Rewind
Es ist Sonntag, halb elf. Ich sitze mit meiner Nachbarin Arianna und ihrem Baby am reich gedeckten Brunch-Tisch und kann mich nicht entscheiden, welchen Brotaufstrich ich als nächstes versuche. Die Kleine zerfetzt eifrig den Sportteil der Wochenendzeitung.
„Was für ein Datum haben wir eigentlich heute?“, will ich wissen.
„Den 21., warum?“
„Ich hab immer noch nichts von den Firmen gehört, bei denen ich mich beworben habe …“
„Das dauert halt. Weißt du …“ Der Nachbarspfau brüllt auf. „Maaaaaann, das nervt!“, zischt Arianna. „Wozu hält man sich eigentlich solche Viecher? Kann man die Eier von denen überhaupt essen?“
„Keine Ahnung“, zucke ich die Schultern und entscheide mich für den rosafarbenen Rote-Bete-Meerrettich-Aufstrich.
„Typisch“, grinst sie. „Falls du es heute übrigens noch schaffst, dich zu rasieren, nehmen wir dich mit auf einen kleinen Sonntagsspaziergang. Dann können wir Valentinas Geburtstagsparty nächste Woche planen. Oder hast du schon was vor?“
„Nö. Höchstens …“
Ich werde von einer herannahenden Polizeisirene unterbrochen, die Arianna sofort nervös werden lässt:
„Hoffentlich ist nichts passiert.“
„Na zum Spaß werden die hier nicht rumrasen …“
„Was du nicht sagst. Ich ruf lieber mal Phillip an …“
Während sie sich davon überzeugt, dass es ihrem Mann, der Schicht arbeitet, gut geht, fährt das zweite Polizeiauto mit Karacho durch unsere 30er-Zone, dicht gefolgt von Krankenwagen und Notarzt. Als zwei Minuten später dann auch noch die Dorffeuerwehr mit allen drei Löschzügen ausrückt, klingle ich doch mal bei meinen Eltern durch, ob alles in Ordnung ist. Die wissen wie immer schon, was los ist. Zumindest grob. Ein paar hundert Meter vor dem Ortseingang gab es einen Crash zwischen einem Motorradfahrer und einem Radler. Es soll sogar jemand gestorben sein.
Klar, dass einem da flau im Magen wird, aber dass Arianna gleich den gesamten Brunch abbrechen will, um den Sonntagsspaziergang Richtung Unfallstelle zu unternehmen, finde ich doch übertrieben.
„Wie die Schaulustigen auf der Autobahn, echt. Das kannst du doch nicht machen.“
„Und wenn es jemand ist, den wir kennen?“
„Dann erfährst du es morgen aus der Zeitung, oder noch früher von irgendeiner geschwätzigen Nachbarin.“
Wie auf Kommando klingelt ihr Handy. Nach einem kurzen Gespräch mit vielen „Nein!“s und „Oh mein Gott!“s legt sie auf und schaut mich bestürzt an:
„Der Motorradfahrer war sofort tot. Ist gegen einen Baum geknallt. Und der Radler … das ist echt eklig. Der wird immer noch reanimiert aber scheinbar fehlen ein paar Körperteile die sie nicht mehr finden.“
„Und da wolltest du mit dem Kinderwagen hinschieben.“
„Ja, blöde Idee … jedenfalls war Andreas Cousine Zeugin und hat auch den Notruf gewählt. Jetzt ist sie total fertig, logisch.“
„Und hat nichts besseres zu tun, als gleich mal ihrer ganzen Verwandtschaft detailreich zu schildern, was sie erlebt hat. Sehr schön.“
„Mann, Jakob! Es gibt halt Leute, die verstehen, dass man sich in so einer Situation Sorgen macht und wissen will, was passiert ist!“
„Jedenfalls gehen wir in der entgegengesetzten Richtung spazieren.“
„Von mir aus …“
Bald kreist ein Hubschrauber über der Unfallstelle und sucht per Wärmebildkamera nach Körperteilen. Arianna kennt den ganzen Tag kein anderes Thema mehr, was es mir schwer macht, die grusligen Bilder zu verdrängen.
