Mitglied
- Beitritt
- 04.11.2003
- Beiträge
- 16
- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 7
Ritter der Intensivstation
Er steht hoch oben auf dem Turm. Seine langen Haare und sein roter Umhang wehen im kalten Wind. Er fragt sich, welche Jahreszeit wohl ist und wo er sein könnte. Und seine Gedanken beginnen zu wandern, zurück an das Letzte, woran er sich erinnern kann. Dieses weiße Licht, es war so wunderschön und doch...
„Herr?“ Eine Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. „Man verlangt nach Euch.“ Widerwillig wendet er sich um. Der Junge, zu dem die Stimme gehört, sieht ihn erwartungsvoll an. „Kommt Ihr, Herr?“ Er nickt kurz und wendet seinen Blick noch einmal nach unten, wo das gegnerische Heer lagert. „Wo bin ich hier bloß hineingeraten? In irgend so einen verdrehten Xena Film?“ „Bitte Herr?“ Der Junge sieht ihn verwirrt an, erst jetzt wird ihm bewußt, daß er seinen Gedanken laut ausgesprochen hat. „Schon gut, ich komme.“ Und er geht mit dem Knaben nach unten.
Als er den Burghof überquert, sammeln sich die Leute um ihn. Er fühlt die Erwartungen der Leute in ihn und den bitteren Geschmack in seinem Mund, den das verursacht. „Ich, der große Retter, wenn die wüßten. Wer bin ich den schon?“
Schnell schließt er die Tür, als er am Eingang zum Ritterhaus angekommen ist. Die letzten Meter über den Hof ist er fast schon gerannt. Jetzt lehnt er mit dem Rücken an der Tür. „Aber Ritter Manowar, ihr hättet euch doch nicht so beeilen müssen.“ „Wie hat der alte Sack mich genannt?“ schießt es ihm durch den Kopf und er schaut den greisen Magier an. „Wie nanntet ihr mich?“ „Manowar, ist das denn nicht Euer Name?“ Verwirrt sieht er den Alten an, dann trifft ihn die Erkenntnis, und er muß sich beherrschen nicht lauthals zu lachen. „Nein mein Herr, ich heiße Schipper, Kjetil Schipper.“ „Aber auf eurem Lederwams steht doch...“ „Nein, nein, der Schriftzug soll meine Sympathie für diese Leute bekunden“, sagt er freundlich, doch in seinem Kopf hallt es nur: „Schlimmer kann es nicht werden“. „Nun den Ritter Kjetil, hört unseren Plan...“, beginnt ein anderer grauhaariger Mann, den er als Sigurt den Waffenmeister kennt, „Wir beginnen den Ausfall im Morgengrauen...“ Doch Kjetil hört schon längst nicht mehr zu, seine Gedanken wandern in die Vergangenheit.
Sie war gegangen, was sollte er jetzt tun? Er sah auf den Berg unbezahlter Rechnungen und die Bierflasche in seiner Hand. Es war schon komisch, sie war vor über drei Monaten gegangen und doch tat sein Herz immer noch weh, so weh. Der Alkohol gab ihm nur kurze Erleichterung, aber hinterher wurde es nur noch schlimmer. Klar hätte er die Rechnungen bezahlen können, aber warum? Ein paar Briefe fielen durch den Schlitz in seiner Tür. Er hebt sie auf und sieht sie durch. „Schau mal an, meine Kündigung ist auch dabei.“
„Und was haltet ihr von unserem Plan?“ Verwirrt schaut er auf. Alle im Raum sehen ihn abwartend an. „Ja, ganz toll, toller Plan.“ Und im Geiste fragt er sich: „Was wollen die denn jetzt schon wieder?“ „Nun sagt uns, Ritter Kjetil, wer soll euer Begleiter sein?“ Kjetil beginnt sich allmählich wie in der Schule zu fühlen, unsicher irrt sein Blick durch den Raum und bleibt an der Gestalt des Jungen, der ihn geholt hat, hängen. „Der Junge dort“, ein aufgeregtes Raunen geht durch den Raum, „aber dieser kann sich seiner Haut kaum erwehren!“ ruft der Waffenmeister aufgeregt. Kjetil baut sich selbstsicher auf: „Das braucht er nicht, ich bin ja bei ihm“ Und so verläßt er hohen Hauptes den Saal.
