Was ist neu

Rock ´N´ Roll

Mitglied
Beitritt
03.12.2002
Beiträge
768
Zuletzt bearbeitet:

Rock ´N´ Roll

Sein Blick glitt am Fenster hinaus und beobachtete über das Grün der Gehwegbegrenzung hinweg die vorbeifahrenden Autos. Hinter jedem Steuer ein anderes Gesicht, ein anderes Leben. Frauen, die weit vorübergebeugt versuchten die Straße bis in die letzten Winkel einzusehen und Männer, die wild gestikulierend den Wagen vor ihnen anschrieen. Und sie alle verschwanden genauso schnell wieder aus seinem Leben, wie sie gekommen waren. Das einzig Konstante, was es noch in seinem Leben gab, war der tägliche Gang ins Büro. 30 Jahre verübte er nun jeden Morgen das gleiche Ritual. Er stellte seinen Wagen auf dem nächstbesten Parkplatz ab und schlenderte durch die langen und kahlen Gänge des Verwaltungstrakts, bis er zu seinem eigenen kleinen Büro kam. Er begrüßte jeden Kollegen freundlich, denn Sympathie oder Antipathie spielten schon lange keine Rolle mehr. Sie waren immer da. Fester Bestandteil seiner Welt und somit machte es kaum Sinn, sich über sie zu ärgern, zu freuen, oder überhaupt einen Gedanken an sie zu richten. Dann lagen acht Stunden Arbeit vor ihm. Kunden mussten beschwichtigt werden und zu jedem Zeitpunkt musste Michael den routinierten Verkäufer mimen, der alles unter Kontrolle hatte. Vor jedem Besuch und vor jedem Telefonat zog er sich die Krawatte zurecht, räusperte sich und setzte ein gewinnbringendes Lächeln auf. Und auch jetzt nestelte er sich Gedankenverloren an seinem Schlipsknoten herum, ohne dass er wusste, warum er das eigentlich tat.
Michaels Blick zog sich wieder zurück. Verlies die Straße, überflog den Gehweg und richtete sich auf die nähere Umgebung. Er blickte sich um, sah den Kalender vor ihm, die Uhr an der Wand und das Bild seiner Frau, dass in einem metallenem Rahmen direkt neben dem flackernden Monitor stand, der das Bild eines fast überquellenden Terminplaners zeigte.
Er griff zur Maus und blätterte die Tage durch. Gestern und die Wochen davor und fast jede Seite ähnelte der vorherigen. Sein Leben war das, was man geordnet nannte. Ein Leben, dass er nie haben wollte und bei einem weiteren verlorenen Blick auf das Foto seiner Frau verschwand das Bild des Büros hinter den Eindrücken seiner Erinnerung.

Klick, Klick, Klick. Da war es wieder. Dieses unheilvolle Geräusch, dass sein Auto immer öfter von sich zugeben pflegte. Und dieses Geräusch machte Michael schier wahnsinnig, wenn er an die Kosten dachte, die auf ihn zukamen. Und das in Verbindung mit seiner chronisch leeren Brieftasche. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, lächelte in sich hinein und drehte den CD Spieler lauter. Was man nicht hört, ist auch nicht da, säuselte er leise vor sich hin und spürte, wie ihm die Musik durch die Ohren ins Blut drang. Wild trommelte er mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum und kreischte die Zeilen von Judas Priest´s Painkiller so laut mit, als würde er neben Halford auf der Bühne stehen und versuchen dem Metalgott den Rang abzulaufen.
Er schaute auf die Uhr. 11:30 Uhr. Michael lag gut in der Zeit und sein schwarzer Punto schlängelte sich durch den dichten Stadtverkehr, als würde er nie etwas anderes machen. Jede Lücke wurde ausgenutzt und es machte ihm auch nichts aus, wenn ein lauter Schrei oder ein penetrantes Hupen das Ergebnis seiner Dreistheit war. Dreistheit siegt nun mal. Wenn er eins in seinem noch recht jungen Leben herausgefunden hatte, dann das. Er blickte dann nur kurz in das Gesicht des Mannes, oder der Frau, die sich über ihn aufregte, streckte ihnen den gespreizten kleinen und Zeigefinger entgegen und schenkte den Aufdringlichen weiter keine Beachtung. Das war sein Leben und vor allem war dies sein Tag. Er liebte diese Tage, an denen ausnahmsweise mal alles so lief, wie er es wollte und an denen er spürte, wie das Leben selbst durch seine Adern schoss. Michael richtete das Wort an sich selbst: „Das ist Rock ´N´ Roll, Mann! Fühlst du den Rock!“ Er sprach nicht einfach. Er schrie und die Schwingungen seiner eigenen Stimme mischten sich zu denen von James Hetfield, der mittlerweile Halford von der virtuellen Bühne verstoßen hatte und nun davon sang, dass Gott ihn bitte wecken möchte. „Oh please, god wake me!“ sang er mit und schüttelte seinen Kopf zur gar herrlichen Gitarrenarbeit. Er fühlte, wie sich seine Nackenmuskulatur verkrampfte und er meinte förmlich zu hören, wie sein Hirn immer wieder gegen die Wände seines Schädels klatschte. Aber wie hieß es so schön: Bang that head that doesnt bang! Er liebte diese Phrasen und er lies kaum eine Gelegenheit aus, diese an den Mann zu bringen. Und wenn mal niemand da war, dann richtete er halt das Wort an sich selbst.

