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Ritter Kühn & Super 8
Meine Frau sagt, sie liebt mich nicht mehr. Meine Frau sagt, sie liebt jetzt einen Metzger. Nach 23 Jahren Ehe verlassen, wegen einem Metzger. Bis heute habe ich gedacht, mein Leben wäre einigermaßen in Ordnung. Ich fühle mich beschissen, packe meine Koffer. Ich hocke auf dem Speicher und durchwühle unsere alten Kisten. Dort finde ich, unter einem alten, zerrissenen Bettlaken mit schwarz-weißem Blumen-Muster eine alte Super 8 - Filmrolle. Ich sehe mir den Film auf meinem alten Projektor an. Unscharfe Bilder von einer alten Burg, einem Ritter der sich durch die Wälder schlägt, über die Burg herfällt und das Burgfräulein aus den Händen des bösen Lord Duncan befreit. Mein Magen zieht sich immer enger zusammen und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich hebe ab und fliege davon. Zurück in die Zeit, die ich lange vergessen habe.
Wir waren zu dritt. Ich, Helm und Jessy. Wir alle waren 16. Es waren die Sommerferien 1970 und wir wollten unseren ersten Film drehen. Unsere Eltern dachten, wir würden in ein Zeltlager in den Schwarzwald fahren und dort ein Urlaubsvideo machen. Doch wir sind für die Dreharbeiten für unseren Film namens 'Ritter Kühn' bis nach Bologna getrampt, wo wir schon am ersten Tag an der Stadtmauer, die sich durch ganz Bologna zog, die erste Szene für unseren Film drehten. Ich rannte mit gezogenem Schwert an der Mauer entlang, während mich Helm mit der alten Beaulieu - Kamera seines Vaters verfolgte. Leider stolperte Helm recht abrupt über die überlange Mikrofonstange, die er in der linken Hand hielt und zerstörte mit einem akrobatischen Sturz die erste Aufnahme. Daß uns ungefähr 1000 Touristen zusahen und sich über Helms Mißgeschick vor Lachen naß machten, störte uns nur wenig. Wir machten uns davon und schlugen unsere Zelte am Strand auf. Abends machten wir ein kleines Lagerfeuer und Helm spielte auf seiner bescheuerten Wandergitarre Bob Dylan. Jessy hatte Gras dabei. Wir haben sie nie gefragt woher. Sie hatte eigentlich immer Gras dabei. Sie war Helms Cousine aus Berlin und verbrachte diese Sommerferien bei uns. Ich liebte sie vom ersten Tag an. Wir tranken viel an diesem Abend.
In den folgenden vier Wochen geschah soviel. Mit unserem Zelt zogen wir von Bologna, wo ich in voller Rüstung als Ritter Kühn tobend in die Schlacht zog und dabei in eine Gruppe von Ordensschwestern stürmte, die gerade die Burg besichtigten, bis nach Firenze, wo wir mitten in den Dreharbeiten von der Policia gestört wurden, die eine Drehgenehmigung verlangten. Wir nahmen reißaus und hängten die Bullen dann in der Innenstadt von Firenze ab. Von Firenze fuhren wir mit dem Zug schwarz bis nach Rimini, wo ich Helm in einem Striplokal allein ließ, um mit Jessy den Abend am Strand zu verbringen. Es war der schönste Abend meines Lebens. In Cérvia übernachteten wir in einem Kloster, wo man uns netterweise Asyl in der Sakristei gewährte. Nachts stiegen wir heimlich aus dem Fenster und filmten auf dem Klosterfriedhof die Sterbeszene von Lord Duncan. Danach lagen wir die ganze Nacht in unseren Schlafsäcken wach und filmten uns gegenseitig mit Helms Super 8 - Kamera. An unserem letzten Abend waren wir in Ravenna, wo wir die Abschlußsszene des Films drehten. Wir hatten eine wundervolle Zeit hinter uns. Es hatte viel Spaß gemacht diesen Film zu machen, es hatte viel Ärger gegeben, viel Streß und viele sehr kurze Nächte mit zuviel Alkohol und zuviel Gras aus Jessies Armee-Rucksack. Als der Film abgedreht war, feierten wir so kräftig mit geklautem Sekt und gekauftem Bier, daß Helm irgendwann volltrunken einschlief, in inniger Umarmung mit seiner Beaulieu 6008-S Kamera. Jessy und ich aber gingen zum Hafen und eroberten einen verlassenen Fischkutter. Es war in dieser Nacht das erste Mal für mich. Wir lagen auf einem alten Bettlaken mit schwarz - weißem Blumen - Muster.
Ein paar Tage später waren wir wieder in Deutschland. Jessy mußte zurück nach Berlin. Ich habe sie nie wieder gesehen. Helm und ich versuchten den Film fertig zu schneiden, doch wir mußten feststellen, daß die Kamera bei den Aufnahmen selber so laut war, daß die Dialoge nicht mehr zu verstehen waren. Außerdem kam einige Tage später unser Schwarzwald - Betrug heraus, als meine Mutter in meiner Reisetasche einen italienischen Reiseführer fand. Helms Vater war so sauer, daß er in seinem Wutanfall einen Großteil unseres Filmmaterials zerstörte. Es war mir egal. Ich hatte etwas viel wichtigeres verloren als meinen Film. Helm ist auch irgendwann gegangen. Ich glaube, er ist Lehrer an einer Lernbehinderten-Schule geworden. Und ich? Aus dem mutigen Ritter ist ein Werbefilmer für Klopapier und fettabsaugende Waschlappen geworden. Und jetzt steckt ein Metzger mein Herz in einen Fleischwolf. Alles, was mir geblieben ist, ist die Erinnerung an die schönsten 4 Wochen in meinem Leben. In diesen 4 Wochen habe ich etwas getan, was ich danach viel zu lange nicht mehr gemacht habe. Ich habe gelebt. Bis heute habe ich geglaubt, mein Leben wäre einigermaßen in Ordnung. Jetzt weiß ich, daß das eine Lüge war. Vielleicht hat mir der Metzger ja eine neue Chance gegeben. Als ich das Haus und mein altes Leben verlasse, ist alles, was ich bei mir habe, eine alte Rolle Super 8 - Film...