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Ritter Kühn & Super 8

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21.09.2003
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Ritter Kühn & Super 8

Meine Frau sagt, sie liebt mich nicht mehr. Meine Frau sagt, sie liebt jetzt einen Metzger. Nach 23 Jahren Ehe verlassen, wegen einem Metzger. Bis heute habe ich gedacht, mein Leben wäre einigermaßen in Ordnung. Ich fühle mich beschissen, packe meine Koffer. Ich hocke auf dem Speicher und durchwühle unsere alten Kisten. Dort finde ich, unter einem alten, zerrissenen Bettlaken mit schwarz-weißem Blumen-Muster eine alte Super 8 - Filmrolle. Ich sehe mir den Film auf meinem alten Projektor an. Unscharfe Bilder von einer alten Burg, einem Ritter der sich durch die Wälder schlägt, über die Burg herfällt und das Burgfräulein aus den Händen des bösen Lord Duncan befreit. Mein Magen zieht sich immer enger zusammen und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich hebe ab und fliege davon. Zurück in die Zeit, die ich lange vergessen habe.
Wir waren zu dritt. Ich, Helm und Jessy. Wir alle waren 16. Es waren die Sommerferien 1970 und wir wollten unseren ersten Film drehen. Unsere Eltern dachten, wir würden in ein Zeltlager in den Schwarzwald fahren und dort ein Urlaubsvideo machen. Doch wir sind für die Dreharbeiten für unseren Film namens 'Ritter Kühn' bis nach Bologna getrampt, wo wir schon am ersten Tag an der Stadtmauer, die sich durch ganz Bologna zog, die erste Szene für unseren Film drehten. Ich rannte mit gezogenem Schwert an der Mauer entlang, während mich Helm mit der alten Beaulieu - Kamera seines Vaters verfolgte. Leider stolperte Helm recht abrupt über die überlange Mikrofonstange, die er in der linken Hand hielt und zerstörte mit einem akrobatischen Sturz die erste Aufnahme. Daß uns ungefähr 1000 Touristen zusahen und sich über Helms Mißgeschick vor Lachen naß machten, störte uns nur wenig. Wir machten uns davon und schlugen unsere Zelte am Strand auf. Abends machten wir ein kleines Lagerfeuer und Helm spielte auf seiner bescheuerten Wandergitarre Bob Dylan. Jessy hatte Gras dabei. Wir haben sie nie gefragt woher. Sie hatte eigentlich immer Gras dabei. Sie war Helms Cousine aus Berlin und verbrachte diese Sommerferien bei uns. Ich liebte sie vom ersten Tag an. Wir tranken viel an diesem Abend.
In den folgenden vier Wochen geschah soviel. Mit unserem Zelt zogen wir von Bologna, wo ich in voller Rüstung als Ritter Kühn tobend in die Schlacht zog und dabei in eine Gruppe von Ordensschwestern stürmte, die gerade die Burg besichtigten, bis nach Firenze, wo wir mitten in den Dreharbeiten von der Policia gestört wurden, die eine Drehgenehmigung verlangten. Wir nahmen reißaus und hängten die Bullen dann in der Innenstadt von Firenze ab. Von Firenze fuhren wir mit dem Zug schwarz bis nach Rimini, wo ich Helm in einem Striplokal allein ließ, um mit Jessy den Abend am Strand zu verbringen. Es war der schönste Abend meines Lebens. In Cérvia übernachteten wir in einem Kloster, wo man uns netterweise Asyl in der Sakristei gewährte. Nachts stiegen wir heimlich aus dem Fenster und filmten auf dem Klosterfriedhof die Sterbeszene von Lord Duncan. Danach lagen wir die ganze Nacht in unseren Schlafsäcken wach und filmten uns gegenseitig mit Helms Super 8 - Kamera. An unserem letzten Abend waren wir in Ravenna, wo wir die Abschlußsszene des Films drehten. Wir hatten eine wundervolle Zeit hinter uns. Es hatte viel Spaß gemacht diesen Film zu machen, es hatte viel Ärger gegeben, viel Streß und viele sehr kurze Nächte mit zuviel Alkohol und zuviel Gras aus Jessies Armee-Rucksack. Als der Film abgedreht war, feierten wir so kräftig mit geklautem Sekt und gekauftem Bier, daß Helm irgendwann volltrunken einschlief, in inniger Umarmung mit seiner Beaulieu 6008-S Kamera. Jessy und ich aber gingen zum Hafen und eroberten einen verlassenen Fischkutter. Es war in dieser Nacht das erste Mal für mich. Wir lagen auf einem alten Bettlaken mit schwarz - weißem Blumen - Muster.
Ein paar Tage später waren wir wieder in Deutschland. Jessy mußte zurück nach Berlin. Ich habe sie nie wieder gesehen. Helm und ich versuchten den Film fertig zu schneiden, doch wir mußten feststellen, daß die Kamera bei den Aufnahmen selber so laut war, daß die Dialoge nicht mehr zu verstehen waren. Außerdem kam einige Tage später unser Schwarzwald - Betrug heraus, als meine Mutter in meiner Reisetasche einen italienischen Reiseführer fand. Helms Vater war so sauer, daß er in seinem Wutanfall einen Großteil unseres Filmmaterials zerstörte. Es war mir egal. Ich hatte etwas viel wichtigeres verloren als meinen Film. Helm ist auch irgendwann gegangen. Ich glaube, er ist Lehrer an einer Lernbehinderten-Schule geworden. Und ich? Aus dem mutigen Ritter ist ein Werbefilmer für Klopapier und fettabsaugende Waschlappen geworden. Und jetzt steckt ein Metzger mein Herz in einen Fleischwolf. Alles, was mir geblieben ist, ist die Erinnerung an die schönsten 4 Wochen in meinem Leben. In diesen 4 Wochen habe ich etwas getan, was ich danach viel zu lange nicht mehr gemacht habe. Ich habe gelebt. Bis heute habe ich geglaubt, mein Leben wäre einigermaßen in Ordnung. Jetzt weiß ich, daß das eine Lüge war. Vielleicht hat mir der Metzger ja eine neue Chance gegeben. Als ich das Haus und mein altes Leben verlasse, ist alles, was ich bei mir habe, eine alte Rolle Super 8 - Film...