In der Montagszeitung wird von einem 25-jährigen Motorradfahrer berichtet, der mit stark überhöhter Geschwindigkeit in einen 40-jährigen Radfahrer geknallt sei, der dabei sein Bein verloren habe. Dieses sei gefunden und wieder angenäht worden. Der junge Motorradfahrer aus Oberkirchen sei noch an der Unfallstelle seinen schweren Verletzungen erlegen.
Also jemand aus dem Ort, ein Jahr jünger als ich. Es ist unvermeidlich, dass man darüber nachdenkt, wer von den ehemaligen Klassenkameraden noch hier wohnt und Motorrad fährt. Aber vielleicht ist es auch jemand, der noch nicht lange hier wohnt? Ich kenne natürlich bei Weitem nicht jeden Mittzwanziger hier. So klein ist das Dorf auch wieder nicht. Ich beschließe, mich damit abzulenken, in die Stadt zu fahren und endlich ein Geburtstagsgeschenk für Ariannas Kleine zu besorgen, die nächste Woche schon ein Jahr alt wird.
Leider klappt das mit der Ablenkung nicht so besonders gut, denn selbst in der Kreisstadt ist der Unfall Thema Nummer eins. Sogar die Verkäuferinnen im Spielzeugladen brüten über dem Zeitungsartikel und bekunden, wie schrecklich die Sache ist:
„Die Eltern tun mir ja wirklich Leid. Aber man muss auch sagen, dass er selber Schuld war, wenn er an so einer gefährlichen Stelle zu schnell fährt …“
„Natürlich, da ist schon so viel passiert. Aber es ist auch wirklich ungerecht. Ich kenne die Familie ja. So lange mussten sie sich Sorgen um ihren Sohn machen, weil er mit der Bundeswehr im Auslandseinsatz war. Und jetzt, wo er gerade nach Hause gekommen war und sich hier wieder alles aufbauen wollte, sowas …“
Ich bin fast ein wenig erleichtert. Ich kenne nämlich niemanden beim Bund. Trotzdem will ich es jetzt genauer wissen:
„Entschuldigung? Sie kennen die Familie? Ich bin nämlich aus Oberkirchen und 26 Jahre alt. Also müsste ich ja mit dem Motorradfahrer in der Schule gewesen sein, oder?“
„Ach nein, die Familie ist erst später nach Oberkirchen gezogen. Sie kennen ihn also bestimmt nicht.“
„Ah, ach so.“
Nachdem ich ebenfalls bekundet habe, wie gefährlich und uneinsichtig die Unfallstelle ist, lasse ich mich noch wegen einem Geschenk beraten und verlasse den Laden mit neun schweineteuren Holzbuchstaben für die Kinderzimmertür. Davon wird Valentina immerhin länger was haben als von irgendwelchem Spielzeug, für das sie in zwei Jahren zu alt ist.
Ich schlendere noch ein wenig durch die Innenstadt, als mein Handy klingelt und meine Mutter mir ganz aufgeregt erzählt, dass bei den Nachbarn das Auto einer Bestattungsfirma steht.
„Die haben doch einen Sohn in deinem Alter, oder?“
„Fabio.“
„Fährt der Motorrad?“
Ich nicke und merke dann erst, dass sie mich ja nicht sehen kann. Das passt alles zusammen. Seine Familie ist erst nach Oberkirchen gezogen, als ich schon im Gymnasium war. Und er fährt Motorrad.
„Ich ruf zurück“, stammle ich und lege auf.
Kann das wirklich sein? Wenn er im Krieg gewesen wäre, hätte ich das nicht irgendwoher erfahren? Aber woher denn? Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Früher sind wir jeden Tag zusammen rumgehangen, aber das hat sich verlaufen, als wir noch Teenager waren. Erst letzte Woche - es muss am Montag gewesen sein, weil es der Tag war, an dem mein Vater seine Knie-OP hatte - bin ich abends noch mit dem Hund meiner Eltern raus gegangen. Und da hab ich ihn in der Garage an seinem Motorrad schrauben sehn. Ich hab ihn nicht mal gegrüßt. Ich hab mich über seinen kahlgeschorenen Kopf gewundert und über seinen grimmigen Gesichtsausdruck. Kurz wollte ich „hallo“ sagen und ihn fragen, was bei ihm die letzten Jahre so los gewesen ist. Gehört hatte ich ja einiges von wilden Schlägereien und Alkoholexzessen, viel zu lauten Partys im Garten und Stress mit der Familie. Aber ich bin dann doch einfach weitergegangen, weil er mir so fremd vorgekommen war und weil ich dachte, es würde sich schon noch die Gelegenheit ergeben, mal Smalltalk zu machen. Vielleicht bei Facebook. Am selben Abend habe ich nach seinem Profil gesucht, aber keines gefunden.
