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Rollende Füße
„Wenn möglich: Bitte wenden“, sagte das Navigationsgerät. Eriks Wagen fuhr nicht einmal. Er stand auf einem Spargelacker. Die Sonne war bereits untergegangen.
Es ist nicht leicht, nach Hause zu fahren, wenn man weiß, dass das eigene Zuhause bereits hinter einem liegt.
Erik lag in seinem Wagen, hauchte Wölkchen kühlen Atems an die Decke, die Rückenlehne heruntergekurbelt, und blickte durch die Frontscheibe zu den Schwingen der Windräder. Das letzte Licht der Dämmerung warf ein gefühlloses Blau, das dem Himmel wie ein geronnener Speichelfaden am Mundwinkel klebte, über die einsamen Ackerflächen. Von Zeit zu Zeit fuhren einsame Wagen über die Umgehungsstraße. Man sah die Fernlichtkegel am Horizont auftauchen, die wie weiße Panther hinter den Gitterstäben der Alleebaumreihen fort schlenderten. Die gewaltigen Windradflügel drehten sich hypnotisch gegen den Uhrzeigersinn.
Nachhause, dachte Erik. Für ihn war die Bezeichnung 'nachhause fahren' zu nicht mehr als einer Floskel geworden, die sich seltsamerweise immer noch um ihre eigene Achse zu drehen schien, obwohl sie schon seit geraumer Zeit ihren Mittelpunkt verloren hatte.
Würde dieses Rad jetzt hinunterfallen, dann wäre es bei mir. Dort, wo ich momentan Zuhause bin. Er lachte in sich hinein.
Es würde nach diesem Sturz auf meinem Wagen landen und mich begraben.
Die Semesterferien endeten heute. Erik hatte sich vor zweieinhalb Stunden von seiner Mutter verabschiedet, um nachhause zu fahren. Ein Ort, der sich jetzt angeblich in einem kleinen Zimmer mit weißen Wänden in Stettin befand. Er war nicht weit gekommen. Im Haus seiner Mutter brannte immer noch Licht.
„Wenn möglich: Bitte wenden“
Die A20 war leergefegt, also beschleunigte Erik. Im Radio spielte ein Song, den sein Vater gemocht hatte. Michael Barakowski mit seinem Hit 'Zeit, die nie vergeht' von 1985. Er vermisste ihn.
Erik starrte hin und wieder zu seinem Navi, das nicht aufhören wollte, in roter Alarmfarbe zu blinken.
„Wenn möglich …“
„ … Bitte wenden“, äffte er die künstliche Frauenstimme nach, die ihn irgendwie immer an seine damalige Deutschlehrerin erinnerte.
„Auf der Autobahn wenden“, sagte er und dann: „So ein Scheißteil“ Erik zündete sich eine Zigarette an und ließ das Fenster herunter. Der Fahrtwind tat ihm gut.
Und ich hab nicht mehr die Zeit, die nie vergeht, wenn du nicht da bist und mich nicht verstehst, brüllte Barakowski, als wenn er nicht wüsste, dass Erik der Song traurig stimmte.
Er schaltete das Radio ab und konzentrierte sich auf die vorbeifegende Dunkelheit.
„Wenn möglich: Bitte wenden“
„Ach, halt dein Maul!“ rief Erik und schaltete nun auch das flimmernde Navigationsgerät ab.
Der Motor dröhnte monoton und das Geräusch entspannte Erik. Er liebte lange, einsame Autofahrten. Vor allem bei Nacht, wenn die Dunkelheit einem jeglichen Blick auf die Ferne versagte.
Am Seitenstreifen erschien ein Baustellenschild mit einem Umleitungshinweis: U58. Er befand sich jetzt kurz vor der eingestürzten Autobahnbrücke bei Tribsees. Die Brücke war Anfang des Jahres eingestürzt. Er hatte einen Bericht darüber in der Zeitung gelesen. Auf den Bildern hatte die Einsturzstelle ausgesehen wie so ein postapokalyptischer Highway in den Filmen.
„Wenn möglich: Bitte sofort wenden“
Erik hatte vor Schreck seine Zigarette fallen lassen. Eilig wischte er sie vom Sitzpolster und trat sie auf der Fußmatte aus. Das Navi war wieder an.
„Folgen sie nicht dem Streckenverlauf“
Wie gesagt: Scheißteil, dachte er erneut und zog dann den Stecker des Geräts.
Er kannte die Strecke und brauchte keine Hilfe. Er fuhr oft nach Hause, nur um dann deprimiert zu bemerken, dass sich dort alles irgendwie verändert hatte.
