Was ist neu

Ritus

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06.09.2012
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Ritus

Ein Schiffchen
fährt im Mondenschein
im Dreieck
um das Erbsenbein,
Vieleck groß,
Vieleck klein,
der Kopf,
der muss am Haken sein.

Anatomenwerkzeug​

Zwei Jahre Theorie hast du nun hinter dir.
Zwei Jahre langatmig-monotone Erklärungen deines dauerqualmenden Professors, der die Pfeife selbst in den Seminaren nicht aus dem Mund nimmt, qualme sie oder eben auch nicht.
Zwei Jahre, nach denen du die charakteristische Zahnlücke, die sein Rauchwerkzeug in seinem Gebiss hinterlassen hat, zielsicher als Pfeifenlücke zu identifizieren in der Lage wärst. Vorausgesetzt, er käme dir als Skelett unter.
Zwei Jahre auf alt getrimmte Gipsabdrücke von Ulna, Scapula, Femur et al., stets durchgereicht von Sven in der ersten Reihe, der sich damals geweigert hat, euch den charakteristischen Gang der Australopithecinen vorzuführen, der Strafe dafür, dass er gelacht hat über die tragenden Worte des Pfeifenrauchers.
Zwei Jahre geheimnisvolle Andeutungen, zwei Jahre Vorbereitung auf den Tag, an dem sich die Theorie von der Praxis trennen wird.
Zwei lange Jahre.
Vorbei die Zeit, in der man sich erzählt, Haste gehört? Fürn Menschenknochen hat er den Bärenfemur gehalten, in der Prüfung! – Was, im Ernst? Na, das is ja‘n Ding!, sowas wird dir nicht mehr passieren, du hast gelernt wie ein Irrer, kannst die Knochen nun lesen wie ein Buch, dir macht keiner mehr was vor.
Und nun ist er da, der Abend vor dem großen Tag. In Gedanken bei Rabenschnabelfortsatz, Epiphysenfugen und Schädelnähten schläfst du ein, den Sobotta wie eine Rüstung auf deiner Brust.

Der nächste Morgen, die Kommilitonen sind schon da und mit ihnen die einundzwanzig anderen Sobottas. Der Ponal Holzkleber schaut aus den Taschen, den muss man haben, keiner klebt Knochen besser außer Gehirnmasse selbst, das hat der Professor erzählt, und der muss es ja wissen nach vierzehn Jahren Rechtsmedizin. Du bist aufgeregt, schaust auf die Tür hier im Kellergeschoss, die das einzige ist, was dich jetzt noch vom Klassifizieren abhält, die Beleuchtung ist auch eher dürftig, und du findest, das passt zu euch Anthropologen, immer im Verborgenen, kaum beachtet und doch so essentiell, die großen Fragen beantwortend, so sexy.
Und da kommt er dann auch um die Ecke, der Professor, den Schlüssel hält er schon in der Hand, aber nein, noch ein paar letzte Worte, bevor man darf. Die Worte Totenruhe und Respekt kämpfen sich durch Knochenrauhigkeiten und Sesambeine, die sich in euren Hirnen festgesetzt haben, ihr seid unruhig, man hat ein Erbarmen. Der Schlüssel dreht sich im Schloss.
Der Weg ist frei.