Vor seinem Auge tauchte das hohe Dach des Hauptbahnhofes auf und es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis er sein Auto auf dem Parkplatz abstellte, die erste Flasche des eiskalten Bieres, dass er vorher an der Tanke erstanden hatte, zu seinen Lippen führte und sich ganz dem Gefühl des Rocks hingab. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt und jedes Lied, dass aus seinen Boxen schallte hob diese Stimmung. Maiden, Motörhead, Sabbath, Anthrax, Digger und wie sie alle hießen. Nur auf eine Band hatte er besonderen Wert gelegt, dass sie in seiner Zusammenstellung nicht auftauchte. Die Götter; denn diese würde er gleich live erleben und nichts ist unerträglicher, als eine Studioaufnahme vor oder nach einem Konzert zu hören.
Mittlerweile stand sein Punto, der Motor verstummte und die letzten Takte des Vollmonds verklangen. Michael stieg aus, schloss ab und machte sich mit einem Bier an den Lippen auf dem Weg zum Gleis 14. Während er sich auf dem Weg dorthin befand, um seinen Freunde zu treffen und die Fahrt in die Kölner Innenstadt anzutreten, streiften ihn die Blicke der Passanten. Seine zerrissene und abgeschnittene Hose lag den anonymen Gesichtern um ihn herum genauso schwer im Magen, wie seine Stahlkappenschuhe, das schwere Lederarmband und die große Kanone, die auf seiner Brust prangte. Sie würden es nie verstehen, dachte er gerade noch, als ein lauter Ruf an seine Ohren drang. „Salute you!“ brüllte jemand aus dem Hintergrund und im selben Augenblick setzten weitere Stimmen mit ein, die ebenso laut im Chor nach Angus riefen. „Angus, Angus, Angus!“ Immer weiter. Ein breites Lächeln breitete sich auf Michaels Gesicht aus, hatte doch jetzt der Tag erst seinen Anfang genommen, an dem ihn die ganze Welt einmal gern haben könnte und...

Das Telefon schellte und riss Michael unsanft aus seinen Erinnerungen, so dass sich das Bild des Büros wieder herausschälte und seine Mundwinkel wieder gen Boden zeigten. Er nahm nicht ab und starrte immer weiter auf das Bild seiner Frau. Wie hatte sie damals zu ihm gesagt? Er wäre ein phrasendreschender Egomane und doch hatte er sich in sie verliebt. Ein Teil des Puzzles, warum sein Leben zu dem geworden war, was es nun ist. Und so sehr er sich auch fragte, wie es dazu kommen konnte, dass er sich selbst so sehr verraten hatte; er fand immer nur Teile der Antwort.
Er nahm das Bild zur Hand und wie zum Spott sprach er es mit einer dieser Phrasen aus seiner Jugend an: „Manchmal muss man halt Prioritäten setzen!“.
Michael stand auf und verlies sein Büro. Der Kaffee wurde langsam kalt und hinter dem Fenster und dem angrenzenden Gehweg fuhr ein Auto vorbei, hinter dessen Steuer ein wild gestikulierender Mann saß, dessen Schlips verdreht um seinen Hals hing und dessen Kopf scheinbar unkontrolliert auf und ab ging.

 

Hi morti,

Ja manchmal muß man halt Prioritäten setzen.

