- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Rock ´N´ Roll
Sein Blick glitt am Fenster hinaus und beobachtete über das Grün der Gehwegbegrenzung hinweg die vorbeifahrenden Autos. Hinter jedem Steuer ein anderes Gesicht, ein anderes Leben. Frauen, die weit vorübergebeugt versuchten die Straße bis in die letzten Winkel einzusehen und Männer, die wild gestikulierend den Wagen vor ihnen anschrieen. Und sie alle verschwanden genauso schnell wieder aus seinem Leben, wie sie gekommen waren. Das einzig Konstante, was es noch in seinem Leben gab, war der tägliche Gang ins Büro. 30 Jahre verübte er nun jeden Morgen das gleiche Ritual. Er stellte seinen Wagen auf dem nächstbesten Parkplatz ab und schlenderte durch die langen und kahlen Gänge des Verwaltungstrakts, bis er zu seinem eigenen kleinen Büro kam. Er begrüßte jeden Kollegen freundlich, denn Sympathie oder Antipathie spielten schon lange keine Rolle mehr. Sie waren immer da. Fester Bestandteil seiner Welt und somit machte es kaum Sinn, sich über sie zu ärgern, zu freuen, oder überhaupt einen Gedanken an sie zu richten. Dann lagen acht Stunden Arbeit vor ihm. Kunden mussten beschwichtigt werden und zu jedem Zeitpunkt musste Michael den routinierten Verkäufer mimen, der alles unter Kontrolle hatte. Vor jedem Besuch und vor jedem Telefonat zog er sich die Krawatte zurecht, räusperte sich und setzte ein gewinnbringendes Lächeln auf. Und auch jetzt nestelte er sich Gedankenverloren an seinem Schlipsknoten herum, ohne dass er wusste, warum er das eigentlich tat.
Michaels Blick zog sich wieder zurück. Verlies die Straße, überflog den Gehweg und richtete sich auf die nähere Umgebung. Er blickte sich um, sah den Kalender vor ihm, die Uhr an der Wand und das Bild seiner Frau, dass in einem metallenem Rahmen direkt neben dem flackernden Monitor stand, der das Bild eines fast überquellenden Terminplaners zeigte.
Er griff zur Maus und blätterte die Tage durch. Gestern und die Wochen davor und fast jede Seite ähnelte der vorherigen. Sein Leben war das, was man geordnet nannte. Ein Leben, dass er nie haben wollte und bei einem weiteren verlorenen Blick auf das Foto seiner Frau verschwand das Bild des Büros hinter den Eindrücken seiner Erinnerung.
Klick, Klick, Klick. Da war es wieder. Dieses unheilvolle Geräusch, dass sein Auto immer öfter von sich zugeben pflegte. Und dieses Geräusch machte Michael schier wahnsinnig, wenn er an die Kosten dachte, die auf ihn zukamen. Und das in Verbindung mit seiner chronisch leeren Brieftasche. Er zuckte gleichgültig mit den Schultern, lächelte in sich hinein und drehte den CD Spieler lauter. Was man nicht hört, ist auch nicht da, säuselte er leise vor sich hin und spürte, wie ihm die Musik durch die Ohren ins Blut drang. Wild trommelte er mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum und kreischte die Zeilen von Judas Priest´s Painkiller so laut mit, als würde er neben Halford auf der Bühne stehen und versuchen dem Metalgott den Rang abzulaufen.
