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Riders on the Storm
Anna stand in einer Seitengasse, in der Nähe einer Diskothek in Halle. Es war eine warme Spätsommernacht. Reglos wartete sie auf ihn. Plötzlich Schritte, ein Mädchen war auf dem Heimweg, sie war sexy angezogen und wirkte vom Körperbau her fast kindlich.
Das ist sie also, dachte Anna, die mitten auf der Straße stand. Da hörte sie ein sich näherndes Motorengeräusch.
Er kommt, dachte sie, jetzt wird es eng.
„Hallo, ist alles in Ordnung?“ Erkundigte sich das Mädchen.
Da zischte Anna sie an: „Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß und sieh’ zu, dass du Land gewinnst, du Schnepfe!“ Dabei nahm sie eine Hand hoch.
Die Heimkehrerin beschleunigte ihre Schritte und war kurz darauf hinter einer Hausecke verschwunden.
Jetzt gab es nur noch sie und ihn. Das Geräusch wurde lauter. Er kam lauernd wie ein Raubtier, hielt zwischen durch immer wieder an. Er suchte, sie wartete. Etwas Dunkles schlich durch diese Nacht, erzeugte einen einzigen falschen Ton und zerstörte so ein ganzes Konzert. Endlich kreuzte ein kleiner, unscheinbarer Opel ihre Gasse, wartete kurz, setzte zurück, schwenkte ein und kam auf Anna zu. Der Wagen hielt dicht vor ihr an. Hinter der Frontscheibe sah sie ein schemenhaftes, dunkles Gesicht. Betont langsam schritt sie um den Wagen herum zur Beifahrertür, dabei knickte sie mit dem Fuß um. Dann beugte sie sich in das offene Fenster hinein, so dass er ihre Brüste sehen konnte. Sie lallte: „Bring mich nach Hause, einfach nur nach Hause“ Sie glitt auf den Sportsitz und räkelte sich verführerisch. Der Fahrer hielt ihr eine Dose Cola hin und sie trank, danach fiel sie in tiefen Schlaf.
Sie hatte sich einem wildfremden Mann auf dem Silbertablett präsentiert.
Als sie erwachte, saß sie nackt an einen Stuhl gefesselt, die Hände auf dem Rücken. Ihr Unterkiefer war wie zu einem Schrei geöffnet und es füllte ein trockener Fremdkörper ihren Rachenraum aus, schmeckte muffig, talgig. Sie bekam Brechreiz und versuchte dieses Ding mit ihrer Zunge heraus zu schieben, aber es gelang nicht, weil ihr Kopf fast vollständig eingegipst war, nur Augen und Nase schauten noch heraus. Langsam hob sie ihre Lider. Vor ihr stand der Junge, der sie hierher gebracht hatte. Er hatte die Figur eines ‚Raucherbürschels’, schmal und schwächlich, die Kleidung hing schlaff am Körper herunter. Eine von Akne gezeichnete Gesichtshaut spannte sich teigig grau über die flachen Wangen. Im ganzen mager, hatte er doch einen Bauch, der wie vorgeschoben wirkte.
Sie balancierte ihren schweren Kopf zitternd nach vorn, um ihre schmerzenden Füße sehen zu können. Aus jedem ihrer Vorderfüße ragte ein langer Nagel, er hatte ihn bis durch die Dielen geschlagen.
In lässiger Haltung stand er vor ihr und grinste, daneben ein leere Vogelkäfig.
„Ich hoffe doch, dass es euch beiden hübschen gut geht?“ Seine Stimme klang zittrig erregt.
„Meinen Hansi scheinst du ja zum Fressen gern zu haben.“ Er sprach leiernd, im Singsang.
Neben ihr stand ein Tisch mit einem weißen Häkeldeckchen, auf ihm, sorgfältig aufgereiht, Instrumente. Keine Kettensäge, keine Streckbank oder eiserne Madonna. Keine langen Dolche oder Samuraischwerter, nur langweilige Messer und Zangen, stumpf und rostig.
