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Reykjavik
„Ich kenne den Grund nicht, aus dem du zurückgekommen bist, und eigentlich glaube ich auch nicht, dass es einen solchen gibt. Mit größter Sorgfalt hast du dir deine eigene Welt konstruiert, die unentwegt um sich selbst kreist. Dort gibt es keinen Platz für deine Fehler, denn jede Entscheidung muss sich an den deinen messen lassen. Du bist dein Gott, und alles Abweichende ist weniger. Aber lass uns annehmen, es gäbe so etwas wie Reue in deiner Welt. Auch in diesem Fall fehlt deiner Rückkehr jeglicher Grund, denn mir hast du das alles nicht angetan. Ich kann dir nicht verzeihen, denn die Person, die du verlassen hast, die gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr. Es war ein kurzer Leidenskampf und mit dem Ende des Sommers endete auch er“.
Mit Bedauern klappte er seinen Laptop zu. Es war einer der Tage, an denen G. Stunden mit Schreiben verbracht hatte, ohne einen einzigen brauchbaren Satz auf dem Bildschirm zu hinterlassen. An solchen Tagen fehlte es ihm an jeglicher Assoziation mit seinem Selbst. Er fühlte sich so, als sei eine dünne Schicht Watte um sein Gehirn gepackt, die jegliche Verbindung zur Außenwelt gerade soweit abdämpft, dass alle Eindrücke plötzlich surreal und weichgezeichnet wirkten. Auch wenn seine Gedanken auf ihn in diesen Momenten schwerwiegend und bedeutungsvoll schienen, er hätte sie niemals in Worte fassen können, weil er gegenüber den Worten taub war. Er fühlte sich wie ein Maler, der wiederholt von wunderschönen Bildern träumt, doch dem beim Aufwachen schmerzlich bewusst wird, dass er sein Augenlicht schon vor Jahren verloren hatte.
Er blickte auf das Bild, das er vor langer Zeit gezeichnet hatte. Es zeigte seine damalige Liebschaft, wie sie an ihrem Schreibtisch saß und mit ernstem Gesichtsausdruck an einem Brief schrieb. Daneben der Brief. „An G.“ stand darauf, darin einige handgeschriebene Seiten, doch so er sie heute las, fehlte es ihnen an Bedeutung. Einige Worte darin konnte er entziffern, dann schien der Strom zum Fluss zu werden und die Sätze überschlugen sich. Einige Worte stachen ihm ins Auge und schienen für sich Sinn zu machen, aber so sehr er sich bemühte, das Gesamtbild blieb ihm verwehrt. So war es auch damals. Wirklich verstanden sie sich nie und niemand um sie herum verstand die Anziehung zwischen den beiden.
Sie war eine Künstlerin, konnte gut mit Menschen umgehen und liebte die Musik. G. machte das alles Angst. Er mochte die Musik, doch verstand er sie nicht und das gleiche galt wohl auch für die Menschen. Nur zu sehr wenigen Personen verspürte G. eine wirkliche Zuneigung, das waren jene, die mit ihm seine Interessen teilten, mit denen er über Literatur oder Wissenschaft diskutieren konnte. Alle anderen waren ihm zu kompliziert, das war auch der Grund, weshalb er kurz nach seiner Trennung Wien verließ und nach Reykjavik aufbrach. Es war sein erster Winter hier im Norden und er liebte die dunklen Monate. Hier war er allein mit seinen Büchern, mit seinem Computer und vor allem mit sich selbst. Es war wohl endlich an der Zeit, auch die Reste seiner Vergangenheit los zu lassen, aber ganz brachte er es noch nicht übers Herz. Und so schrieb er jeden Tag an seinem Abschiedsbrief an sie.
Ihr Bild als ständige Erinnerung in der ewigen Nacht Islands.