Ich kenne niemanden, der das nicht mindestens einmal im Leben machen mußte.
Und dann kommt man meist aus den Folgen nicht mehr heraus.
Man kann sich abfinden, dass Beste daraus machen, aber wohl niemals die Sehnsucht in sich löschen.

Auch wenn dieses Thema schon sehr oft "beschrieben"
wurde, so hast du doch, finde ich, die Melancholie des Mannes, über seine verpassten Chancen sehr Bildhaft rüber gebracht.

lg. coleratio

 

Hi coleratio,
ich weiß, dass dieses Thema ein wenig abgegriffen ist und genau deshalb wollte ich eine story dazu schreiben *g*
Intention war es einfach, das Ganze mal was anders rüber zubringen, in diesem Fall halt duch den Rock, der meines Erachtens das Lebensgefühl schlechthin darstellt.

In diesem Sinne danke für die Kritik und
"Salute you" ;)

 

Hallo morti,

ich höre zwar keinen Rock, aber dein Text hat mir gut gefallen ;) . Muß mich da coleratio anschliessen, du hast den monotonen Tagesablauf gut dargestellt.

Er begrüßte jeden Kollegen freundlich, denn Sympathie oder Antipathie spielten schon lange keine Rolle mehr. Sie waren immer da. Fester Bestandteil seiner Welt und somit machte es kaum Sinn, sich über sie zu ärgern, zu freuen, oder überhaupt einen Gedanken an sie zu richten.

Freg' mich nicht, wieso, aber dieser Teil ist besonders hängen geblieben. Vielleicht, weil jeder wohl solche Gefühle kennt.

Ach ja, hier:

Er griff zu Maus ...

Meintest du wohl, Er griff zur Maus...

Liebe Grüße,
gori

 

Jepp. Zur Maus sollte es heißen und natürlich wurde es auch prompt verbessert...so als hätte der Fehler niemals existiert...;)
Freut mich, dass auch dir die Geschichte gefallen hat!
Bis zum nächsten Mal...

Grüße...
morti

Ach ja: Vielleicht solltest du mal versuchen den Rock nicht nur zu hören, sondern auch zu leben ;)

 

Hi morti,
Dein Wink in meinem Thread hat mich hier her geführt.
Lebe den Rock oder werde erwachsen, diese Entscheidung traf Michael für seine Frau und wurde erwachsen.
Mich wundert es nicht, dass er jetzt seinem einstigen Lebenstraum nachhängt. Aber was mir nicht gefällt, ist dass er so passiv ist.
Jemand, der meint seine Chancen vertan zu haben und darüber unzufrieden ist,womöglich jammert, sollte mal seine Energien, die er mit dem Nachängen an die gute alte Zeit verschwendet, produktiv nutzen. Das Leben bietet immer Chancen. Man muss sie nur wahrnehmen. Und jemand, der den Rock leben konnte, würde sich meiner Meinung nach, auch nicht so hängen lassen.
Daher fand ich deine Geschichte sprachlich zwar einwandfrei, aber konstruiert.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hi morti!

Ich als Metalfan finde deine Geschichte natürlich klasse!

 

Hi Mr. Potato / Goldene Dame
hab deine Antwort grad erst gesehen, genauso wie die von der Dame. Hmmm, weiß auch nicht wieso.
Und es ist immer wieder gut, dass es noch Leute gibt, die anständige Musik hören ;)
@G...Dame
Aber genau das tut Michael doch zum Ende. Er beschließt halt sein Leben zu ändern. Und er beschließt es nicht nur, sonder tut es, ohne sonderlich lange darüber nachzudenken!

Liebe und verspätete Grüße...
morti

 

Hi Morti, ich habe den Schluss aber nicht so verstanden, dass er sein Leben verändert. Ist aber auch schon lange her, dass ich die Geschichte gelesen habe.;)

 

Mmmh, echt ne nette Story mit einer guten Grundidee, doch ich finde die Darstellung des neuen Lebensgefühls irgendwie zu kurz und ein wenig zu Klischeehaft. Ein bisschen mehr Pfeffer und eine emotionalere Schilderung des Alltags hätte der Story wohl gut getan...

Konnte mich nicht vom hocker reißen...

 

Hi Bobolino,
danke fürs lesen.
Nun ja, man kann es nicht jedem recht machen und ich versteh deine Anführungen, aber dennoch lass ich sie so, da es nichts weiter sein sollte, als eine Momentaufnahme.

Grüße...
morti

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom