Mitglied
- Beitritt
- 06.09.2012
- Beiträge
- 174
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Ritus
fährt im Mondenschein
im Dreieck
um das Erbsenbein,
Vieleck groß,
Vieleck klein,
der Kopf,
der muss am Haken sein.
Anatomenwerkzeug
Zwei Jahre Theorie hast du nun hinter dir.
Zwei Jahre langatmig-monotone Erklärungen deines dauerqualmenden Professors, der die Pfeife selbst in den Seminaren nicht aus dem Mund nimmt, qualme sie oder eben auch nicht.
Zwei Jahre, nach denen du die charakteristische Zahnlücke, die sein Rauchwerkzeug in seinem Gebiss hinterlassen hat, zielsicher als Pfeifenlücke zu identifizieren in der Lage wärst. Vorausgesetzt, er käme dir als Skelett unter.
Zwei Jahre auf alt getrimmte Gipsabdrücke von Ulna, Scapula, Femur et al., stets durchgereicht von Sven in der ersten Reihe, der sich damals geweigert hat, euch den charakteristischen Gang der Australopithecinen vorzuführen, der Strafe dafür, dass er gelacht hat über die tragenden Worte des Pfeifenrauchers.
Zwei Jahre geheimnisvolle Andeutungen, zwei Jahre Vorbereitung auf den Tag, an dem sich die Theorie von der Praxis trennen wird.
Zwei lange Jahre.
Vorbei die Zeit, in der man sich erzählt, Haste gehört? Fürn Menschenknochen hat er den Bärenfemur gehalten, in der Prüfung! – Was, im Ernst? Na, das is ja‘n Ding!, sowas wird dir nicht mehr passieren, du hast gelernt wie ein Irrer, kannst die Knochen nun lesen wie ein Buch, dir macht keiner mehr was vor.
Und nun ist er da, der Abend vor dem großen Tag. In Gedanken bei Rabenschnabelfortsatz, Epiphysenfugen und Schädelnähten schläfst du ein, den Sobotta wie eine Rüstung auf deiner Brust.
Der nächste Morgen, die Kommilitonen sind schon da und mit ihnen die einundzwanzig anderen Sobottas. Der Ponal Holzkleber schaut aus den Taschen, den muss man haben, keiner klebt Knochen besser außer Gehirnmasse selbst, das hat der Professor erzählt, und der muss es ja wissen nach vierzehn Jahren Rechtsmedizin. Du bist aufgeregt, schaust auf die Tür hier im Kellergeschoss, die das einzige ist, was dich jetzt noch vom Klassifizieren abhält, die Beleuchtung ist auch eher dürftig, und du findest, das passt zu euch Anthropologen, immer im Verborgenen, kaum beachtet und doch so essentiell, die großen Fragen beantwortend, so sexy.
Und da kommt er dann auch um die Ecke, der Professor, den Schlüssel hält er schon in der Hand, aber nein, noch ein paar letzte Worte, bevor man darf. Die Worte Totenruhe und Respekt kämpfen sich durch Knochenrauhigkeiten und Sesambeine, die sich in euren Hirnen festgesetzt haben, ihr seid unruhig, man hat ein Erbarmen. Der Schlüssel dreht sich im Schloss.
Der Weg ist frei.
