Rom, Sonne. Fünfzehn Minuten. Mithras und Marcus.
Fünfzehn Minuten
Bevor die Menschen anfingen, die Welt zu begreifen, zu beschriften, zu archivieren, Portionen der Welt einzumachen, damit jeder ein Stück Welt auf sein Brot streichen konnte, war Zeit gleich Sonne. Dreh- und Angelpunkt aller Zukunft und Vergangenheit der Stand eines Feuerballs, der nicht vom Himmel fiel.
Wieso weigerte er sich, herunterzufallen?
Rom, 269 n. Chr., 15:32 Uhr. Mithras hält seit ca. viereinhalb Milliarden Jahren die Sonne hoch und schmeißt ab und zu etwas Wasserstoff aus seinem Beutel nach. Seine Mutter hatte immer gesagt: lieber verbrennen als erfrieren. Er war fest entschlossen, auf alles andere zu verzichten, um die Welt zu erleuchten. Dort, wo er die Sonne hielt, hatte er brodelnde Brandblasen. Er war entschlossen. Er würde sie nicht fallen lassen.
Rom, 269 n. Chr., 15:32 Uhr, die Soldatenkaiser regieren. Kaiser Marcus Aurelius Marius liegt in seinem Garten. Damals Schmied in der Armee, heute Machthaber in Rom. War er nicht vom Glück geküsst? Er hatte zu seiner Frau gesagt: ich will mit dir glücklich werden. Das Glück, der zu erreichende Zustand, Zeichen kontinuierlicher Lebensqualität? Marcus schaute in den römischen Himmel und war sich nicht sicher. Glück, Liebe, Zufriedenheit – nicht etwa bloß Angelegenheiten von Momenten, die mit dem sich verändernden Stand der Sonne in ihr Gegenteil umschlagen konnten?
Mithras wusste von alldem nicht viel. Vor viereinhalb Milliarden Jahren hatte seine Mutter gesagt, es sei Zeit für ihn, ihr nicht länger auf der Tasche zu liegen und sich etwas Vernünftiges zu suchen. Mithras fand sich in einem karg gestalteten und kalten Universum zu einem Vorstellungsgespräch wieder, und ein sonderbarer Kerl bat ihn, Platz zu nehmen. „Gott“, sagte er, „sehr erfreut.“ „Mithras“, sagte Mithras, gab ihm die Hand und setzte sich schüchtern auf einen Stern. Was sollte er erwarten? Gott erklärte ihm sein Projekt in einigen kurzen Sätzen. Er schien sehr bestimmt über seine Projekte. „Wissen Sie, Mithras“, sagte Gott, „heutzutage ist es schwer, gute Leute zu finden. Ich meine, immerhin halten wir hier ein ganzes Universum zusammen. Ich brauche jemanden, der gewisse Kernkompetenzen aufweist. Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, solche Dinge, Sie wissen schon.“ Mithras fragte, wann alles fertig sei. „Einige Naturgesetze bereiten mir noch Kopfschmerzen“, meinte Gott, „aber es dürfte nicht mehr lange dauern.“
Mithras hatte also seinen Job angetreten und hielt nun seit 4,5 Milliarden Jahren die Sonne in seinen glühenden Händen. Liebe, Glück, Macht: abstrakte Begriffswelten für jemanden, der die Sonne hält. Aber war er nicht glücklicher als Marcus, der in Todesangst leben musste und sich wie alle anderen Menschen nach unerreichbaren Einsichten und Dingen sehnte? Mithras ahnte nicht, dass alle Zeit in seinen Händen lag. Alle Minuten der Welt.
Die Sonne halten: Seine Bestimmung. Außerdem konnte er nicht wieder bei seiner Mutter einziehen.
Marcus saß mit seiner Frau im Garten. Die körperliche Arbeit fehlte ihm. Der klar umrissene Stahl als klar umrissenes Ergebnis seiner Anstrengungen. Jetzt gab es bloß einen Haufen bestialischer Römer, die machttrunken und dazu bereit waren, einem Kaiser einen Dolch in den Rücken zu stoßen. Jede Minute könnte ihm so etwas passieren, und er würde verbluten, weil es nicht genug gewesen war, Schmied in der römischen Armee zu sein.
Macht, Männlichkeit. Wofür lebte er, und wofür würde er sterben?
„Zieh deine dreckigen Stiefel aus, bevor du durch das Haus läufst“, sagte seine Frau. Marcus konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er sie kennengelernt hatte. Die Erde hatte sich buchstäblich unter dem Feuer der Sonne an ihrem eigenen Spieß gedreht.