Und jetzt soll er tot sein? Das geht doch gar nicht. Menschen in meinem Alter sterben nicht einfach so. Und schon gar nicht die in unserer Nachbarschaft. Das ist bestimmt eine Verwechslung. Vielleicht stand das Bestattungsunternehmen aus einem ganz anderen Grund dort? Vielleicht arbeitet er oder einer seiner Brüder jetzt für eines? Kann doch sein, oder? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden: Den Spielzeugladen.
Bei den Verkäuferinnen scheint wieder der Alltag eingekehrt zu sein. Während die eine gerade eine junge Mutter berät, räumt die andere - die, die Bescheid weiß - Regale ein. Ich gehe direkt zu ihr und frage:
„Fabio Leim?“
Sie sieht mich erst überrascht, dann mitfühlend an:
„Sie kannten ihn doch?“
Ich nicke und gehe. Sie fragt mich noch, ob alles in Ordnung sei, ich nicke wieder und verlasse den Laden.
Also doch. Mein Handy klingelt, ich schalte es aus. Eigentlich habe ich gar kein Recht, so getroffen zu sein. Ich hab ihn bestimmt schon seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen und auch nie an ihn gedacht. Ich hab ihn ja nicht mal gegrüßt, in Gottes Namen! Sein Tod wird mein Leben ganz und gar nicht beeinflussen. Im Gegensatz zum Leben seiner Familie. Wie es seinen Brüdern und Schwestern jetzt gehen muss! Und seinen Eltern! Nicht nur, dass ihr Sohn so plötzlich nicht mehr da ist, er hat auch noch einen anderen Menschen schwer verletzt. Und die Unfallstelle liegt vielleicht 300 Meter von ihrem Haus entfernt. Oh Gott, sehen sie von einem Fenster im Obergeschoss aus vielleicht sogar hin? Waren sie gestern zu Hause und haben sich gefragt, was wohl passiert sein mag, als die ganzen Fahrzeuge mit Blaulicht an ihnen vorbeigerast sind? Haben sie, so wie wir, ihre Familienmitglieder angerufen, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist? Wann haben sie wohl erfahren, dass Fabio einen Unfall hatte? Ob sie ihn an der Unglücksstelle gesehen haben?
Ich bin in einen kleinen Park eingebogen. Hier hab ich früher oft die Mittagspause verbracht. Die dicken Mauern verbergen einen vor neugierigen Blicken und der viele Müll verhindert, dass sich zu viele Leute hier her wagen. Ich setze mich auf eine leicht nach Urin riechende Bank und schaue in den Himmel. Meine Gedanken rasen und ich hab ein schlechtes Gewissen.
„Warum hab ich ihn nicht einfach gegrüßt?“, frage ich laut.
„Etwas zu bereuen, ist ein scheiß Gefühl, hm?“
Ich springe auf. Hinter der Bank liegt ein Obdachloser auf ein paar Pappschachteln auf dem Boden.
„Oh, ich hab sie gar nicht gesehen.“
„Was bereust du?“
„Ach, es ist eigentlich voll dämlich.“
Der alte Mann mit dem dreckigen Bart streckt sich knackend und steht auf.
„Erzähl’s mir. Ich kann ein bisschen Unterhaltung gebrauchen.“
Etwas unentschlossen stehe ich vor der Bank. Dann setze ich mich doch. Während ich rede, macht der Alte etwas, das wie Morgengymnastik anmutet, hört aber aufmerksam zu. Als ich fertig bin, fragt er:
„Und du glaubst, wenn du einfach nur ‚Servus‘ zu ihm gesagt hättest, dann wäre alles anders gekommen?“
„Ja, ich weiß, das hört sich ziemlich dumm an. Ich hab das Retter-Syndrom, sagt meine Freundin oft. Aber geschadet hätte es doch sicher auch nicht, wenn ich was gesagt hätte, oder? Und ich müsste mir jetzt nichts vorwerfen …“
„Ich hab genau das, was du jetzt brauchst“, behauptet er und verschwindet hinter einem Busch.