 

Hi Marian,

Erstmal herzlich willkommen auf Kg.de.
Ich fand deine Geschichte ziemlich gut, sie ist zum Schmunzeln und zum Nachdenken.
Ich hoffe nur, dass ich in dem Alter, in dem dein Protagonist ist, nicht so über mein Leben denken werde, bzw. das ich die Erkenntnis, dass ein Neuanfang fällig ist, früher sehe.

Ich find deinen Schreibstil auch recht gut, du versetzt einen wahrhaftig in diese Athmosphäre, in der nichts zählt, ausser zu Leben. Haben wir uns das nicht alle schon einmal gewünscht?

Also, das wars von mir, machs gut und schreib weiter,
dein Barrash

 

Hallo marian!
Erst einmal ein herzliches Willkommen von mir hier auf kg.de! :)

Mir hat deine erste Geschichte hier ziemlich gut gefallen. Bis auf kleinere Anmerkungen, zu denen ich später noch kommen werde.
Mir gefällt es, wie du in der Gegenwart auf dem Dachboden beginnst, dann in die Vergangenheit, in die Erinnerungen, gehst und später wieder in die Gegenwart wechselst und mMn einen schönen Bogen zum Anfang der Geschichte geschlagen hast.
Die Geschichte hat überhaupt kein Tempo, es ist eine Erinnerung, die du mMn gut geschildert hast. Eine ruhige, vielleicht etwas wehmütige Erinnerung.

Ich finde es interessant, dass viele Menschen erst wirklich über ihr Leben nachdenken, wenn sich etwas gravierendes ändert. Wenn der Partner einen verlässt, wenn jemand stirbt, dann wird immer über das eigene Leben nachgedacht.
Ist es wirklich erfüllt? Ist man wirklich glücklich? Oder spielt man sich die ganze Zeit nur was vor? Belügt man sich eines geordneten Lebens willens selbst?
Solche Situationen lassen die Menschen immer einen Moment in ihrem hektischen Leben zur Ruhe kommen und ein wenig nachdenken.
Über ihr Leben und auch über mögliche „verpasste Chancen“. Wie zum Beispiel in deiner Geschichte das Mädchen Jessy aus Berlin. Sie waren diese vier Wochen gemeinsam unterwegs, und danach war sie einfach weg, der prot. hat sie nie wieder gesehen.
Vielleicht denkt der Prot. darüber nach, wie sein Leben wohl aussehen würde, wenn er Jessy wiedergesehen hätte, wenn er sie geheiratet hätte.

Deine Geschichte ist zum Schmunzeln, regt mMn aber auch zum Nachdenken an. Wenn man durch eine Situation im Leben oder durch eine Geschichte oder sonst wie, irgendwie daran erinnert wird, „überprüft“ man quasi ganz schnell sein eigenes Leben. Wie sieht das eigene Leben aus? Lebt man, oder existiert man?

So, und nun noch die Anmerkungen, die ich oben schon angekündigt habe:

Dort finde ich, unter einem alten, zerrissenen Bettlaken mit schwarz-weißem Blumen-Muster, eine alte Super 8 - Filmrolle.