Ihm wurde kalt bei dem Gedanken und er kurbelte das Fenster wieder hoch.
Gleich kommt die U58, rief er sich ins Gedächtnis.
Sein Radio sprang wieder an. Ein freundlicher Moderator wünschte all seinen treuen Zuhörern eine gute Nacht.
„Kommt gut nachhause Leute, wo auch immer ihr gerade seid da draußen. Haltet die Ohren steif und viel Vergnügen mit 'Am Fenster' von City“
Erik glotzte sein vorlautes Radio an. Der Mann sprach noch leise weiter, während der Song anfing und Erik wollte es gerade wieder abstellen, als er noch etwas anderes hörte. Er hatte das seltsame Gefühl, dass das Zuletztgesagte nicht an die Zuhörer gerichtet war. Vielleicht hatte der Mann sein Mikro nicht rechtzeitig abgeschaltet und mit einem Kollegen im Studio weitergesprochen, während seine Stimme noch weiter übertragen wurde: „Naja, einer kommt heute sicher nicht mehr nachhause. Hab ich Recht? Erik Rotgerber. Der Mann, mit den rollenden Füßen ist unterwegs“ Dann ein Lachen von einer zweiten Person. Und schließlich ein Knacken des Mikrofons, als es sich nun doch abschaltete und das Radiogerät von alleine ausging.
Erik suchte für einen Moment nach willkürlichen Dialogmomenten, die vielleicht so ähnlich klingen konnten wie „Erik Rotgerber“ und „Der Mann, mit den rollenden Füßen ist unterwegs“ aber er fand keine.
Hat der Mann gerade wirklich meinen Namen gesagt, fragte er sich und sah die Abfahrt nicht, die auf die Umleitung 58 führte.
Als Erik Rotgerber einige weitere Minuten über die schwarze Autobahn heizte, schmeckte ihm sein eigener Orientierungssinn so gar nicht mehr.
Die Abfahrt hätte schon längst kommen müssen.
Ihm kamen auch keinerlei Straßenschilder mehr entgegen oder Ortshinweise oder Kilometerangaben zur nächsten Raststätte oder Notruftelefone oder Irgendetwas.
Also kapitulierte Erik und stöpselte sein Navi wieder ein. Das Display flackerte in verschiedenen Rot- und Gelbtönen auf. Ein Störsignal zischte unangenehm und Erik musste sich einen Finger ins Ohr stecken.
„Ach, jetzt plötzlich …“, quiekte seine Deutschlehrerin beleidigt.
Erik tippte ungeschickt auf dem Touchscreen herum, um eine Gebietskarte zu öffnen, doch es reagierte nicht.
„Zu spät“, sagte das Navi und schaltete sich nun von alleine ab. Der Stecker flog aus der Zwölf-Volt-Buchse unter seinem Schaltknüppel.
Erik konnte nicht recht fassen, was er da eben gesehen hatte.
„Spinn ich?“, fragte er und betrachtete die Steckdose, aus der kleine Rauchschwaden aufstiegen. Er nahm unbewusst den Fuß vom Gas, doch der Wagen wurde nicht langsamer.
Am Horizont zuckten helle Blitze hinter dichten Wolkenschwaden auf. Ein Unwetter zog auf.
Es gab eine Absperrung vor der Bruchstelle bei Tribsees und die Bauarbeiten sollten noch mindestens fünf weitere Jahre beanspruchen, aber die Straße vor ihm war frei wie der Himmel über ihm.
Von einer plötzlichen Ungewissheit übermannt, trat Erik jetzt ein wenig auf das Bremspedal, nur dass sein tapferer Volkswagen keineswegs bremsen wollte. Im Gegenteil: Er beschleunigte sogar. Die Bremslichter leuchteten rot auf, wie Flammen an seinem Heckspoiler.
Kalte Panik überkam Erik in Form einer Kette loser Worte, die sein Unterbewusstsein ausspie: Kontrollverlust. Bremsenversagen. Zusammenstoss. Unfall. Querschnittslähmung. Tod.
Er trat in die Eisen. Presste das Bremspedal mit dem rechten Fuß so fest er nur konnte auf den Wagenboden.
Sein Tachometer stieg auf stattliche 140 Stundenkilometer an.
Erik Rotgerber entfuhr ein ängstliches Geräusch, dass wie eine Mischung aus Grunzen und "Was-zum?", klang. Der VW raste zielstrebig durch die Nacht.
Erik bewegte das Steuerrad leicht hin und her. Der Wagen fuhr geradeaus. Er riss das Steuer bis zum Anschlag nach rechts, dann nach links. Nichts.