Du betrittst den Saal. Da liegen sie. 14 Individuen aus einem 10000 Jahre alten bulgarischen Gräberfeld. Sorgsam in Gruppen von zwei oder drei in braune Pappkartons verfrachtet. Du wählst einen Karton mittlerer Größe, stellst deine Tasche ab, legst das schöne weiße Ponal, Zahnbürste und Notizblock bereit und siehst hinein: Schönheit. Ästhetik. In unzähligen Tüten, grob vorklassifiziert. Eine halbe Ulna. Eine Mandibula. Noch eine, aber kleiner. Ein halber Oberkiefer, noch einer. Noch kleiner als die Mandibula. Mit Alveolen, die so groß und zahlreich sind, dass man im ersten Moment denken könnte, die Würmer hätten sich ein neues Zuhause in den Knochen gefressen. Du lächelst, denn du weißt es besser. Es ist ein juveniles Individuum, das bald seine Milchzähne verloren hätte. Du greifst zur Zahnbürste, die du extra gekauft hast, weich müsse sie sein, sagte dein Professor, der abseits steht und euch abwartend beobachtet, und du gehst rüber zum Wasserhahn und beginnst mit der Reinigung. Ganz vorsichtig, denn dieser kleine Oberkiefer ist mit den Jahren nicht robuster geworden, im Gegenteil, er droht bei dem kleinsten Druck zu brechen, Knochen sind tricky, die werden porös, man hat dich gewarnt. Du gehst zurück zum Tisch, denn dort liegt der Beutel mit den Zähnen. Öffnest ihn vorsichtig und beginnst, langsam die Milchzähne von den anderen zu trennen. Und findet einen dritten I1. Da muss noch ein Juveniler sein, denkst du dir und schaust in den Karton. Und findest einen zweiten Scapula-Überrest in der passenden Größe. Aber das ist alles, was von dem zweiten, kindlichen, Individuum überdauert hat – abgesehen von ein paar Wirbeln, denn Wirbel sind zäh, und einem zerbrochenen Beckenknochen. Doch welchem der Juvenilen es gehört, das weißt du noch nicht. Du gehst also zum Plan des Fundortes, Maßstab 1:20, und siehst, dass der Scapula-Rest in unmittelbarer Nähe des, inzwischen bestimmten, ca. 20-jährigen weiblichen Individuums B4 gefunden wurde, nur Zentimeter entfernt von den Überresten des ersten Juvenilen B3. Beide Kinder

B2 und B3

befanden sich noch nicht einmal eine Armlänge von ihr entfernt. Du hast sie festgehalten, als es passierte …, sagst du leise analysierend – in Gedanken - zu ihr, der Frau

weibliches Individuum

deren Überreste dein Kommilitone still gesäubert hat und nun zusammenfügt. Aber was ist passiert? Du gehst zurück zu der Frau

Individuum!

und ihren Kindern

juvenile Individuen, B2 und B3, und es sind nicht ihre,
lass‘ den Scheiß, konzentrier‘ dich …

und nimmst Milchzahn um Milchzahn und fügst sie wieder ein. Und du hast Glück, denn die im Kiefer heranwachsende Dauerbezahnung ist fast vollständig im Kiefer erhalten. Nur einer ist im Laufe der Zeit herausgewittert, und selbst ihn findest du sehr schnell. Und du setzt dich und schaust ihn dir an, diesen kleinen Zahn. Den kleinen Oberkiefer. Du siehst dir die Knochen der Frau

was, wenn es ihre Mutter war

an, die es festgehalten hat. Und du erkennst Prämortem-Frakturen an ihrem Schädel, an ihren Unterarmknochen

hat der Prof nicht gesagt, es wäre ein Erdrutsch gewesen,
ein Erdrutsch verursacht sowas doch nicht, das ist … ist …

und du siehst dich um und siehst überall tote Männer

Väter?

Frauen

Mütter …

und Kinder

sind das Säuglinge da drüben?

und die Männer zeigen nun alle Anzeichen eines Kampfes. Ihre Rippen mehrfach gebrochen, die Schädel eingeschlagen; die Frauen zeigen alle klassische Abwehrverletzungen. Das Becken des Kindes, das du in deinen Händen hältst, wurde

zertreten, jemand hat es zertreten

gebrochen.
Und dann siehst du sie. Die Kerben an dem kleinen Knochen, zu symmetrisch, zu parallel, Schabspuren

eine Klinge, das war eine Klinge, die haben ihm das Fleisch …

und du hältst ihn ganz fest. Deine Gedanken zerfallen zu einem neuen Bild. Ein dunkles Bild. Ein echtes Bild. Realität.
Zeugnis.
Vergessen sind alle Eselsbrücken; dieses Grauen kennt keine Erleichterung. Du siehst dich um. Suchst das Abstrakte in den Gesichtern der Anderen. Aber du findest es nicht mehr. Da ist keine Distanz in ihrem Ausdruck, kein Anker. Keine Worte.
Nur Begreifen.

Entsetzen.

Totenstille.


Initiation.

 

Servus,

mich hat es gereizt, mal eine Geschichte in der zweiten Person zu schreiben.
Die Gedankenfetzen habe ich absichtlich so gesetzt, in der Hoffnung, dass sie entsprechend wirken mögen.