„Da bin ich gespannt.“
„Medizin!“, verkündet er wenig später und reicht mir eine halbvolle Wodkaflasche. Nepemotka. Noch nie gehört. „Das hilft gegen Fehler aus der Vergangenheit.“
„Na ich weiß nicht.“
„Hör auf mich, ich bin Arzt.“
Irgendwie glaub ich ihm das sogar. Aber ich hab gerade keine Lust, mir seine Lebensgeschichte anzuhören. Auf jeden Fall nehme ich einen großen Schluck der brennt wie Feuer. Also Wodka ist das nicht. Wahrscheinlich Strohrum oder sowas. Ich bedanke mich, lege einen Fünfer auf die Bank und verschwinde.
Im Zug muss ich mich sehr zusammenreißen, nicht einzuschlafen. Was hat der Kerl mir da bloß eingeflößt? Selbst Schuld, wenn man von Pennern Alkohol aus offenen Flaschen schnorrt. Mir ist aber wohlig warm und ich fühl mich gut. Meine Couch kommt mir viel weicher vor als sonst und ich gleite ganz gemütlich in einen tiefen Schlaf.
*****
Mein Telefon klingelt und weckt mich damit jäh auf. Ich brauche ein paar Sekunden, um mich zu orientieren. Es ist dunkel. Wie lange hab ich denn geschlafen?! Ich stolpere über meine Schuhe zum Telefon.
„Ja?“
„Hast du schon geschlafen?“, fragt meine Mutter.
„Wie spät ist es?“, will ich wissen.
„Halb neun.“
„Oh, ich bin auf der Couch eingeschlafen.“
„Ach so, ich wollte dich nämlich bitten, mit Rufus rauszugehen.“
Darum wird sie mich in nächster Zeit wohl noch öfter bitten. Mein Vater dürfte nach seiner Knie-OP heute Vormittag noch eine Weile ausfallen und meine Mutter würde um acht am liebsten schon schlafen gehen.
„Kein Problem, ich hol ihn in zehn Minuten ab.“
Wo hab ich eigentlich meine Einkäufe gelassen? Die Tüten sind nirgendwo zu finden. Na toll, die werde ich ja wohl nicht im Zug liegengelassen haben? Super, dann darf ich diese Woche noch mal in die Stadt. Das will ich gleich in meinem Terminplaner eintragen, um es bloß nicht zu vergessen. Moment mal, der Kalender sagt mir, dass heute der 15. ist. Ich hab also noch zwei Wochen, bis zu Valentinas Geburtstag. Mann, bin ich neben der Spur! Immerhin fühle ich mich ansonsten wieder ganz normal. Wie kam ich bloß dazu, das Zeug zu trinken? Das ganze Zusammentreffen scheint mir inzwischen ganz schön unwirklich. Warum bin ich eigentlich bei dem schlechten Wetter in den Park gegangen? Einkaufen bekommt mir scheinbar nicht besonders gut.
Ich stapfe die Hauptstraße entlang, stelle nebenbei fest, dass Arianna noch Licht an hat, biege beim Haus der Familie Leim in die Straße, in der ich aufgewachsen bin und benutze meinen alten Haustürschlüssel, um Hund und Leine abzuholen. Die kleine Promenadenmischung freut sich wie immer riesig, mich zu sehen und knurrt mich erst mal an.
„Willst du lieber ins Katzenklo machen?“, frag ich ihn, er zeigt sich von der Drohung allerdings mäßig beeindruckt.
Meine Mutter taucht im Schlafanzug vor mir auf und wünscht uns einen netten Spaziergang und eine gute Nacht, ist aber noch so freundlich, den Hund für mich anzuleinen, so dass ich meine Finger nicht in die Gefahr bringen muss, gebissen zu werden. Ich bin mehr so der Katzentyp.
„Na dann wollen wir mal. Ich hab Bock auf eine größere Runde. Du?“, frag ich den Kurzbeiner und mache extralange Schritte.