Rom, 269 n. Chr., 15:32 Uhr, Sonnenfinsternis. Mithras trifft auf Luna.
Alles war wie immer, bis etwas Mithras’ Sicht auf das irdische Schauspiel der Wolken verdeckte. Luna. Er hatte sie noch nie gesehen. Mithras hatte sich für die Sonne aufgeopfert, und dabei war ihm alles andere entgangen. Heutzutage ist es schwer, gute Leute zu finden. Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit. Einhundertfünfzig Millionen Kilometer weiter lächelte ihm Luna zu. 4,5 Milliarden Jahre Drecksarbeit lagen hinter ihm, er, unwissend über Schönheit, Eleganz, das Meer, und dann gab es noch etwas, was man Musik nannte - um 15:32 Uhr erkannte Mithras, dass Gott und der Welt zu dienen nicht alles war, was es gab.
„Kannst du die Sonne kurz halten?“, fragte Mithras seine Mutter. Sie war genervt. „Siehst du nicht, dass ich gerade putze?“, antwortete sie vorwurfsvoll. „Bloß für eine Viertelstunde. Fünfzehn Minuten. Dann bin ich wieder zurück.“
Zum ersten Mal seit viereinhalb Milliarden Jahren sah Mithras seine Handflächen, das verbrannte, kochende Fleisch, das sich in seiner Form genau der Sonne angepasst hatte. Gehörten seine Handflächen wirklich zu ihm, oder fing an diesem Teil seines Körpers schon die Sonne an?
Zum ersten Mal hatte er keine Last zu tragen. Er suchte einen Vergleich für diese Freiheit, aber er kannte nichts. Das einzige, was Mithras wusste, war, wie man das Feuer schürt.
Rom, 269 n. Chr., 15:32, Mithras trifft auf Luna, die Römer lassen alles stehen und liegen, um die Sonnenfinsternis zu beobachten. Bloß der Rand aus Licht um den Mond lässt erahnen, dass es die Sonne noch gibt. Auf dem Forum Romanum Mensch an Mensch an Mensch. „Die Sonne ist tot!“, rief ein kleiner Junge.
Mithras schaute Luna an. Er kannte nichts, also sprach er vom Feuer. Von Verantwortung. Seinem Vorstellungsgespräch bei Gott. „Er ist so gelangweilt“, sagte Luna, „weißt du, was sein letztes Projekt war? Er nennt es ‚den Menschen’. Er hat ihn so konstruiert, dass er sich unendlich viele Fragen stellt, aber aufgrund seiner eigenen Konstruktion nur eine begrenzte Anzahl von Antworten hat. Da unten bringt der Mensch andere um, und trotzdem hält er sich für intelligent. Abends sitzt Gott dann im Himmel und lacht sich über seine Dummheit kaputt.“
Für Mithras fiel alles auseinander. Sein ganzes Leben verschwendet, um für einen gehässigen alten Mann aus Loyalität Drecksarbeit zu verrichten? Weshalb hatte er auf alles verzichtet, nie Schönheit erfahren, nichts über die Welt gelernt? Wütend, beschämt betrachtete er Luna. Sie strahlte.
Marcus war fasziniert von der himmlischen Darbietung. Das war die Schönheit der Natur, und er lebte für den von Menschenhand erschaffenen Staat, die von Romulus erschaffene Stadt. Würde er auch dafür sterben? Er würde nicht. „Nicht jetzt“, dachte er. „Ich werde wieder Schmied“, sagte er zu seiner Frau. „Ein bisschen weniger Aufregung tut dir bestimmt gut“, sagte sie.
Rom, 269 n. Chr., 15:47. Mithras’ Mutter war die Hitze der Sonne nicht gewohnt. Als sie sie nicht mehr mit ihren brennenden Händen tragen konnte, versuchte sie, die Sonne zwischen ihren Schulterblättern zu balancieren. Bald stand sie ganz in Flammen, und ihr erschütterter, verwirrter Sohn, der seit Anbeginn seines Berufslebens für die irdische Zeit zuständig gewesen war, hatte die Zeit vergessen. Fünfzehn Minuten hatten gereicht, damit Mithras alles, was er je für wahr gehalten hatte, in Frage stellte und Zeit, Sonne, Verantwortung für einen Moment vergaß. Fünfzehn Minuten hatten gereicht, um seine Mutter in Brand zu stecken, seine Mutter, die vor Schmerz aufschrie und die Sonne fallen ließ.
Und gerade, als Marcus beschlossen hatte, nicht zu sterben, wurde der Lichtrand um den Mond immer größer.
Die Sonne war vom Himmel gefallen.