Genau zwei Sekunden später bereut er diese Entscheidung auch schon wieder, er hatte die Menschenmenge auf dem Burghof vergessen. Wieder bildet sich eine Traube um ihn. Er hasst dieses Gefühl, Menschen die Erwartungen in ihn stellen, er hat es schon immer gehasst. Und so stürmt er über den Hof in Richtung des Turmes, wo man ihm ein Quartier zugewiesen hat.
Er schließt die Tür und lehnt sich mit dem Rücken dagegen, wild hämmert sein Herz in der Brust. Und er beginnt von Neuem sich an die Vergangenheit zu erinnern.
Sie steht an seiner Tür: „Wie siehst du denn aus?“ Gleichgültig zuckt er mit den Schultern: „Ich wüßte nicht, was dich das angeht, hab ich dich verlassen oder du mich?“ Dann fällt sein Blick auf ihren Begleiter. „Oh hast du ihn gleich mitgebracht, willst du vergleichen?“ Sie übergeht den schneidenden Tonfall seiner Worte. „Nein, ich will nur meine Sachen holen, und wer weiß wie du reagierst.“ Selbst ein Schlag in die Magengrube hätte ihn nicht härter treffen können. „Willst du sagen, ich würde dich schlagen?“ Und er sieht ihre Augen, als er die Wahrheit darin erkennt, wird alles noch tausendmal schlimmer, sie hat Angst vor ihm. Ihr Begleiter geht an ihm vorbei und schubst ihn unsanft zur Seite. Er bleibt still, auch als sie den Fernseher, das Bett und die Waschmaschine in den Hänger ihres Autos geladen hat, sagt er nichts, aber als ihr Freund ihn so dämlich angrinst, da war es soweit. Lächelnd geht er an den beiden vorbei und schlägt zu. Mit all dem Zorn, der sich in ihm aufgestaut hat, mit aller Liebe, die er für sie fühlt, alles legt er in diesen einen Schlag. Er spürt den Schmerz nicht einmal, er hört nur ein leises Knacken gefolgt von einem lauten Klirren, als er die Scheibe der Tür einschlägt.
Ein lautes Pochen an der Tür reißt ihn aus seinen Gedanken. Mürrisch geht er zur Tür und reißt sie auf. Er erkennt den Jungen vor der Tür, der ihn verwirrt, fast erschrocken ansieht. Und er erkennt diesen Blick.
„Was macht dieser Idiot? Willst du dich wichtig machen?“ hört er eine rauhe Männerstimme sagen. Er reagiert nicht und betrachtet das Blut, welches an seiner Hand herunter läuft, dann blickt er auf und sieht in ihr Gesicht. Sie schaut in verwirrt, fast schon erschrocken an, dann wird alles schwarz.
Verwirrt schüttelt er den Kopf.„Was willst du von mir?“ fragt er den Jungen in einem fast schon freundlichem Tonfall. „Wieso ich?“ fragt der Junge, in seinen Augen ist keine Gefühlsregung zu erkennen. „Mir fiel niemand besseres ein“, antwortet Kjetil. Der Junge sieht ihn aus großen Augen an, „Und deshalb entscheidet ihr mich mit auf diesen Selbstmord zu nehmen?“ Als Kjetil in die Augen des Jungen blickt, fühlt er einen Schauer über seinen Rücken laufen; er erkennt nur eins in den Augen des Jungen, die Gewissheit bald zu sterben. „Worin besteht eigentlich dieser blöde Plan?“ „Ihr wart doch dabei, habt ihr denn nicht zugehört?“ „Nein, und hör auf mit diesem blöden „Ihr“, das nervt so langsam.“ Die Augen des Jungen weiten sich und beginnen feucht zu schimmern. „Wir sollen jetzt ins feindliche Lager reiten und sie auffordern aufzugeben, weil Ihr – du gekommen bist, ein Retter aus einer anderen Welt.“ Dieses Mal war Kjetil derjenige, dessen Augen sich weiteten. „Oh, Scheiße“, platzt es ihm heraus. Dann überfällt ihn wieder diese kalte Gleichgültigkeit und er hört sich sagen: „Okay, dann machen wir das mal.“
Er ist jetzt zwei Tage aus dem Krankenhaus zurück, die Hand ist gebrochen und er wird mit Sicherheit einige schöne Narben zurück behalten. Aber das ist ihm egal, im Krankenhaus hatte er viel Zeit zum Nachdenken und dabei ist er zu einem Entschluss gekommen. Er nimmt seine Autoschlüssel und verlässt das Haus. Auf der Dorfstrasse beschleunigt er sein Auto auf 100 km/h und fährt gegen einen Baum. Er hört ein Knallen und Krachen, spürt einen dumpfen Schmerz in den Beinen und sein letzter Gedanke ist: „Ich liebe dich!“ Dann wird alles schwarz, gefolgt von einem strahlenden weißen Licht.