Bei Leims in der Garage brennt jetzt Licht. Das Tor ist offen. Ich riskiere einen Blick, weil mich die Dunkelheit sowieso verbirgt. Aha, aus einem kleinen Radio tönt leise Musik und jemand schraubt an einem Motorrad rum. Welcher der vier Brüder das wohl sein mag? Ein Gesicht taucht über dem Sattel der Maschine auf. Ich erkenne es sofort, auch wenn es grimmiger und älter wirkt als früher. Kurz überlege ich, einfach weiterzugehen, aber aus einem plötzlichen Impuls heraus sag ich doch:
„Hey Fabio!“
Er kneift die Augen zusammen und versucht, in der Dunkelheit jemanden zu erkennen, darum mache ich ein paar Schritte auf ihn zu.
„Ach, Jack. Hey!“
So hat mich schon lange keiner mehr genannt. Rufus schnüffelt sofort in der Garage rum und lässt sich sogar von Fabio tätscheln. Er konnte schon immer gut mit Hunden, ich erinnere mich. Seine Gesichtszüge sind jetzt merklich weicher und trotz der geschorenen Haare sieht er dem Jungen von damals doch wieder ziemlich ähnlich.
„Achtung, der schnappt manchmal“, warne ich ihn.
„Quatsch. Wir verstehen uns. Hm, Kleiner?“
Der Hund lässt sich auf den Rücken rollen und den Bauch kraulen.
„Bin beeindruckt. Aber bevor er dir in die Garage pinkelt, gehen wir mal lieber.“
„Jo, ciao.“
„Wir sehn uns.“
Als ich Rufus eine Stunde später völlig geschafft zurückbringe, ist die Garage wieder dunkel und geschlossen und der Hund hat bewiesen, dass er mehr Kondition hat, als man ihm zutraut.
Am nächsten Morgen habe ich die seltsame Begegnung mit dem Obdachlosen und seiner Medizin schon fast wieder vergessen. Dafür erzähle ich Arianna von dem kurzen Gespräch mit meinem ehemaligen Nachbarn.
„Ach, der, der spät nachts immer seine Maschine laufen lässt? Ich warte nur drauf, dass die Kleine mal davon aufwacht. Dann bring ich sie ihm vorbei und er soll sehn, wie er sie wieder zum Einschlafen bringt. Lach nicht, das mach ich eiskalt!“
Ich glaube ihr auf’s Wort.
„Und, hattest du was mit dem?“, will sie unvermittelt wissen.
Ich huste erst mal, um Zeit zu gewinnen. Sie lässt sich aber nicht abwimmeln:
„Na?“
„Nein … nicht wirklich. Ich meine, wir warn 14 oder so …“
„Moment mal, war das der, von dem du deinen ersten Kuss bekommen hast? Am Weiher?“
„Mann, ich erzähl dir echt immer zu viel …“
Mittwochabend, ich bin gerade in eine Folge „Breaking Bad“ vertieft, klingelt mein Telefon wieder und ich ahne schon, dass es darum geht, den kleinen Kläffer Gassi zu führen. Na schön, ein bisschen frische Luft schadet ja nicht. Außerdem … vielleicht seh ich Fabio ja wieder? Mann, und dann? Wie alt bin ich eigentlich? 14, oder was?
Die Garage ist zu. Schade. Naja, dann mach ich halt nur eine kurze Runde. Vielleicht hab ich nachher ja mehr Glück. Ich jogge mit dem Hund den höchsten Berg rauf, den unser Kaff zu bieten hat, genieße kurz den Ausblick auf die vielen Lichter im Dorf und erkläre Rufus, der sich langsam an mich zu gewöhnen scheint, dass es Zeit ist, heim zu gehen. Vielleicht schaffen wir das ja sogar ohne Leine? Bei meinen Eltern klappt es schließlich auch.
Eigentlich ist Rufus ja ganz süß. Und er bleibt auch immer brav neben mir auf dem Gehsteig, bis wir zum Haus der Familie Leim kommen. Er läuft sofort zur Garage, kratzt am Tor rum und sucht offensichtlich den Zweibeiner, der genau an den richtigen Stellen krault.
„Komm Rufus, Fabio ist heute nicht da.“
Aber so schnell gibt er nicht auf. Bevor ich es verhindern kann, schlüpft er schon durch ein kleines Loch im Zaun in den Garten.