Regen prasselte an das Fenster. Aus der Ferne kam ein Donnerschlag.
Draußen bellte ein Hund.
* * *
Es war alles so gekommen, wie es der Fischer vorhergesagt hatte.
Vor Jahren hatte es begonnen. Kaum war sie eingeschlafen, riefen draußen die Möwen, es roch nach Tang und Meer, eine frische Brise wehte durch ihren Traum und sie hörte die tosende Brandung. So kündigte er sich an. Der Fischer kam in Gestalt eines alten, wettergegerbten Mannes, der über seinen braun gebrannten Schultern ein Netz trug. Sie saßen oft die ganze Nacht beisammen und redeten. Er erzählte ihr von einem anderen Leben in höheren Dimensionen, Orten die nie ein Mensch gesehen hatte. Von Wesen, die es nicht geben durfte, die aber doch unser aller Schicksal bestimmen.
Aber als sie etwas älter wurde, sprach er zunehmend von Dingen, die Anna betrafen. Von einem Dasein, das alles überspannt. Einmal sagte er ihr:
„Ein Leben ist wie ein Stein in einer Mauer. Eines Menschen gesamtes Dasein jedoch, ergibt ein Haus, in dem er einst wohnen kann.“ Er küsste sie auf die Stirn: „Dein Ganzes ergibt ein Königreich.“
Dann erklärte er ihr, was es mit dem Nullsummengesetz auf sich hatte, dem alles Leben unterworfen ist.
Sie erfuhr, dass sie beide schon lange Zeit ein gemeinsames Ziel verfolgten und dass es jetzt an der Zeit sei, sie in alles einzuweihen und jeder von ihnen seine Aufgabe erfüllen muss.
Oft sprachen sie über den Tod, wie es ist zu sterben und über Gott. Und dann zeigte er ihr, wer sie wirklich war ...
* * *
Mit einem tiefen Seufzer holte der grinsende Mörderbube sie in die Gegenwart: „Na, dann wollen wir mal mit der OP beginnen.“ Er griff ungelenk nach einer kleinen, verbogenen Handsäge.
Das Mädchen war ganz ruhig, es wusste, dass es diese Nacht nicht überleben würde. Aber da war noch etwas. Eine Schwingung, die alles in Vibration versetzte, wie der tiefe Bass einer schönen Musik. Es war ihr, als erfüllte sich eine lang unterdrückte Sehnsucht. Sie erinnerte sich: als sie etwa dreizehn Jahre alt war, stand sie vor ihrem Fenster und sah zum Nachbarhaus hinüber, wo ihre beste Freundin wohnte. Dort fand eine Gartenparty statt. Sie beobachtete die jungen Pärchen, die eng umschlungen, zwischen bunten Lampions tanzten. Einige Gäste kannte sie aus der Schule. Sie öffnete das Fenster und hörte Lachen, Kreischen, Gläserklirren und eine betörende Musik. Sie durfte nicht hin. Damals verspürte sie eine körperlich schmerzende Sehnsucht.
Ihre Mutter kam herein und lächelte: „Na, dann geh’ schon, ich hol’ dich nachher ab.“
Vor Glück lachend flog sie ihrer Mama in die Arme und lief hinüber.
Anna hatte ihre Aufgabe fast erfüllt, jetzt muss er kommen, der Fischer, der sie aus der Untiefe menschlichen Daseins in die Höhe ihrer wahren Existenz hebt. Sie schaute nach oben und sah ihrer Rettung entgegen, da kam das Netz, noch vor dem ersten Schnitt.
Nicht enden wollendes Stöhnen und Jammern drangen in dieser Nacht durch die Wände des einsamen Gehöftes. Aber wehe, es klang zwar als wäre es ihre Stimme, die Seelen jedoch hatten schon getauscht.