"Was-zum?", brüllte Erik erneut sein Mantra und trat noch einige Male vergebens auf sein Bremspedal.
Das Navigationsgerät schaltete sich wieder ein. Aus der leeren Zwöf-Volt-Buchse stieg immer noch Qualm auf.
"Du kommst nicht nach Haus, Erik. Nicht nach Haus", antwortete ihm sein Navi, bloß dass es jetzt nicht mehr wie seine damalige Deutschlehrerin der vierten Klasse klang, sondern wie die Stimmen von mehreren Personen zugleich und alle sprachen in unterschiedlichem Tempo.
"Du kommst nicht nach Haus, nach Haus, nach Haus"
Erik schloss die Augen, kniff sie fest zusammen und dachte angestrengt nach.
Seine Hand griff nach dem Zündschlüssel und drehte ihn und als ob Erik es nicht schon irgendwie geahnt hätte, lief der Motor trotzdem weiter. Er packte den Schlüssel und zog ihn komplett heraus. Nutzlos.
Ein Blitz schlug irgendwo ein und es donnerte. Erik warf den Schlüssel wütend gegen die Frontscheibe und betrachtete die Mittelkonsole.
Seine Finger legten sich um den Mantel der Handbremse, wie um den Griff eines Revolvers, den er am Gürtel trug. Er riss sie bis zum Anschlag nach oben.
Komische Geräusche drangen aus dem Bereich der hinteren Achse des Wagens. Der Bremsknüppel vibrierte heftig und er musste noch mehr Kraft in seinen Griff legen. Blauer Qualm stieg hinter dem Wagen auf, doch am Fahrtempo änderte sich nicht das Geringste. Ganz im Gegenteil, der Wagen fuhr noch schneller. Das Tachometer stieg an: 145 Kmh, 150 Kmh, 170 Kmh.
Bei 200 Kilometern die Stunde schlug etwas gegen den Unterboden des Wagens. Helle Funken stoben unter den Rädern auf und plötzlich ließ sich die Handbremse frei bewegen, wie der leblose Arm eines toten Tieres.
Mehrere Stimmen lachten aus dem Navigationsgerät.
Erik schrie jetzt panisch und trommelte mit den Fäusten gegen das Dachfenster.
Das Dachfenster, dachte er aufgeregt und wusste selbst nicht Recht, wo ihn sein Gedanke überhaupt hinführen sollte. Vielleicht konnte er ja durch das Dachfenster raus und ...
"... und was dann?", las das Navi seine Gedanken. "Vom Wagen springen und dich abrollen? Bei 200 Kmh? Der Asphalt wird deine Haut von den Knochen schleifen, wie Sandpapier. Wenn von deinen Knochen was übrig bleibt" Das Navi kicherte.
Trotzdem wischte Erik diesen ungefragten Einwand beiseite und fingerte am Fensterhebel herum. Es ließ sich nicht einmal öffnen. Er klemmte seine Finger in die Rillen und stemmte das Fenster so weit auf, wie er konnte. Nur konnte er es keinen Zentimeter weit aufstemmen. Auch die restlichen Fenster ließen sich nicht herunterkurbeln, geschweige denn die Türen sich öffnen. Es war eine Alptraumsituation. Nichts funktionierte mehr in diesem verdammten Fahrzeug.
Das Autoradio sprang wieder an. Es spielte einen Psychedelic Rock. Es war Riders on the Storm von The Doors. Nur, dass das Lied immer und immer wieder dieselbe Tonspur von sich gab, als hätte eine Schallplatte einen Sprung.
"Oh, oh", sagte das Navi. Irgendwie klangen die Stimmen daraus jetzt sogar etwas verunsichert.
Jim Morrison sang immer wieder von vorne und von vorne und von vorne: "... there's a killer on the road ..."
Erik konzentrierte sich nicht darauf. Er löste stattdessen seinen Sicherheitsgurt und krachselte ungeschickt auf die Rückbank des VWs.
"Er kommt", schrie das Navi.
Nachdem er einen der Rücksitze vorgeklappt hatte, konnte er durch die entstandene Lücke in den Kofferraum greifen. Er riss die Filzabdeckung des Bodens hoch und kramte den schweren Drehmomentschlüssel aus der Reifenablage.
"Er kommt!", schrie das Navi lauter und im Hintergrund heulten Stimmen wie ein Wolfsrudel.
Erik kletterte wieder auf den Fahrersitz und schlug einige Male den Drehmomentschlüssel in die Linke.
"Wer kommt?", fragte Erik sein Navi.
Das Wolfsgeheul wurde unterbrochen und das Navigationssystem bekam seine normale, gelangweilte Deutschlehrerin wieder.