„Rufus“, knurre ich, „komm sofort wieder her! Rufus! Verfluchte Scheiße!“
Super! Das Gartentor ist abgesperrt und der Zaun ist viel zu hoch zum Drüberklettern. Und das aus gutem Grund: Die Familie hat zwei große Hunde. Was, wenn die Rufus was tun? Aber wenn sie draußen wären, würden sie vermutlich kläffen, oder?
Eine Weile stehe ich ratlos am Zaun. Es ist halb zehn. Das ist zu spät, um zu klingeln, oder? Es brennt zwar noch Licht, aber … da bewegt sich was im Garten. Eine Gestalt kommt auf mich zu. Fabio. Und er hat Rufus auf dem Arm.
„Hey Jack. Ich saß auf der Terrasse und plötzlich hüpft mir dein Zwerg auf den Schoß.“
„Ach, Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich muss klingeln … Er hat schon an der Garage gesucht, aber als du da nicht warst, hat er sich verselbständigt.
„Böser Hund“, grinst er und reicht ihn mir über den Zaun.
„Danke. Und entschuldige …“
„Kein Problem. Also …“
Offensichtlich ist er nicht scharf auf ein Gespräch mit mir. Was hab ich auch erwartet?
„Ja, bis dann.“
Am Samstag soll ich den ganzen Tag für meine Eltern den Hund hüten, weil es schweineheiß ist und sie zu Bekannten fahren, Rufus die lange Autofahrt aber nicht antun wollen. Da ich mit Arianna und Valentina schon vereinbart habe, am Nachmittag an den Badesee zu fahren, muss Rufus eben mit. Deshalb nehme ich das peinliche Damenrad meiner Mutter, das mit einem Hundekorb ausgestattet ist und radle los. Die Mädels wollen mit dem Auto nachkommen.
Auf halber Strecke bekomme ich allerdings eine SMS, dass Phillip überraschend frei bekommen hat und keine Lust auf Baden hat. Toll, jetzt dreh ich aber auch nicht mehr um. Ich denke an Fabio und mir fällt die Bucht wieder ein, in der wir als Jungs immer gelegen sind. Das Ufer ist zwar ziemlich steil und es gibt viele Wasserpflanzen, aber dafür verirrt sich kaum jemand da hin. Warum sollte ich mich also unter die lauten Familien mischen, wenn ich auch in Ruhe mein Buch zu Ende lesen kann?
Tatsächlich bin ich allein, stelle nur schnell meine Sachen ab, binde den Hund an einen Baum und springe erst mal in den zugewucherten See. Hat nicht mal jemand behauptet, hier lebe eine Riesenschildkröte? Naja, die wird mich schon nicht beißen … Ich ziehe also ganz friedlich meine Bahnen, als mich plötzlich irgendwas ins Bein kneift. Panisch rudere ich Richtung Ufer und klettere die glitschige Böschung hinauf. Schallendes Gelächter. Häh? Ich blicke mich um. Genau dort, wo ich eben noch geschwommen bin, lässt sich jetzt Fabio treiben und amüsiert sich köstlich.
„Na warte!“
Ich springe wieder rein und kraule stümperisch auf ihn zu. Leider ist seine Technik viel besser und ich schaffe es nicht, ihn einzuholen. Als er am Ende unserer Bucht angekommen ist, fragt er aus sicherer Entfernung:
„Gibst du auf?“
„Vorerst. Was machst du überhaupt hier?“
„Baden?“, schlägt er vor.
Ich gebe einen Grunzlaut von mir und schwimme die lange Strecke zum Ufer zurück, wo wir fast gleichzeitig ankommen.
Jetzt sehe ich auch sein Handtuch und vor allem sein Motorrad, das ein paar Meter neben Rufus parkt.
„Warum darf dein Hund nicht mit ins Wasser? Der hätte dich sicher vor mir gewarnt.“
„Oder er hätte sich von der Riesenschildkröte fressen lassen“, gebe ich zu bedenken.
„Das ist doch ein Mythos.“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil ich ihn in die Welt gesetzt habe“, grinst er und legt sich auf sein Handtuch.
Soll ich meines zu ihm rüberziehen? Aber immerhin war ich zuerst da. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich ja gleich neben mir platziert, oder? Ich lasse erst mal Rufus frei, der sich gleich mal zu Fabio legt.