Zum Schluss war es nur noch leises Wimmern, dann nichts mehr.
Der Regen hörte auf, das Gewitter war vorbei.
Draußen bellte der Hund.
Der Mörder warf die Leiche in den Schweinestall. Morgens gab er die abgenagten Gebeine in die Knochenmühle. Das feine Pulver mischte er unter einen halbvollen Sack mit Kalk.
Ihre Kleidung verbrannte er und gab die Asche in einer Tüte zum Restmüll. Er fand weder Handy noch Schlüssel. ‚Um so besser’, dachte er.
Und Niemand hatte irgend etwas gesehen oder gehört.
Das Fernsehen sendete Tage später eine Vermisstenmeldung. Er hörte, dass Anna Anavrin- Novlegne, die sechzehnjährige Tochter eines russischen Geschäftsmannes und seiner Frau, nach einem Diskothekenbesuch, irgendwann nach Mitternacht, einfach verschwunden war, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Gezeigt wurde ein Passbild Annas.
* * *
Der Mörder lebte sein Leben, ohne Reue, ohne Scham und ohne Einsehen, aber auch ohne Glück.
Nach ein paar Jahren stellte sich ein merkwürdiger Traum bei ihm ein. Es war, als stehe er des nachts vor seinem Haus, obwohl er gerade noch in seinem Bett lag und versänke langsam im Erdboden. Als nur noch sein Kopf herausschaut, bewegt sich die Erde um ihn herum. Unter Dröhnen und Poltern schlägt die Scholle gegen die Haustür, die zersplittert und nach innen geschleudert wird. Die Erde schiebt ihn die Treppe hinauf. Oben steht Anna im weißen Gewand, als Lichtgestalt. Sie legt ihm ihre Hand auf sein Haupt und die kühle, schwarze Erde fällt von ihm ab. Dann gehen beide in das Folterzimmer, wo Anna ihm mit einem Schwert den Kopf abschlägt. Sie gipst ihn ein. Sein Körper greift zu den Instrumenten und quält seinen eigenen, abgetrennten Kopf zu Tode. Eine Kuckucksuhr an der Wand schlägt an. Es kommt ein Wellensittich heraus und pfeift zwölf mal ‚Riders on the Storm – Riders on the Storm – Riders on the ...’
Auch an des Mörders fünfundsechzigstem Geburtstag war es so. Aber dieses Mal gingen sie nicht in das Folterzimmer, stattdessen sprach Anna hoch auf der Treppe zu ihm:
„Heute wirst du eine Reise machen.“
„Ich verstehe nicht“, stammelte er, „ich bin noch nie verreist und habe es auch nicht vor.“
„Du wirst. Und du wirst auch das Nullsummengesetz erfüllen.“ Sie klang ernst.
„Null ... was?“, Fragte er. Die Situation wuchs ihm über den Kopf. Er fühlte sich unwohl. Skurril genug, sich mit einer Toten zu unterhalten, aber es kam ihm gar nicht mehr vor wie ein Traum.
„Wenn du dich am Abend betrinkst, geht’s dir erst mal gut, dann aber kommt der Kater“
„Okay“, sagte er gedehnt, „soweit komme ich mit“
„Du nimmst einen Kredit und begleichst ihn“
„Aber das ist doch etwas ganz anderes“, wendete er ein.
„Glaubst du wirklich“, sprach sie leise, „dass du dir etwas nehmen kannst, ohne zu bezahlen?"
„Hör’ auf!“, Schrie er und nahm die Hände vor's Gesicht. Erkenntnis kam über ihn. "Ich bereue", schluchzte er.
„Damit ist es nicht getan, du hast noch einen Kredit zu begleichen. Deine Seele wird fünfundvierzig Jahre in die Vergangenheit reisen. Dort fährt sie in einen Körper mit Gipskopf.“ Zuletzt hatte sie ganz leise gesprochen und fuhr ihm zärtlich mit ihrer Hand über den kahlen Schädel.
