- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Ritus
Heute soll Jesus gekreuzigt werden und Aurel ist Gott. Er wird den Heiland auswählen, an dem sich nach seinem Tode die zwölf Jünger vergehen werden, allen voran der ungläubige Thomas, welcher erst seinen Finger in die Wunde stecken muss, um zu glauben, was er sieht.
Aurel geht durch eine bereits ekstatisch wogende Menge, bis er sie erkennt- seine Jesus, seine Tochter, Tochter Gottes.
Er legt seine Hand an ihre Wange und dreht ihren Kopf zu sich. Ihr schwarzes Haar klebt feucht in ihrem Gesicht, er streicht es zur Seite und enthüllt hohe Wangenknochen und Augen, die ihn unter schweren Lidern anblicken.
Es ist still und die Welle, die durch aller Körper wogte, verebbt, sie werden ruhig, und alle richten sich nach Aurel aus. Aurel ist das goldene Licht dieser dunklen Nacht.
Durch einen Kuss erleuchtet er auch sie, seine Tochter, seinen Messias.
Zwölf Männer treten aus der Menge, und das Mädchen nähert sich einem, legt ihr Gesicht unter den Augen der anderen an seines, und haucht ihm ein erschöpftes „Judas“ ins Ohr.
Die zartgliedrigen Finger des Verräters packen mit unerwarteter Kraft ihren Kiefer. Er sieht sie eine Weile an, sie schließt schwer atmend die Augen, kaum schlucken könnend, bis er ihr lange die Lippen auf den geöffneten Mund drückt. Als er endlich den Kuss löst, bricht die Menge in Jubel und Tumult aus. Zwei weitere Männer treten hervor, packen sie, legen ihr die Arme auf den Rücken und schleppen sie, die willenlos Gewordene, durch einen Korridor von schreienden Menschen, an dessen Ende ein Kreuz steht. Sie wird festgebunden und nacheinander steigen alle auf das Kreuz, um sich ein Stück an der zu versündigen, die eigentlich für die Verderbtheit der Sünder sterben sollte.
Über allem steht Aurel, ein Lächeln auf den Lippen.
Er legt sanft seinen Mund an ihr Ohr und flüstert: „Die Sonne geht bald auf.“
Amalia wacht auf, und dreht sich zu ihm um.
„Aurel? Bist du gerade erst gekommen?“
Sie setzt sich auf und nimmt ihn in den Arm, streift mit ihren Lippen seine Wange.
„Schlaf noch. Ich wollte nur…“, er unterbricht sich und sieht sie nachdenklich an.
Sie löst sich und legt ihre Hand an seine Wange, worauf er die Augen schließt.
„Leg dich zu mir.“, sagt sie, rückt zur Seite und hebt die Decke.
„Nein, ich war noch nicht duschen.“
„Das ist egal. Leg dich hin. Du bist müde, oder?“
Er schafft es nicht, ihr zu widersprechen, und schmiegt sich an sie, legt sich unter die Decke, die erfüllt ist von ihrer Wärme. Was er mit bringt ist ein kalter Lufthauch, der Geruch einer Welt, die die Geografie der Höllenkreise aufweist.
Sie sieht ihn an, streicht durch sein schwarzes Haar, über seine Schläfe, küsst seine Stirn, befühlt seine Finger zwischen ihren Händen.
„Schlaf doch.“, sagt er mit geschlossenen Augen.
„Ich kann nicht. Nicht mehr.“
„Dann komme ich nicht mehr.“
Ruckartig lässt sie seine Hand los, und dreht ihm den Rücken zu, schließt die Augen, und spürt seinen Atem in ihrem Nacken.
Auf der Bettkante sitzend streichelt Amalia über seine Stirn.
„Du kommst von deinen Partys, und leidest doch nie unter den Folgen Alkoholkonsums.“
Er öffnet müde die Augen und denkt einen Moment angestrengt nach, bedarf dieses Moments der Einfindung in die Situation, bi seine Hand unter der Decke hervorschnellt und Amalias Handgelenk kräftig packt, sodass sie vor Überraschung leicht den Mund öffnet.
Ohne sie loszulassen, richtet er sich auf, verstärkt den griff um ihr schmales Handgelenk, spielt für den Bruchteil einer Sekunde mit dem Gedanken, es zu brechen.
„Lass die Spielchen.“, sagt er hart, und lässt ihre Hand ruckartig los, was sie mit einem Seufzen kommentiert.
Langsam steht sie auf, läuft zur Tür, und dreht sich langsam um.
„Ich spiele keine Spielchen. Du nimmst halbherzig an Orgien teil, nur um mich eifersüchtig zu machen.“
Halbherzig, war er sich sicher, war nicht richtig. Den Schritt zur Körperlichen Teilnahme wagte er nicht, aber allein das distanzierte Beobachten eines Geschehnisses, das er in seinen Fantasien als Film gebrannt hatte, brachte ihm Ruhe.
Er sah die Frauen, die durch ihn gewählt, gemartert, weil sie ihn an Amalia erinnerten.
Aurel sah die Unerreichbare und doch ständige Verführende gestraft- wenn auch nur symbolisch.
Doch steht die echte Amalia, seine Urfrau, vor ihm, seine Urliebe, seine Ursünde, dann wird er weich, könnte ihr niemals wehtun, und sie deshalb nicht erlösen- und nur ihre Erlösung wäre auch seine.
Heute soll die Liebe gekreuzigt werden, und Aurel sucht den Römer aus.
Und wenn diese Liebe den Tod gestorben ist, wird allen die Erleuchtung kommen.
Aurel muss heute Judas sein. Er bringt den Feind dorthin, wo er sein Opfer findet.
Amalias Augen weiten sich unter Angst, als der Fremde erst in ihr Reich, und dann in sie dringt, ihre Augen flehen, als sie Aurel über die Schulter des Fremden kalt dreinblicken sieht.
Dann wendet er sich ab, der Judas, geht in seine Kammer, um auch seine Liebe mit dem Kopf in den Strick zu führen, nicht ohne Reue, aber mit dem Wissen der Notwendigkeit seiner Tat, um allen Normalität zu geben.
Es vergeht eine Zeit, bis Aurel die Haustür zuschlagen hört und sich aus dem Zimmer traut, durch den Flur geht, zur Grabkammer, in der eine Auferstehung Amalias stattfinden soll.
Er betritt den Raum ihrer gemeinsamen Kindheit. Erinnert sich der Flucht, die sie hier drin fanden.
Er nimmt das Kinn seiner Schwester in seine Hand, spürt ihr Zittern, sieht ihre Tränen. Trauer, die nicht in Wut auf ihren Bruder umschlagen kann.
„Es musste doch sein. Du bist neunzehn, du musstest langsam mit jemandem schlafen, und durftest nicht länger darauf warten, dass ich es bin.“
Als sie ihn anschreit, voller Hass, die flüchtige Phase der Wut als Zwischenstufe ausgelassen, spürt er Wehmut und Befreiung.