Du betrittst den Saal. Da liegen sie. 14 Individuen aus einem 10000 Jahre alten bulgarischen Gräberfeld. Sorgsam in Gruppen von zwei oder drei in braune Pappkartons verfrachtet. Du wählst einen Karton mittlerer Größe, stellst deine Tasche ab, legst das schöne weiße Ponal, Zahnbürste und Notizblock bereit und siehst hinein: Schönheit. Ästhetik. In unzähligen Tüten, grob vorklassifiziert. Eine halbe Ulna. Eine Mandibula. Noch eine, aber kleiner. Ein halber Oberkiefer, noch einer. Noch kleiner als die Mandibula. Mit Alveolen, die so groß und zahlreich sind, dass man im ersten Moment denken könnte, die Würmer hätten sich ein neues Zuhause in den Knochen gefressen. Du lächelst, denn du weißt es besser. Es ist ein juveniles Individuum, das bald seine Milchzähne verloren hätte. Du greifst zur Zahnbürste, die du extra gekauft hast, weich müsse sie sein, sagte dein Professor, der abseits steht und euch abwartend beobachtet, und du gehst rüber zum Wasserhahn und beginnst mit der Reinigung. Ganz vorsichtig, denn dieser kleine Oberkiefer ist mit den Jahren nicht robuster geworden, im Gegenteil, er droht bei dem kleinsten Druck zu brechen, Knochen sind tricky, die werden porös, man hat dich gewarnt. Du gehst zurück zum Tisch, denn dort liegt der Beutel mit den Zähnen. Öffnest ihn vorsichtig und beginnst, langsam die Milchzähne von den anderen zu trennen. Und findet einen dritten I1. Da muss noch ein Juveniler sein, denkst du dir und schaust in den Karton. Und findest einen zweiten Scapula-Überrest in der passenden Größe. Aber das ist alles, was von dem zweiten, kindlichen, Individuum überdauert hat – abgesehen von ein paar Wirbeln, denn Wirbel sind zäh, und einem zerbrochenen Beckenknochen. Doch welchem der Juvenilen es gehört, das weißt du noch nicht. Du gehst also zum Plan des Fundortes, Maßstab 1:20, und siehst, dass der Scapula-Rest in unmittelbarer Nähe des, inzwischen bestimmten, ca. 20-jährigen weiblichen Individuums B4 gefunden wurde, nur Zentimeter entfernt von den Überresten des ersten Juvenilen B3. Beide Kinder
B2 und B3
befanden sich noch nicht einmal eine Armlänge von ihr entfernt. Du hast sie festgehalten, als es passierte …, sagst du leise analysierend – in Gedanken - zu ihr, der Frau
weibliches Individuum
deren Überreste dein Kommilitone still gesäubert hat und nun zusammenfügt. Aber was ist passiert? Du gehst zurück zu der Frau
und ihren Kindern
lass‘ den Scheiß, konzentrier‘ dich …
und nimmst Milchzahn um Milchzahn und fügst sie wieder ein. Und du hast Glück, denn die im Kiefer heranwachsende Dauerbezahnung ist fast vollständig im Kiefer erhalten. Nur einer ist im Laufe der Zeit herausgewittert, und selbst ihn findest du sehr schnell. Und du setzt dich und schaust ihn dir an, diesen kleinen Zahn. Den kleinen Oberkiefer. Du siehst dir die Knochen der Frau
was, wenn es ihre Mutter war
an, die es festgehalten hat. Und du erkennst Prämortem-Frakturen an ihrem Schädel, an ihren Unterarmknochen
hat der Prof nicht gesagt, es wäre ein Erdrutsch gewesen,
ein Erdrutsch verursacht sowas doch nicht, das ist … ist …
und du siehst dich um und siehst überall tote Männer
Väter?
Frauen
Mütter …
und Kinder
sind das Säuglinge da drüben?
und die Männer zeigen nun alle Anzeichen eines Kampfes. Ihre Rippen mehrfach gebrochen, die Schädel eingeschlagen; die Frauen zeigen alle klassische Abwehrverletzungen. Das Becken des Kindes, das du in deinen Händen hältst, wurde
gebrochen.
Und dann siehst du sie. Die Kerben an dem kleinen Knochen, zu symmetrisch, zu parallel, Schabspuren
und du hältst ihn ganz fest. Deine Gedanken zerfallen zu einem neuen Bild. Ein dunkles Bild. Ein echtes Bild. Realität.
Zeugnis.
Vergessen sind alle Eselsbrücken; dieses Grauen kennt keine Erleichterung. Du siehst dich um. Suchst das Abstrakte in den Gesichtern der Anderen. Aber du findest es nicht mehr. Da ist keine Distanz in ihrem Ausdruck, kein Anker. Keine Worte.
Nur Begreifen.
Entsetzen.
Totenstille.
Initiation.