasser gehend, drehen sie sich immerfort im Kreise, tanzen den Tango Argentino, den Ersten den Letzten und den Einzigen, bis beide eins und untrennbar sind. Und nicht für die Ewigkeit, aber für den ewig währenden Augenblick liebt Juliette, liebt Romeo, und ihre Münder sind noch warm vom letzten Kuss, wenn sich der erste Sonnenstrahl in ihren toten Augen seiner Schönheit erfreut, und einzig der Schrei des Raben an die ewige Stille erinnert.
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Romeo blinzelt in die Sonne, sieht wie sie schon hoch am Himmel steht und sieht den Raben, der sich weit oben im Kreise dreht, und ganz allein seinen Schatten auf die weissesten Felder wirft, welche einer Mondlandschaft gleichen, und der Romeo fuer Minuten der Ewigkeit entschlief. Doch nun: alles verloren. Was bleibt ist letztes nach gewesenem Sommer duftendes Stroh, welches sich Romeo von seinem Mantel zupft, sich weiterschleppend, dem kommenden Sommer entgegen, durch diese wunderschön leblos daliegende Winterwelt: die Füsse frieren, die Beine brennen, und eine einzige Wolke wächst in den tiefblauen Himmel; Romeo trägt sie vor seinem halb geöffneten Mund, Endlich beim Zaun, fällt der Held, möchte liegenbleiben, zieht sich aber mühsamst am trockenen Holz hoch, stampft weiter, und mit kleinsten Schritten Juliettes Namen gross in den kniehohen Schnee, der von einer unerbittlichen, immer wieder aufs Neue einbrechenden Eisschicht überzogen ist. Doch so oft er sich auch nach ihr umblickt, sie kommt nicht. Das tausendfach verfluchte Leben treibt ihn schliesslich gluecklichst bis hin zur Endstation, wo er in den wartenden Bus steigt, der letzte Sitz unter dem Gewicht seines zusammensackenden Körpers ächzt, Romeo weinen will, und es nicht kann, seinen Namen verleugnet, zu verzweifelt um zu sehen, wie eine Reiterin dem sich rasch entfernenden Bus nacheilt, bald auf gleicher Höhe reitet, ihre Hand nach Romeo ausstreckend ihn zu sich aufs Pferd zu ziehen, schliesslich aber geschlagen stehenbleibt, das feuerrote Haar erloschen, dem Bus mit toten Augen hinterherblickt, wie er der untergehenden Sonne entgegenfährt, eine Kohlenstoffdioxidwolke hinter sich herziehend.
[ 15.05.2002, 05:36: Beitrag editiert von: dominik ]