„Ist das okay?“, frage ich.
„Klar.“
Er setzt eine Sonnenbrille auf und krault den Hund apathisch.
Irgendwie ist das doch seltsam. Wir liegen fünf Meter auseinander in einer einsamen Weiher-Bucht und reden kein Wort. Okay, ich glaube, er ist eingeschlafen. Ich lese ein paar Seiten, muss aber immer wieder zu ihm rüber schielen. Wow. Wirklich, einfach nur wow. Was er wohl dafür tun muss, so auszusehen? Bestimmt ewig viele Gewichte stemmen. Das wäre ja nichts für mich, aber ich muss zugeben, ihm steht das. Er streckt sich, fängt wieder an, Rufus zu kraulen und reibt sich die Augen unter der Sonnenbrille.
„Du bist jetzt leider pleite. Und deine Schuhe wurden auch geklaut“, teile ich ihm mit.
„Solange meine Maschine noch da ist, halb so schlimm“, grinst er und dreht sich zu mir.
Dann kommt das Gespräch wieder zu erliegen. Stille kann ich nur schwer ertragen. Ich bin einer dieser Menschen, die dann lieber smalltalken. Aber irgendwas an seiner Körpersprache hält mich davon ab. Ich hab das Gefühl, er will seine Ruhe haben.
„Soll ich lieber gehen?“, frage ich und höre mich dabei genervter an als ich es vorhatte.
Er setzt sich auf:
„Ich hab dich neulich mit Frau und Kind spazieren gehen sehn. Deine?“
Ich lache auf: „Um Gottes Willen, nein! Wie käm ich denn dazu? Nein, Arianna ist meine Nachbarin.“
„Ach so.“
Er scheint … erleichtert? Auf jeden Fall steht er auf und kommt zu mir rüber. Rufus erhebt sich träge und dackelt ihm hinterher. Beide setzen sich auf mein Handtuch.
„Ziemlich genau hier haben wir uns damals zum ersten Mal geküsst.“
Ich glaube, ich werde etwas rot, kriege aber raus:
„Ja, da bei dem Baum …“ und setze mich ebenfalls auf.
Ich lege meine Hand auf seine und finde, dass wir uns jetzt unbedingt küssen sollten. Er scheint nichts dagegen zu haben, nur Rufus kläfft ein wenig.
„Mh“, mache ich.
„Ja“, lächelt er.
„Mehr …“
Irgendwie komm ich mir vor wie ein Teeny. Aber spätestens als er sich hinlegt und mich auf sich zieht, betreten wir Neuland.
„Was ist das für eine Narbe?“, frage ich und streiche über seinen Arm.
„Offener Bruch. Dabei hab ich meine Maschine zerlegt. Hat ewig gedauert, bis sie wieder die alte war.“
„Schraubst du abends deshalb immer an ihr rum?“
„Ist nur noch Feinarbeit.“
„Bist du einer dieser Irren, bei denen man nur drauf wartet, dass sie mal an nem Baum kleben?“
„Ich hab mein Motorrad im Griff.“
Ich tippe auf seine Narbe:
„Ja, das seh ich.“
Sein Blick verfinstert sich:
„Hör mal …“
„Schon okay, weniger reden, mehr küssen.“
Nach einer Weile fragt er:
„Wie spät ist es?“
„Keine Ahnung. Musst du los?“
„Meine Familie gibt heute so eine Art Fest.“
„Kann ich mitkommen?“ Ich beiße mir auf die Zunge: „Quatsch, das …“
„Ich würd dich gern mitnehmen, aber … ich weiß nicht, ist eher so ein Verwandtschaftsding. Du würdest dich langweilen …“
„Es ist gleich fünf …“, sagt mir mein Handy.
Und mein Hirn sagt mir, dass er mich jetzt sicher für eine verzweifelte Klette hält.