Er schaute auf die Uhr. 11:30 Uhr. Michael lag gut in der Zeit und sein schwarzer Punto schlängelte sich durch den dichten Stadtverkehr, als würde er nie etwas anderes machen. Jede Lücke wurde ausgenutzt und es machte ihm auch nichts aus, wenn ein lauter Schrei oder ein penetrantes Hupen das Ergebnis seiner Dreistheit war. Dreistheit siegt nun mal. Wenn er eins in seinem noch recht jungen Leben herausgefunden hatte, dann das. Er blickte dann nur kurz in das Gesicht des Mannes, oder der Frau, die sich über ihn aufregte, streckte ihnen den gespreizten kleinen und Zeigefinger entgegen und schenkte den Aufdringlichen weiter keine Beachtung. Das war sein Leben und vor allem war dies sein Tag. Er liebte diese Tage, an denen ausnahmsweise mal alles so lief, wie er es wollte und an denen er spürte, wie das Leben selbst durch seine Adern schoss. Michael richtete das Wort an sich selbst: „Das ist Rock ´N´ Roll, Mann! Fühlst du den Rock!“ Er sprach nicht einfach. Er schrie und die Schwingungen seiner eigenen Stimme mischten sich zu denen von James Hetfield, der mittlerweile Halford von der virtuellen Bühne verstoßen hatte und nun davon sang, dass Gott ihn bitte wecken möchte. „Oh please, god wake me!“ sang er mit und schüttelte seinen Kopf zur gar herrlichen Gitarrenarbeit. Er fühlte, wie sich seine Nackenmuskulatur verkrampfte und er meinte förmlich zu hören, wie sein Hirn immer wieder gegen die Wände seines Schädels klatschte. Aber wie hieß es so schön: Bang that head that doesnt bang! Er liebte diese Phrasen und er lies kaum eine Gelegenheit aus, diese an den Mann zu bringen. Und wenn mal niemand da war, dann richtete er halt das Wort an sich selbst.
Vor seinem Auge tauchte das hohe Dach des Hauptbahnhofes auf und es würde nur noch wenige Minuten dauern, bis er sein Auto auf dem Parkplatz abstellte, die erste Flasche des eiskalten Bieres, dass er vorher an der Tanke erstanden hatte, zu seinen Lippen führte und sich ganz dem Gefühl des Rocks hingab. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt und jedes Lied, dass aus seinen Boxen schallte hob diese Stimmung. Maiden, Motörhead, Sabbath, Anthrax, Digger und wie sie alle hießen. Nur auf eine Band hatte er besonderen Wert gelegt, dass sie in seiner Zusammenstellung nicht auftauchte. Die Götter; denn diese würde er gleich live erleben und nichts ist unerträglicher, als eine Studioaufnahme vor oder nach einem Konzert zu hören.
Mittlerweile stand sein Punto, der Motor verstummte und die letzten Takte des Vollmonds verklangen. Michael stieg aus, schloss ab und machte sich mit einem Bier an den Lippen auf dem Weg zum Gleis 14. Während er sich auf dem Weg dorthin befand, um seinen Freunde zu treffen und die Fahrt in die Kölner Innenstadt anzutreten, streiften ihn die Blicke der Passanten. Seine zerrissene und abgeschnittene Hose lag den anonymen Gesichtern um ihn herum genauso schwer im Magen, wie seine Stahlkappenschuhe, das schwere Lederarmband und die große Kanone, die auf seiner Brust prangte. Sie würden es nie verstehen, dachte er gerade noch, als ein lauter Ruf an seine Ohren drang. „Salute you!“ brüllte jemand aus dem Hintergrund und im selben Augenblick setzten weitere Stimmen mit ein, die ebenso laut im Chor nach Angus riefen. „Angus, Angus, Angus!“ Immer weiter. Ein breites Lächeln breitete sich auf Michaels Gesicht aus, hatte doch jetzt der Tag erst seinen Anfang genommen, an dem ihn die ganze Welt einmal gern haben könnte und...
Das Telefon schellte und riss Michael unsanft aus seinen Erinnerungen, so dass sich das Bild des Büros wieder herausschälte und seine Mundwinkel wieder gen Boden zeigten. Er nahm nicht ab und starrte immer weiter auf das Bild seiner Frau. Wie hatte sie damals zu ihm gesagt? Er wäre ein phrasendreschender Egomane und doch hatte er sich in sie verliebt. Ein Teil des Puzzles, warum sein Leben zu dem geworden war, was es nun ist. Und so sehr er sich auch fragte, wie es dazu kommen konnte, dass er sich selbst so sehr verraten hatte; er fand immer nur Teile der Antwort.
Er nahm das Bild zur Hand und wie zum Spott sprach er es mit einer dieser Phrasen aus seiner Jugend an: „Manchmal muss man halt Prioritäten setzen!“.
Michael stand auf und verlies sein Büro. Der Kaffee wurde langsam kalt und hinter dem Fenster und dem angrenzenden Gehweg fuhr ein Auto vorbei, hinter dessen Steuer ein wild gestikulierender Mann saß, dessen Schlips verdreht um seinen Hals hing und dessen Kopf scheinbar unkontrolliert auf und ab ging.