Unscharfe Bilder von einer alten Burg, einem Ritter der sich durch die Wälder schlägt, über die Burg herfällt und das Burgfräulein aus den Händen des bösen Lord Duncan befreit. Mein Magen zieht sich immer enger zusammen und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Dreimal „Burg“. Nicht so schön. Ich weiß nicht, ob es „Festung“ noch trifft. Aber ein anderes Wort fällt mir nicht ein. Vielleicht fällt die ja noch eine weitere Formulierungsmöglichkeit ein.
Nach „befreit“ würde ich einen Absatz machen. Meine Begründung ist, dass du vorher von dem berichtest, was auf dem Film zu sehen ist, und dann zu den Gefühlen, zu den Reaktionen des Prot. kommst. Ich fände da einen Absatz nicht schlecht.

Ich, Helm und Jessy.
Der Esel nennt sich immer zuletzt ;)

Unsere Eltern dachten, wir würden in ein Zeltlager in den Schwarzwald fahren und dort ein Urlaubsvideo machen.
Unschön. Hier kannst du doch ganz einfach die Konjunktiv II Form „führen“ nehmen. So seltsam klingt das nun auch nicht ;)

Leider
stolperte Helm recht abrupt über die überlange Mikrofonstange, die er in der linken Hand hielt und zerstörte mit einem akrobatischen Sturz die erste Aufnahme.
Einmal hast du nach „leider“ einen Zeilenbruch.
Dann frage ich mich, wie stolpert man denn „recht abrupt“? Wie kann man denn noch stolpern?
Und dann zweimal „über“ kurz hintereinander. Liest sich holprig und nicht so schön.

Daß uns ungefähr 1000 Touristen zusahen und sich über Helms Mißgeschick vor Lachen nass machten, störte uns nur wenig.

Wir tranken viel an diesem Abend.
Hier habe ich lange gerätselt, warum du das erwähnst. hab aber keine Antwort finden können.
Weil direkt danach nichts kam, dacht ich, da kommt dann später noch etwas. Aber da kam nichts.
Wieso erwähnst du, dass sie an dem Abend viel tranken? Warum ist es wichtig, das zu erwähnen?

Wir nahmen reißaus und hängten die Bullen dann in der Innenstadt von Firenze ab. Von Firenze fuhren wir mit dem Zug schwarz bis nach Rimini, wo ich Helm in einem Striplokal allein ließ, um mit Jessy den Abend am Strand zu verbringen.
Zweimal „Firenze“ sehr dicht hintereinander. Anstatt des zweiten Firenze kannst du doch schreiben: „Von dort aus ...“

Es hatte viel Spaß gemacht diesen Film zu machen, es hatte viel Ärger gegeben, viel Streß und viele sehr kurze Nächte mit zuviel Alkohol und zuviel Gras aus Jessies Armee-Rucksack.
Hier hast sehr viele „viel“ (:D) Aber ich denke, hier ist es durchaus okay. Ich denke, es war beabsichtigt. Und obwohl mich Wortwiederholungen eigentlich immer stören, hier empfinde ich es nicht als störend, sondern als passend.

Alles, was mir geblieben ist, ist die Erinnerung an die schönsten 4 Wochen in meinem Leben.
Zahlen besser von 1-12 ausschreiben.

So, das wars dann auch von mir.
Bin gespannt auf mehr von dir :)

bye und tschö

 

Hi Barrash, hi moonshadow,

erstmal danke für euer Lob. Freut mich, daß euch die Geschichte gefallen hat.:D
Ich finde die Ausgangssituation der Hauptfigur interessant, die sich jahrelang belogen hat, mit seinen Träumen an der Realität gescheitert ist und anstatt um die große Liebe zu kämpfen, eine "Lückenfüllerin" geheiratet hat. Ich finde, es gibt viel zu viele Menschen, die so auf Sparflamme leben, sich mit Durchschnittlichkeiten zufrieden geben, sich und ihre Träume verraten und irgendwann verblüfft fetstellen: "Verdammt, ich war mal glücklich, was ist passiert?" Deswegen sollte es im Leben eigentlich immer nach dem Motto "Alles oder nix" ablaufen, oder? :)
Soweit von mir,
bis dann mal

PS: moonshadow: Warum ich an der einen Stelle 'Wir tranken viel an diesem Abend' eingefügt habe: Ich finde, es paßt gut in den Erzähl- und Lesefluß und schlägt außerdem die notwendige Brücke, zwischen der kurzen Erklärung über Jessy (die die Beschreibung ihres erstens Abends in Italien unterbrochen hat) und der folgenden Zusammenfassung der nächsten Wochen.

 

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