"Wenn möglich: Bringen sie sich um. Wenn nicht: Schauen sie in den Rückspiegel"
Natürlich brachte Erik sich nicht um aber er gehorchte dem Scheißteil auf letzteren Befehl und schämte sich ein wenig dafür.
"Der Mann mit den rollenden Füßen ist unterwegs", sagte das Navi. "Kannst du ihn schon sehen?"
Erik schaute in seinen Rückspiegel und blickte an seinem Gesicht vorbei in die Finsternis hinter seinem Wagen.
"Ein Mann mit rollenden Füßen?", fragte er und versuchte zwecklos Konturen in der Reflektion des Rückspiegels auszumachen. Dort war kein Mann zu sehen. Rollende Füße schon gar nicht. Nur Straße und Eriks Gesicht.
Erik nahm den Drehmomentschlüssel jetzt in beide Hände und hämmerte den Kopf des Werkzeugs gegen das Fahrerfenster.
Anfangs schlug er zu zimperlich zu, um das Sicherheitsglas zu beschädigen, aber als er immer wieder auf die selbe Stelle einschlug, gab das Glas ein Knacken von sich.
"Er ist fast hier", kreischten die Stimmen.
Ein kleiner Riss war jetzt in der Mitte der Scheibe und obwohl eigentlich der Fahrtwind durch diesen Riss hätte pfeifen müssen, hörte Erik nichts. Er fühlte auch keinen Luftzug. Der Riss in der Scheibe war rabenschwarz. Noch dunkler, als die Dunkelheit der Nacht, die man durch den Rest der Scheibe erkennen konnte. Erik hielt sein Auge an den keilförmigen Riss und bemerkte, dass die Straße weg war, als er hindurchblickte.
"Tu das nicht, Erik!", drang es jetzt aus dem Navi. Erik hielt für einen Moment inne. Die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor.
"Papa?", fragte er hoffnungsvoll. Er konnte nichts dagegen tun, dass ihm die Tränen kam. Es war, als hätte dieser kurze, warme Tonfall ihm einen scharfen Windstoss in die Augen geweht.
"Du darfst hier nicht aussteigen."
"Papa, wo bist du?", rief Erik.
Ein undeutliches Genuschel aus der kleinen Maschine.
"Papa, bist du noch da?"
"Nein", antwortete das Navi mit einem Dutzend lahmender und anschnellender Stimmen zugleich. "Papa ist tot" Ein Chor aus schrillem Gelächter.
Erik wischte sich zornig die Tränen aus dem Gesicht, biss die Zähne zusammen und schlug den Drehmomentschlüssel gegen den Rest der übrigen Fensterscheibe.
Die Scheibe sprang an unzähligen Stellen, wölbte sich nach dem dritten Schlag nach außen und fiel nach dem vierten komplett aus dem Rahmen der Tür.
"Der Mann mit den rollenden Füßen!", kreischte der Chor des Navigationsgeräts und Erik hievte sich mit dem Oberkörper voran aus dem Fahrerfenster.
Er fiel nicht zu Boden. Er schliff sich nicht die Haut am Asphalt ab und brach sich auch keine Knochen. Alles war schwarz um ihn herum, auch der Boden. Der silbergraue Volkswagen war fort.
Erik schaute sich um. Ein Licht leuchtete in der Ferne. Es war das Haus seiner Mutter. Das Licht brannte noch in den Fenstern und Erik versuchte darauf zuzugehen. Doch als er den Fenstern näher kam, bemerkte er, dass die Fenster nicht leuchteten sondern brannten. Das Haus seiner Mutter stand in Flammen. Sein altes Zuhause brannte lichterloh. Erik schrie, doch er bekam den Mund nicht weit genug auf zum schreien.
Er fuhr herum und sah ein weiteres Licht, in der entgegengesetzten Richtung. Es war seine Wohnung in Stettin. Auch hier leuchteten die Fenster, nur waren es keine Flammen in seinem neuen Zuhause. Es waren die klinisch, weißen Wände seiner Wohnung, die so weiß waren, dass sie leuchteten. Leere Wände, ohne Bilder, ohne Erinnerungen.
"Der Mann mit den rollenden Füßen ist da", riefen die Wesen aus seinem Navigationsgerät, bloß dass sein Navi nirgends mehr zu sehen war. Die Stimmen kamen von überall um ihn herum und sie hörten nicht damit auf diesen einen Satz zu schreien, als wäre es die tobende Einstimmung zu einem Fest.