:Pfeif:

Bin gespannt auf eure Kommentare...
*bibber*

PSS

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Purersternenstaub,

also ich hab das sehr gerne gelesen.
Sehr fremdartig war es für mich.
Sehr gut gefiel mir, wie mitten in diesem Pathologiesaal (nennt man das so) und neben seinen Prüfungsaufgaben sich die wahren Ereignisse hinter dem Tod der Leichen aus dem bulgarischen Gräberfeld in seine Gedanken schleichen.

Es gab ein/zwei Stellen, die mir etwas lang erschienen.
Das war in den mittigen Abschnitten.

Der nächste Morgen, die Kommilitonen sind schon da und mit ihnen die einundzwanzig anderen Sobottas. (...) Der Weg ist frei.

und

Du betrittst den Saal. (...) Beide Kinder

Der Schluss ist mir - peinlich, aber so ist es - nicht ganz klar.
Vielleicht liegt es an mir, vielleicht sagen andere dir ja dasselbe.

Ja, sehr fremdartig, sehr interessant.
Hat Spaß gemacht, es zu lesen.
Viele Grüße
Novak

PS: Also die Erzählform in der 2. Person. Das ist komisch, ich hätte das jetzt gar nicht gemerkt, dass du uns Leser die ganze Zeit "duzt". Ich mag das normalerweise nicht, hier ist es mir nicht aufgefallen. Vielleicht liegt es daran, dass der Erzähler ja trotzdem so viel über sich selbst erzählt. Und man von diesem vielen Knochenkram total abgelenkt wird.

Nachträgliches Edit
Dank Möchtegern hab ich den Text kapiert. Hoff ich.
Die sind tatsächlich getötet und gefressen worden. Alle. Die Männer haben sich gegen die Angreifer gewehrt, die Frauen auch und die Kinder wurden endgültig gefressen.
Die Initiation, das war für mich das Schwierige, besteht darin, dass hinter dem wissenschaftlichen Ergründen die tatsächliche Geschichte aufscheint und sich bei allen in das Bewusstsein drängt.

 

Das ist ja der HAMMER!

Ich sitz gerade an einem Text mit der gleichen (sehr sehr ähnlichen) Grundidee. Ich bin völlig fasziniert und platt und möchte dich gleichzeitig mit Femura und Tibia verdreschen ;)
(Bist du vom Fach? Ich tu mich mit der Recherche relativ schwer und sehe jetzt angesichts deines Textes, dass ich niemandem vorgaukeln kann ... ich werd meinen Kram irgendwie anders aufziehen müssen ...)

Zum Text kann ich gerade gar nicht so viel sagen, weil ich noch zu baff bin.
Meine Interpretation: zwei Gruppen trafen aufeinander, die Männer haben gekämpft, die Frauen wurden und Kinder wurden ermordet, die Kinder wurden gegessen.
Die Du-Perspektive - tja, die hat nicht viele Freunde, mich eigentlich auch nicht. Hier finde ich sie erstaunlich angenehm zu lesen (für eine Du-Perspektive), was allerdings blöd ist, durch die Perspektive zerschießt es dir diesen Satz: "Du hast sie festgehalten, als es passierte …, sagst du leise analysierend – in Gedanken - zu ihr, der Frau"
Also, du hast das schon gut gelöst gleich, gleich klargemacht, dass in diesem einen Fall mit "du" die Frau gemeint ist. Aber trotzdem, das ist ja so der eine Punkt, wo der Abstand bröckelt, wo der Erzähler anfängt mit der Person hinter den Knochen zu sprechen. Wäre der Text ansonsten in der Ich-Form, wäre der Satz hier stärker, würde mehr hervorstechen.

Immer noch verblüffte Grüße,
MG

 

Liebe Novak,

ich finde es toll, dass du das Geschriebene als fremd bezeichnest, das war ein bisschen meine Absicht. Also ich wollte diesen Unterton drin haben, dass der Erzähler es so lapidar formuliert, dabei erzählt er ja Dinge, die den meisten Menschen nicht geläufig sind. Und auch ein wenig abschreckend vielleicht. Diese Überheblichkeit am Anfang, man kann alles, nichts kann einen umhauen, wenn es um Skelette geht.
Wenn ich das transportieren konnte, dann bin ich sehr glücklich.