„Irgendwie hat das was“, denkt er, während er mit seiner schwarzen Motorradjacke auf einem Pferd durch die jubelnde Menschenmenge reitet, dicht gefolgt von dem Lares. Erinnerungen kommen in ihm hoch, Erinnerungen an Zeiten, in denen er Musik hörte und von Momenten wie diesem träumte. In den vergangenen fünf Tagen hatte er sich oft mit Lares unterhalten und eine Menge über diesen Jungen erfahren. Er war schon lange kein anonymer Junge mehr. Lares und Kjetil hatten ein Verhältnis aufgebaut, was schon beinahe an Freundschaft grenzte. Sie hatten auch viel über „sie“ geredet, auch wenn Lares die Hälfte nicht verstand, so hatte er einige kluge Ideen gehabt und Kjetil mußte sich eingestehen, daß er jemanden wie Lares eher hätte treffen sollen, vielleicht wäre einiges anders gelaufen.
„Ihr seid also der Ritter, der aus dem Himmel gefallen ist?“ Kjetil konnte diesen Kerl nicht leiden, dieses hochnäsige Gesicht, diese überhebliche Art. Herausfordernd blickt er ihn an und sagt: „Ja, hast du ein Problem damit?“. Der fremde Heerführer gibt eine unauffälligen Wink mit der Hand. „Nein, und meine Antwort kannst du auch gleich haben.“ In diesem Moment betreten einige gerüstete Gestalten das Zelt. Kjetil sieht alles mit entsetzlicher Klarheit, ein Mann zieht sein Schwert und trennt mit einem gewaltigen Hieb Lares den Kopf von den Schultern. Der Kopf kollert quer durch das Zelt und bleibt vor Kjetils Füßen liegen, während sein Körper langsam nach vorne fällt. Und der Haß in ihm beginnt zu brodeln, in seinem Kopf macht es leise „Klick“. Er wendet sich zum Ausgang des Zeltes, die Wachen, die sich ihm entgegenstellen, schlägt er einfach nieder. Kjetil sieht das Geschehen aus weiter Ferne. Er sieht sich ein Schwert nehmen und sich ohne Anstrengung durch das Lager der Feinde metzeln. Nebenbei fragt er sich, woher er das so gut kann. Dann steigt er auf ein Pferd, und reitet eine Spur von Toten hinter sich lassend auf die Burg zu.
Die Leute sehen ihn betreten an, als er seinen Bericht abschließt. Und er spürt ihre Wut über den unnützen Tod von Lares. Aber lauter als alles andere hört er den Schrei seines Herzens nach Rache, noch während die Anderen diskutieren, was zu tun sei, springt er auf. „Höret werte Herren!“ ruft er laut, „es ist an der Zeit zurück zu schlagen. Wir dürfen uns diese weitere Provokation nicht gefallen lassen. Selig sind die Friedfertigen, spricht der Herr, und ich sage, selig wird man nur wenn man tot ist.“ Ein zustimmendes Raunen geht durch den Raum. „Morgen früh, bevor die Sonne aufgeht, werden wir einen Ausfall wagen und wir werden siegreich sein“, lautes Jubeln erfüllt den Raum, Kjetil spürt, wie ihn eine Welle der Zuversicht überkommt und kann es sich nicht verkneifen laut zu rufen „Möge die Macht mit uns sein!“ Der Ruf wird von allen im Saal wiederholt, und bald hört man ihn auch von den Strassen widerhallen. Erst jetzt wird ihm bewußt, was er da gerufen hat und er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Der Abend vor der Schlacht, wieder steht er hoch oben auf der Turmzinne und beobachtet das feindliche Lager. „Wie schnell sich doch alles geändert hat“, denk er bei sich. „Bis vor wenigen Tagen, war mir alles zuviel, da wünschte ich mir den Tod herbei, und jetzt?“ Ja jetzt, er lebt in einer Welt, die er sich immer gewünscht hat, vielleicht war dies der Himmel? Sein eigener ganz privater Himmel. Und er hört in sein Herz hinein, er wartet auf dieses Gefühl, diesen Schmerz, der sein Leben in der letzten Zeit so bestimmt hat. Klar war der Schmerz noch da, aber es war ein erträgliches Gefühl, mittlerweile dachte er öfter an seine Eltern, wie es ihnen jetzt wohl gehen mag?