Erik drehte sich wild im Kreis herum. Gleich würde er kommen. Dieser Mann mit den rollenden Füßen. Wer auch immer er war, gleich würde er hier sein und ihn mitnehmen. Wie ein Schreckgespenst, das nachts ein Kind am Fuß unter sein Bett zerrt.
"Na los, komm schon!", rief Erik so laut er konnte. "Komm doch her! Mir soll es recht sein"
"Er ist schon da", antworteten die Stimmen und eine Stille kehrte ein.
Erik blickte an sich hinunter und sah, dass etwas mit seinen Füßen nicht stimmte. Sie rollten. Sie rollten wie Räder an seinen Fersen im Kreis. Aber es waren keine Räder, sondern rollende Füße und die Welt um ihn herum schien sich in rasendem Tempo an ihm vorbei zu bewegen, während er selbst still stand. Das Haus seiner Mutter verschwand in der Ferne und die kleine, leere Wohnung verschwand in der Ferne.
Erik rollte auf seinen Füßen ziellos durch die Dunkelheit und ein schrecklicher Gedanke kam ihm in den Sinn.
Ich habe mein Zuhause verloren. Es gibt kein Zuhause mehr
Erik Rotgerber weinte. Er schrie. Aber er rollte trotzdem auf seinen sich drehenden Fußgelenken unaufhaltsam durch das Nichts.
"Der Mann mit den rollenden Füßen!", feuerten ihn dämonische Stimmen aus unsichtbaren Fratzen an.
"Der Mann mit den rollenden Füßen! Er hat kein Zuhause. Und wird auch nie eins finden"
Aber unter all diesen Stimmen war auch noch eine andere Stimme, die Erik hören konnte. Sie war ihm näher als der Rest der Rufe, obwohl sie viel leiser war, als alle anderen.
Erik konzentrierte sich auf diese Stimme und ihm wurde warm ums Herz.
"Papa!", rief Erik. "Papa, hilf mir. Ich hab mein Zuhause verloren. Ich weiß nicht wo ich bin"
Die anderen Stimmen wurden lauter, riefen durcheinander, kreischten wie gefräßige Teufel in der Nacht und trommelten wild auf schwarzen Instrumenten, nur um laut zu sein und jede Form von Klangkontur unkenntlich zu machen. Lärm. Nichts als tosender Klang, der Ohren luftdicht verstopfen sollte.
"Papa. Ich hab kein Zuhause mehr. Ich bin ein Mann mit rollenden Füßen"
Erik hatte in all dem Terror, Tempo und Getöse nun das Gefühl, als würden sich warme Hände auf seine Schultern legen, die ihm kühlenden Trost spendeten, aber da war niemand, als er hinsah.
"Papa?" fragte er und für einen kurzen Moment verstummten die unzähligen Stimmen im Hintergrund.
"Du hast dein Zuhause nicht verloren", flüsterte jemand ganz leise in Ereks Ohr.
Du Welt um ihn herum wurde langsamer. Er sah es nicht, sondern spürte es nur an den sich langsamer drehenden Rollen seiner Füße. Sein Herz hörte auf zu rasen. Sein Atmung wurde wieder entspannter. Warmes Licht begann über ihm zu leuchten, als wenn die Sonne über hohen Mauern aufging.
"Du kannst dein Zuhause nicht verlieren, Erik. Niemand kann das"
"Papa", Erik weinte. "Ich vermisse dich"
Er bekam keine Antwort mehr, doch er hatte auch keine Antwort erwartet. Stattdessen ...
... kletterte ein Mann durch das Fahrerfenster in das Innere des grauen Volkswagens. Erik ließ sich auf seinen Sitz fallen und betrachtete seine Füße. Es war alles wieder beim Alten. Normale, stinklangweilige Beine. Keine rotierenden Fußgelenke mehr.
Der Wagen donnerte jedoch immer noch über die Autobahn und fuhr mittlerweile mit über 300 Stunden Kilometern.
Das Navi leuchtete auf. In einem freundlichen Ton bemerkte es: "Wenn möglich: Bitte wenden"
Erik Rotgerber schüttelte mit dem Kopf und tat das einzig Richtige.
"Nein. Ich fahre jetzt nach Hause", sagte er und diesmal trat der junge Mann nicht auf seine Bremse, sondern auf sein Gaspedal.
Der Wagen beschleunigte:
350 kmh, 400 kmh, 600 kmh, 1000 kmh ...
Die gebrochene Autobahnbrücke lag längst hinter ihm und es gab ein leeres Zimmer in Stettin, mit weißen Wänden, die es zu füllen galt und die bereits sehnsüchtig auf ihn warteten.
Erik fuhr nach Hause.