Dass der Inhalt teilweise etwas speziell ist, war nicht zu vermeiden, wollte ich auch nicht. Wenn man Anthropologie studiert, beginnt man tatsächlich, anders zu reden, sobald es um Anatomie geht. Gleichzeitig gehen Berührungsängste flöten.

Und deine Interpretation ist korrekt. Man hat das Muskelfleisch von den Knochen geschabt. Die Frage, ob das nur bei den Kindern der Fall war, oder auch bei den erwachsenen Individuen der Fall war, wird durch die Totenstille beantwortet. Alle schweigen, als sie begreifen, wovon sie da Zeuge werden.

Mit der Initiationserklärung liegst du auch richtig.
Was ich da beschreibe, ist mein erster Tag des osteologischen Praktikums. Das ist Jahre her, fühlt sich aber an wie gestern. Man betrat den Raum, den Kopf voller Wissen, das man sich reingeprügelt hat, war theoretisch bestens gerüstet. Nur war das das erste Mal, dass wir einen echten Menschenknochen in die Hand bekamen. Das alleine hat schon viel an der Stimmung gedreht. Und als wir dann die Spuren entdeckten, ja, da war's ehrlich gesagt aus bei vielen.
Ich habe noch nie vorher (und auch nachher nicht) erlebt, wie Menschen wirklich verstummen, aus diesem erkenntnisprozess heraus. Und dann nur noch starren können.
Das war eine Zäsur in unserem Leben, ich glaube, das passiert den meisten Anthro-Studenten. Wenn man plötzlich begreift, was man da tut. Das war ganz, ganz groß.
Deshalb Initiation, es passt perfekt.

Und dein Hinweis auf den einen Stolperer ... Ja, das ist mir auch aufgefallen. Ich wollte dieses erste Rantasten an das Verlieren der Distanz aber unbedingt so drin haben, deshalb hab ich es doch gewagt.
Mal sehen, was die anderen sagen... :Pfeif:

Danke für deine Zeit,
PSS


Liebe Möchtegern,

was soll ich sagen....Erster! :p

Ich fühle mich ehrlich gesagt geehrt! :) Gestern (?) war ich noch hin und weg von deinem Tentakelsex mit Dehydratationseffekt, und heute das! Wow, danke... :shy:
Ja, ich bin vom Fach, und ich kann mir vorstellen, dass es eine ganz schöne Aufgabe ist, sich da reinzuarbeiten. Deshalb: Respekt!
Ach ja, wenn ich wählen darf, dann bitte eine Tibia. Und bitte nicht zu fest.

Was ich am Tollsten fand war, dass ihr beide irgendwie nicht gemerkt habt, dass ich die 2. Person als Erzählperspektive gewählt hab, das find ich so klasse.
Ich mag die eigentlich auch nicht. Und wenn, dann muß der Text so plätschern, mit längeren Sätzen. Nur dann funktioniert es bei mir, deshalb ich es hier auch so gemacht.

Yippiiie!

Ach ja: Deine Geschichte würde ich aber schon gerne lesen, ne? :)

Liebe Grüße,
PSS

 

Hallo,
ich mach nur eine kurze Geschmackskritik::

Was mir sehr gut gefallen hat, war die erste Hälfte, die Exposition der Geschichte, wie das aufgebaut wird. Der Professor, die Dauer der Ausbildung, die Pfeifenlücke vor allem, also dieses ganze "Wir sind ehrgeizig, wir stehen miteinander im Wettbewerb, wir haben theoretisches Wissen."
Das fand ich sehr gut, sehr zügig erzählt, klare Bilder, viel Potential für Konflikt (grade die Rivalität), sehr gut.


. In Gedanken bei Rabenschnabelfortsatz, Epiphysenfugen und Schädelnähten schläfst du ein, den Sobotta wie eine Rüstung auf deiner Brust.

Der nächste Morgen, die Kommilitonen sind schon da und mit ihnen die einundzwanzig anderen Sobottas. Der Ponal Holzkleber schaut aus den Taschen, den muss man haben, keiner klebt Knochen besser außer Gehirnmasse selbst, das hat der Professor erzählt

Das war für mich der Höhepunkt des Textes, grade das "Sobotta" - das ist wohl irgendein Standardwerk - und dass es dann fast wichtiger ist, dass die alle da sind und die Studenten hängen nur an diesen Büchern dran - das fand ich sprachlich einen ganz starken Einfall.