Er wurde leichenblass, unfähig zu sprechen, zitterte er am ganzen Körper. Sein Gesicht verfiel binnen Sekunden und er bekam diese spitze Nase, wie es Sterbenden zu eigen ist. Ganz langsam fiel er vornüber auf den Boden und blieb reglos liegen.
Sie aber, kniete neben ihm nieder und betete. Dann stand sie auf und öffnete ein Fenster. Der kühle Wind strich ihr durch das Gesicht. Sie breitete ihre starken Schwingen aus, machte zwei kraftvolle Schläge und glitt in die Nacht hinaus.
Der aufkommende Sturm gefiel ihr.
Im Irrlicht des ersten Blitzes, flackerte hinter ihr für einen winzigen Moment, das bunte Flattern eines Sittichs auf. Ein Farbklecks, wie aus einem, einst in strahlenden Farben gemaltes Bild, Michelangelos.
Sie war wieder auf der Suche, auf der Suche nach der Erfüllung ihrer eigenen Nullsumme.
* * *
Hallenser Kurier, 16.August 2057
Grausames Gewaltverbrechen nach 45 Jahren aufgeklärt
Wie berichtet, wurde am Montag auf dem Einsiedelhof, im südlichen Umfeld der Stadt, die stark verweste Leiche des Raymund M. gefunden. Der fünfundsechzigjährige Landwirt hatte bis zuletzt das heruntergekommene Gehöft ganz allein bewirtschaftet.
Der Postbote: „Ja, also ich kam so gegen Mittag auf den Hof und traf Herrn M. zum wiederholten Male nicht an. Das kam mir komisch vor und da die Tür offen stand ging ich hinein. Dort lag er, ganz oben auf der alten Holztreppe. Um ihn herum war überall schwarze Erde. Alles war voller Fliegen und es stank bestialisch.“
Da M. keine Angehörigen hat, schickte die Stadt einen Mitarbeiter, um den Nachlass zu regeln. Dabei machte der eine makabere Entdeckung.
Hubert K.: „Ich fand in einem Versteck auf dem Dachboden so eine uralte Videokassette. Da es sich um ein Testament hätte handeln können, musste der Inhalt gesichtet werden. Es war nicht einfach, ein passendes Abspielgerät zu finden. Aber was ich dann sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.“
Das Video zeigt in allen Einzelheiten, wie ein junges Mädchen von dem Landwirt M., auf grausamste Art zu Tode gefoltert wird.
Ein Sprecher der Kripo Halle, Degenhardt: Nun, wir mussten lange im Archiv suchen. Schließlich konnte man dem Verbrechen eine Vermisstenmeldung aus dem Jahre 2012 zuordnen. Damals war die sechzehn jährige Anna A., aus einer Diskothek spurlos verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht.“
Hallenser Kurier: „Wie wir erfuhren, Herr Degenhardt, hatten sie große Schwierigkeiten, die Identität des Mädchens festzustellen?“
Degenhardt: „In der Tat, das hatten wir. Annas Kopf war fast vollständig eingegipst, so dass man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Da sie keinerlei Verwandtschaft mehr zu haben schien, hatten wir schon fast aufgegeben. Da meldete sich ein Cousin des Opfers, aus der Ukraine. Er hatte aus dem Internet von dem Verbrechen erfahren. Seine Aussage belegt zweifelsfrei, dass es sich tatsächlich um Anna A. handelt.“
Hallenser Kurier: „Inwiefern?“
Degenhardt: „Er wusste von einem Muttermal Annas auf ihrer linken Schulter, das nie in den Medien erwähnt wurde. Er meinte, als Kinder hätten sie Anna in der Badeanstalt immer damit aufgezogen. Das Muttermal hatte die Form eines betenden Engels.“
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Into this house we're born
Into this world we're thrown