Robin Hood reloaded
"Wollt ihr was Süßes?", fragte er die spielenden Kinder und kam sich ein wenig vor wie ein Pädofiler auf Beutefang. Der Spielplatz war schmutzig und abgenutzt, die Schaukeln quietschten und nur das warme Sonnenlicht erhellte die Atmosphäre ein wenig. Doch die Kinder schien das nicht groß zu stören, sie gingen konzentriert ihren fantasievollen Spielen nach. Aber wie sollte es auch, wo sie es doch nicht besser kennen, dachte er sich und hielt ihnen einen offenen Beutel mit Schokoriegeln entgegen. Die meisten Kinder ignorierten ihn. Dass sie ihn überhaupt bemerkt hatten, erkannte er nur daran, dass ihre Konzentration auf das Spiel für einen Augenblick nachgelassen hatte.
Ein kleiner Junge – zirka sechs Jahre alt – hatte die Schokoriegel jedoch gleich ins Visier genommen und kam langsam näher. Dabei hatte er dieses Misstrauen in den Augen, das typisch für Kinder einer Gesellschaft war, die den Nachwuchs wie selbstverständlich zu ihrem Nutzen verformte und ausnutzte. Blitzartig griff der Junge in die Tüte, nahm einen Riegel heraus und ging mit einen verschämten Lächeln zurück zu seiner Schaukel. Nun nahmen ihn sich auch die anderen Kinder zum Vorbild und fischten sich jeweils einen Schokoriegel aus der Tüte.
Während er die Kinder zufrieden beim Vertilgen ihrer Beute beobachtete, dachte er daran, wie er die Schokoriegel in dem Supermarkt um die Ecke geklaut hatte. Es dauerte nicht mehr lange, dann würden diese Kinder für die menschenverachtende Maschinerie eingespannt, für die dieser und jeder andere Supermarkt symbolisch stand. Die Schokoriegel sah er als eine Art vorgezogene Schadensbegleichung, die den Kleinen eine kurze Entspannungspause von der staatlichen Bildungsoffensive verschaffen sollte.
Einen Moment lang badete er in dem erhabenen Gefühl, zu den wenigen zu gehören, denen es wirklich um die Kinder ging. Nachdem die Kinder aufgegessen und sich wieder ihrem Spiel gewidmet hatten, wollte er gerade damit beginnen, ihnen davon zu erzählen, wie er an die Süßigkeit gekommen war und warum es manchmal okay sei zu stehlen. Doch als er in das lächelnde Gesicht eines der Mädchen schaute, bekam er keinen Ton mehr heraus. Tief im Inneren spürte er plötzlich, dass er nicht ganz ehrlich zu sich gewesen war. Er musste sich auf einmal fragen, war es wirklich Empathie zu den Kindern, die ihn veranlasste, die Schokoriegel zu verschenken? Oder war das doch nur seiner Ideologie zu verdanken? Schokoriegel waren kein brauchbarer Ersatz für das was diese Kinder wirklich bräuchten, das wusste er. Und dass sie geklaut und nicht gekauft waren, machte für sie keinen Unterschied. Nur ihm selbst verschaffte es den Kick ungehorsam sein und sich zu gleich wie ein Gutmensch fühlen zu können.
Ernüchtert durch seine Offenbarung, verließ er den Spielplatz und die Kinder winkten ihm zum Abschied hinterher. Das erschlichene Vertrauen in ihren Augen ließ alles in ihm taub werden.