Der Hauptteil der Geschichte, was dort im Pathologiesaal tatsächlich abgeht, hat mich ein bisschen enttäuscht, weil die Erwartungshaltung auch recht hcoh war, und dann hast du dieses Gimmick mit einer gegenlaufenden Gedankenstimme - das hat mich nicht so überzeugt, das kennt man auch schon, und es ist immer schwer umzusetzen, weil es auch suggeriert, man denke so klar, in Wirklichkeit denkt man doch mehr in Subtext und alles geht durcheinander und man hat nicht formulierte Ahnungen usw.
Das ist halt das Problem bei "text" auch, dass immer nur ein Satz grade vorne ist, es ist nicht so - wie es dem Denken entspricht - dass gar nix vorne ist und alles eine undefinierbare Masse im Hintergrund, wo was rauslugt.

Auch die "Pointe" des Textes ist ja dann relativ ein Gemeinplatz: Theorie ist nicht Praxis. Und wenn "Objekte" ein Gesicht kriegen, ist es immer schwer.

Das ist halt in allen Variationen schon oft dagewesen. Ich musste an "Wall Street" denken. Es ist theoretisch okay, Existenzen zu ruinieren, solange es um Zahlen um Nummern geht, aber wenn dann die kleine Firma, in der der Vater arbeitet, vom Bankrott bedroht ist und all das kriegt ein Gesicht, dann ist es eben nicht mehr okay.
Das ist mir als "Pointe", als großen Gedanken eines Textes, zu wenig, auch wenn es hier in dem Umfeld gut rüberkommt.
Aber ich denke, das ist halt - so wie du es wohl sagst - ein selbst erlebtes Schlüsselerlebnis, das für dich da sehr wichtig war, ich finde es ist eben schon oft bearbeitet worden und hätte mir gewünscht, die Geschichte wäre in eine andere Richtung gegangen (vielleicht die Rivalität unter den Studenten stärker betont, das ist immer ein dankbares Feld, finde ich).

Das ist halt jetzt - wie ich schon sagte - keine Kritik, aus der man wahnsinnig viel mitnehmen kann, sondern eine reine Geschmackssache auch. Hoffe, du kannst damit trotzdem was anfangen.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,


Ich freue mich, dass ich da eine gute Erzählstimme gefunden habe, zumindest im ersten Teil. :)

Deiner Kritik kann ich eigentlich nur zustimmen, es ist altbekannt und nichts Neues. Allerdings ist so ziemlich alles, was man liest - also das zu Vermittelnde - nur sehr selten etwas Neues. Theorie ist nicht Praxis, ja, aber was ich viel eher vermitteln will, ist: Es kommt immer anders, als man denkt.

Jedoch ist das echt Geschmackssache, das stimmt.

Das mit dem sich plötzlich ändernden Erzählfluss im zweiten Teil hat einen Grund. Es sollte sich ein bisschen wie 'ne abrupt reingehauene Handbremse anfühlen. Deshalb auch vermehrt kürzere Sätze. Man soll das Jetztgerade irgendwie fühlen.
Die unterschiedliche Setzung der Gedankenfetzen sollten eben genau diesen Unterschied zwischen Gedankenkomplex schnurbelt im Hintergrund und einem plötzlich glasklaren Erkennen verdeutlichen.
Hm. :hmm:
Hat das gar nicht geklappt?

Danke, dass du mir deine Gedanken dazu hast zukommen lassen, Geschmackskritik hin oder her. :)

Nachdenkliche Grüße,
PSS

 

Hej PSS,

ich hab's eben nochmal gelesen, der Text geht mir natürlich nicht mehr aus dem Kopf jetzt.
Die Du-Perspektive hat mich immer noch nicht genervt, das ist wirklich einer der ganz wenigen Texte, wo ich damit zurechtkomme.
Mir ist jetzt der Satz aufgefallen:

Zwei Jahre auf alt getrimmte Gipsabdrücke von Ulna, Scapula, Femur et al., stets durchgereicht von Sven in der ersten Reihe, der sich damals geweigert hat, euch den charakteristischen Gang der Australopithecinen vorzuführen, als Strafe dafür, dass er gelacht hat über die tragenden Worte des Pfeifenrauchers.
Also mir ist aufgefallen, dass ich den nicht verstehe :D
Sven hat sich geweigert den Gang vorzuführen als Strafe dafür, dass er gelacht hat? Also, er selbst hat gelacht, und dann bestraft er andere dafür, indem er sich weigert? Ich bin verwirrt.