„Herr?“ Er schreckt hoch, diese Stimme kennt er doch. „Lares“ keucht er während er sich herum dreht. Und da steht er, völlig unversehrt im blauen Licht und grinst ihn an. „Hallo Kjetil, ich habe nicht viel Zeit, also hör mir genau zu. Kämpfe diesen Kampf für dich, beweise, daß du wieder Leben willst, und dann folge der Stimme derer, die dich lieben.“ „Der Stimme derer, die mich lieben? Was meinst du damit? Lares? Lares!“ Doch Lares war verschwunden.
Früher Morgen, die erste Dämmerung blinzelte müde über den Horizont und vertrieb die Sterne vom Himmel. Kjetil sitzt hoch im Sattel, in der rechten Hand hält er ein, eigens für ihn angefertigtes, Schwert. Langsam werden die Tore geöffnet und das Heer wälzt sich wie ein gewaltiges Tier aus der Burg auf den Feind zu. Kjetil reitet voran. Auch die Gegner haben sich schon formiert. „Kein Wunder“, denkt Kjetil, „bei dem Radau gestern mußten die ja gewarnt sein.“ In diesem Moment prallen die beiden Heere auf einander. Ein lautes Krachen zerreißt die morgendliche Stille. Kjetil reitet allen voran, schnell hat er die Bilder aus dem Fernsehen vergessen, dies war keine ehrenvolle Schlacht, hier konnte man nur siegen oder sterben. Und er schlägt wild mit dem Schwert um sich, in Gedanken schlägt er auf seine Vergangenheit ein, auf die Fehler, auf sein Selbstmitleid. Sein Heer stürmt weiter vor, hinter Kjetil her, der wie ein Dämon aus der tiefsten Hölle wütet. Längst schon haben in alle Gedanken verlassen, er genießt es. Wie im Rausch schlägt er um sich, pariert Angriffe und schlägt seinerseits zurück. Irgendwann fällt ihm die Stille auf, er hört kaum noch Kampfeslärm, sondern nur noch die Schreie der Verwundeten und der Sterbenden. Langsam sieht Kjetil sich im Sattel um. Sie hatten gewonnen... aber zu welchem Preis! Viele der Toten trugen die Uniformen aus der Burg, zu der er gehörte. Wie viele Mütter werden um ihre Kinder trauern, wie viele Frauen um ihre Männer? Dann sieht er an sich herab, an seinem linken Arm läuft das Blut aus tausenden kleinen Wunden, wie ein feines Netz herunter und sein rechter Arm ist vollkommen taub. Während er sich so umsieht, hört er eine Stimme, er versteht ihre Worte nicht, aber er erkennt sie.
„Mutter? Mutter!“ Und ihn überkommt tiefe Sehnsucht, sie schlägt ihre Klauen in sein Herz wie ein Raubtier. Wie gerne würde er seine Mutter wiedersehen.
Alles um ihn ist dunkel, aber er vernimmt die Stimme seiner Mutter. Er öffnet langsam die Augen. Doch alles, was er erkennt, ist ein grauer Schemen vor einer unerträglich hellen Lichtquelle. Er schließt die Augen und stöhnt leise. Die Stimme verstummt. Aber nur für kurz, seine Mutter stößt einen leisen Schrei aus und umarmt ihn mit aller Kraft, die sie hat. „Nach 6 Monaten im Koma habe ich doch nie aufgehört zu hoffen.“ „6 Monate“, hallt es in seiner Stirn, 6 Monate hat sie um ihn gebangt. Mittlerweile stehen eine Menge Leute an dem Eingang zu seinem Zimmer, und er erkennt viele bekannte Gesichter unter ihnen, Freunde und Verwandte. Und die Erkenntnis trifft ihn plötzlich sehr hart, sie alle lieben ihn auf ihre Weise. Wie konnte er das bloß vergessen?