Dann völlig aus dem Zusammenhang meine Lieblingssätze:
"die Beleuchtung ist auch eher dürftig, und du findest, das passt zu euch Anthropologen, immer im Verborgenen, kaum beachtet und doch so essentiell, die großen Fragen beantwortend, so sexy.
Und da kommt er dann auch um die Ecke, der Professor, den Schlüssel hält er schon in der Hand, aber nein, noch ein paar letzte Worte, bevor man darf."

Es sollte sich ein bisschen wie 'ne abrupt reingehauene Handbremse anfühlen. Deshalb auch vermehrt kürzere Sätze. Man soll das Jetztgerade irgendwie fühlen.
Die unterschiedliche Setzung der Gedankenfetzen sollten eben genau diesen Unterschied zwischen Gedankenkomplex schnurbelt im Hintergrund und einem plötzlich glasklaren Erkennen verdeutlichen.
Also, bei mir hat das geklappt, ich hab eine sehr ähnliche Situation mal gehabt, und bei mir hat der Text (glaube ich) alles genau so ausgelöst, wie du das haben wolltest.
Dummerweise kann man sich ja nicht drauf verlassen, dass alle deine Leser irgendwann mal von einer empathischen Reaktion überwältigt waren, bloß weil sie Knochen gesehen haben.
Deswegen (das ist jetzt ein Schuss ins Blaue, bei mir hat es wie gesagt funktioniert): vielleicht klappt der zweite Teil nicht, weil Leser da eben nicht mitfühlen? Die Umsetzung mit den Gedankenfetzen, vielleicht bleibt da zu viel Distanz, weil eben nur so ein paar Fetzen hingeworfen werden. Der Leser macht sich eben kein Bild von der Geschichte, die den Bulgaren damals passiert ist. Und der Teil, der spätestens "schocken" sollte, Kannibalismus, Kinder werden gegessen, das ist vielleicht so verschlüsselt mit den Schabspuren, dass es nicht unbedingt verstanden wird?
Ob das irgendwie klappen könnte, wenn du den zweiten Teil sprachlich an den ersten anpasst, dieses Spiel mit dem Gedankenstrom nicht machst sondern das anders erzählst?
Keine Ahnung.
Nochmal: bei mir trifft der Text ins Schwarze.

LG,
MG

PS:

Ach ja: Deine Geschichte würde ich aber schon gerne lesen, ne?
Ich schreibe mit der Feurigkeit einer Weinbergschnecke, aber falls ich meine Version dieses Textes fertig bekomme, kann ich dich als Testleser und rechtsmedizinischen Experten anheuern? ;)

 

Hi PurerSternenstaub,

der Satz, den Möchtegern zitiert hat, der ist mir auch aufgefallen.

Zwei Jahre auf alt getrimmte Gipsabdrücke von Ulna, Scapula, Femur et al., stets durchgereicht von Sven in der ersten Reihe, der sich damals geweigert hat, euch den charakteristischen Gang der Australopithecinen vorzuführen, als Strafe dafür, dass er gelacht hat über die tragenden Worte des Pfeifenrauchers.

Einfach damit du weißt, dass die Unverständlichkeit des Satzes nicht so eine einzelne, zufällige Sache ist.
Du meinst damit, dass Sven aus der ersten Reihe irgendwann einmal über den Prof gelacht hat, als der gerade sätzemäßig gut abging. Dann bestrafte der Prof den Frevler Sven. Er sollte den den Gang eines Urmenschen nachahmen, Sven aber hat sich geweigert.
Vielleicht packst du es besser in zwei Sätze. Machs jedenfalls besser als ich eben :dozey:

Und zu deiner Handbremse:
Ja, auch bei mir hat das geklappt. Es stimmt schon, dass Gedanken nicht so klar reinbrechen in einen armen menschlichen Kopf wie deine Satzfetzen und Fragen das suggerieren. Aber die ganze Geschichte ist schon eher surreal. Ja, vielleicht übertrieben, aber bewusst fremd gezeichnet.
Ich habe den Wechsel als eine notwendige Überzeichnung (einen legitimen Kniff) genommen, die den Leser in all dem Geklebe und Knochenbegucke dann zu der Erkenntnis führt, was sich hinter den Knochen verbirgt.
Ich würde auch eher befürchten, dass es nicht kapiert wird, wenn du das nicht so verdeutlichst, wie du das gemacht hast.

Liebe Grüße
Novak

 
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Ach du heiliger Femur,

was ist mir denn da passiert??
Den Satz werde ich mal semantisch zurechtrücken. Und zwar so ziemlich bald/gleich/jetzt. Oh Gott.
:shy: :Pfeif:

Und zum zweiten Teil des Textes:
Es reizt mich schon, auch diesen Teil im Stil des ersten zu schreiben. Aber ob ich da die Überleitung zum Schluss so einfach hin bekomme...oh je.
Also versuchen werde ich es mal.
Würdet ihr euch das dann nochmal anschauen?
Jetzt habt ihr mir 'nen Floh ins Ohr gesetzt... :)

Ambitionierte Grüße
und danke für euer aufmerksames Lesen!

PSS

P.S.: Liebe Möchtegern, klar mach' ich das, aber bedenke eines: Ich bin kein Rechtsmediziner, nur Anthropologe, ne? :schiel: Schreib' mir einfach 'ne PM, wenn's ernst wird. :)

Nachtrag:
So, geändert. Allerdings habe ich den jetzt so oft gelesen, dass mir die Grammatik der deutschen Sprache ein Rätsel geworden ist. [Kennt ihr das Gefühl?] Ergebnis: Ich kann gerade nicht mehr abschätzen, ob ich da jetzt voll daneben gegriffen habe. :eek:
Will so wenig wie möglich am Satzbau ändern, sonst funktioniert er irgendwie nicht mehr...

 
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Hej Purersternenstaub,

ich mag die knappen Personenbeschreibungen, mir gefällt die gewählte Perspektive und die Botschaft (falls ich sie denn richtig verstehe):

Nach einer langen Vorbereitung erhofft man sich einiges und erwartet noch mehr und die ganze Zeit ist man so wundervoll abstrakt oder eben nur sehr, sehr beschäftigt, ohne dies je zu bemerken, bis plötzlich ein Etwas daher kommt (in diesem Fall ein bzw mehrere Knochen) und soviel mehr an wirklichem Leben zu enthalten scheint und eigentlich nur ein ganz kleines, zufälliges Stück Wahrheit ist, so offensichtlich kleiner und unbedeutender als man selbst und trotzdem schafft es dieses kleine, leblose Teil, dass man still wird und innehält, und es bietet (wodurch es zweifellos mächtiger wirkt als es ist, aber das begreift man erst viel später) die Möglichkeit, etwas Grundlegendes zu begreifen.

Ich hab das sehr gerne gelesen.

LG
Ane

 

Einen Satz führte ich trotz des realen Horrors eher ungewollt und automatisch in meiner pietätslosen Art fort

Sorgsam in Gruppen von zwei oder drei in braune Pappkartons verfrachtet …
und vielleicht kommt jemand bis zum Ende der Zeilen auf mir aufgezwungene Fortführung des Satzes, dass ich ihm wie mir noch Nützlichkeit nach dem Tode nicht nur als Dünger wünsche.

„Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. Wenn man eine anatomische Analogie für dasselbe sucht, kann man es am ehesten mit dem »Gehirnmännchen« der Anatomen identifizieren, das in der Hirnrinde auf dem Kopf steht, die Fersen nach oben streckt, nach hinten schaut und, wie bekannt, links die Sprachzone trägt“ – beschwor uns seinerzeit der Seelenklempner Freud im Ich und das Es,

liebe PSS,

und er hätte befunden, dass diese Zone bei Dir ausgereift wie selten sonst sei, dachte ich, als mir diese Geschichte unters Auge geriet –

und ich habbet jeahnt, spätestens als als ich Dein Zweitgeborenes sah, und auch Dein Thema: scheinbar der Tod in all seinen Gewandungen / Verkleidungen, tatsächlich aber's Leben.

Und nun nimmstu uns mit in die Paläoanthropologie, oder genauer, in einen kleinen Ausschnitt während der Ausbildung, weit weg vom Fundort. Und da sage mir keiner, CG Jungs Archetypen oder auch die Idee eines Kollektivgedächtnisses wäre Blödsinn. Es ist wie im OP, in dessen Team der eine oder die andere kein Blut sehen kann und man entwickelt auch da seine eigenen Riten (daher eine Möglichkeit der Titelfindung), um die Phasen der weichen Knie zu überstehen, denn Riten mögen vom Ursprung her religiös begründet sein, tatsächlich ist es umgekehrt: um die finstersten Verhältnisse zu überstehen sind sie vor-religiösen Ursprungs, denn auch Tiere - nicht nur domestizierte - entwickeln Riten, Angst und Leid zu überstehen. Und mit der Initiation wird der junge Mensch auf die Geheimnisse der Welt „eingeweiht“.

Bliebe eine minimale Entdeckung für die Kleinkrämerseele

immer aus-einander, da eine Verkürzung von so [et]was!

Gern gelesen und aufs nächste Werk gespannt ist der

Friedel

Um auch die Bretzel von oben zu schlucken, hier der verschwiegene Satz:

Sorgsam in Gruppen von zwei oder drei in braune Pappkartons verfrachtet[, weil der Mensch nicht gern allein sei].

 

Ach Friedel,

du tust meiner Seele gut.
Und das meine ich - auch, wenn du den inflationären Gebrauch dieses Wörtchens beklagst - wirklich ernst.

Lächelnd,
PSS

 

So musset & soll't auch sein.

sacht der Ruhr(s)pöttler,
nicht ohne brav den Wunsch auf'n schön' Wochenende hinterherzuschieben ...

 
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Hallo Pss,

du scheinst mir, durch die art deiner postings und auch durch beiträge wie diesen eine große bereicherung für kg.de zu werden! :)

mir hat dein text besonders in der ersten hälfte außerordentlich gut gefallen, gerade auch wegen der kleinen beobachtungen wie der ponalflasche, die hier auf ungeahnte weise zweckentfremdet wird, der prof, kurz und knackig charakterisiert, die stimmung zwischen den kommilitonen, - ja die rivalität könnte man noch an einer oder anderen stelle einbauen, da reicht schon ein nebensatz, um der geschichte auch auf dieser ebene etwas würze und konfliktpotential zu verleihen.

Ein Schiffchen
fährt im Mondenschein
im Dreieck
um das Erbsenbein,
Vieleck groß,
Vieleck klein,
der Kopf,
der muss am Haken sein

> tolles gedicht!!! gefunden oder selbst erfunden?!

viele grüße petdays,

ps: deine anthrologiekenntnisse sind zu beneiden.

 

Hallo petdays,

vielen Dank für die Blumen :shy:

Also ... die KG ist ganz komisch entstanden, von der Mitte her. Den Saalteil hatte ich als erstes geschrieben, dann den Beginn, dann den Schluss inkl. Gedankenfetzen. In Bezug auf die Entstehung des ersten Teils war diese Reihenfolge genau richtig, glaube ich, denn er sollte einen Kontrast zum Mittelteil darstellen. Da mussten zwei Jahre in ein paar Sätzen untergebracht werden, deshalb müssen die Sätze selbst rennen. Das ist mir ganz gut gelungen, denke ich.
Auf Rivalitätenzeichnung im Mittelteil habe ich bewusst verzichtet, da das auch nicht der Realität entspricht. Man ist so fokussiert, dass man die Anderen phasenweise überhaupt nicht mehr wahrnimmt. Es ist nur noch ein Jetztgerade.
Der Schluß war ursprünglich ein ganz anderer, in etwa:

Es gibt Tage, nach denen wird ein Milchzahn nie wieder bloß ein Milchzahn sein.

das war mir viel zu diffus, denn ich wollte sowas wie eine Punktlandung im Gefühl am Schluß. Verstehst du?

Und das Gedicht gehört zu den Mnemotechniken, ein Lernwerkzeug der Anatomie. Es ist das Bekannteste (Aufzählung der Mittelhandknochen) und musste einfach an den Anfang. Wenn dir das gefallen hat, hier noch eins für dich (Schädelbasis) :

:teach:
Stines sieben Keiler sind hintersinnige Schleimer.

Kreativitätsmangel kann man dem Anatomevölkchen jedenfalls nicht vorwerfen. :silly:

Ich danke dir!
PSS

 

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