„Dann hab ich schon noch ne halbe Stunde.“
„Hat wer Geburtstag?“
„Nein, ist eher so eine ‚Willkommen zu Hause‘-Party.“
„Für wen?“
„Für mich. Ich war eine Zeit lang im Ausland.“
„Ach echt? Studium oder sowas?“
„Ja, was in der Art.“
„Seit wann bist du wieder da?“
„Ein paar Wochen.“
„Deshalb hat man dich so lange nicht gesehen.“
„Ich hab davor auch schon einen Bogen um’s Haus gemacht. Seit meine Mutter ausgezogen ist, war da eh nur noch Chaos.“
„Oh, ja … ich hab Gerüchte gehört.“
„Kein Wunder, in dem Kaff. Mein Vater ist inzwischen versetzt worden. Jetzt wohnen meine Schwestern und zwei meiner Brüder allein dort. Ich kann’s kaum erwarten, wieder was Eigenes zu finden. Und du?“
„Ich wohne nicht mehr zu Hause, falls du das meinst.“
„Ach so?“
„Ich bin zwei Straßen weiter in eine Wohnung gezogen.“
„Und wo arbeitest du?“
„Ich schreib grad Bewerbungen. Hab vor ein paar Monaten meinen Bachelor in Umwelttechnik gemacht.“
„Nicht übel …“
„Also seh ich dich heute nicht mehr?“, frage ich und weiß selber nicht, warum ich es so eilig habe.
„Eher nicht.“
„Und morgen?“
„Sonntags mach ich immer eine längere Tour. Mal sehen, was ich aus der alten Dame rausholn kann.“
„Fahr vorsichtig, ja?“
„Jakob“, mault er und verdreht die Augen.
Ich küsse ihn, um nicht weiter drüber nachdenken zu müssen, was Motorradfahrern alles passieren kann.
Um acht sind meine Eltern immer noch nicht zurück, also gehe ich noch mal mit Rufus raus weil ich es mir nicht verkneifen kann, mal bei den Leims vorbeizugehen. Das hätte ich besser gelassen! Von wegen „Verwandtschaftsding“! Die ganze Straße steht voller Autos und im Garten tummeln sich dutzende Leute in meinem Alter. Rufus fängt an zu kläffen und ein großer Hund antwortet ihm von jenseits des Zauns.
„Achilles, aus!“, brüllt Fabios kleine Schwester.
Achilles gehorcht und sogar Rufus ist still.
„Geht doch“, murmle ich.
„Hey Jakob!“
Fabios großer Bruder Ralf joggt auf mich zu.
„Hallo“, mache ich unverbindlich.
„Willst n‘ Bier?“
„Ehm, klar“, antworte ich und weiß genau, dass das ins Auge gehen könnte.
„Wie geht’s dir? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“
Auf dem Weg in die Küche erzähle ich ihm meine halbe Lebensgeschichte, stelle fest, dass Achilles und Rufus sich vertragen und halte Ausschau nach Fabio.
„Der Anlass der Feier ist übrigens, dass mein Bruder heil aus Afghanistan zurückgekehrt ist.“
„Fabio war in Afghanistan?!“
„Einige Monate, ja. Aber jetzt ist er wieder hier und bleibt auch.“
Ich nicke und lächle, aber eigentlich ist mir gerade ganz anders geworden. Warum hat er mir das nicht gesagt? Mir fällt ein Zeitungsartikel wieder ein, der von der hohen Zahl von Selbstmorden unter Bundeswehrsoldaten in Afghanistan berichtet. Und überhaupt, wer zieht denn freiwillig in den Krieg?! Ich trinke schnell mein Bier und hoffe, dass ich Fabio nicht über den Weg laufe. Ich wüsste nämlich nicht, wie ich dann mit ihm umgehen sollte.
Mein Wunsch geht in Erfüllung und nach zehn Minuten verlasse ich die Feier unbemerkt wieder. Das Auto meiner Eltern steht in ihrer Auffahrt, also gebe ich gleich Rufus ab und muss mir mal wieder das Geschimpfe über die lauten Nachbarn anhören.
Zu Hause lege ich mich sofort ins Bett, obwohl es noch nicht mal neun ist, und überlege, Arianna für den Brunch morgen abzusagen. Wenn sie heute mit zum Baden gekommen wäre, wäre schließlich alles anders gelaufen und ich müsste mich jetzt nicht damit herumschlagen, dass Fabio so eine scheiß Vergangenheit hat und mir noch nicht mal was davon erzählt hat. Und Rufus. Eigentlich ist der anhängliche Köter an allem schuld. Überhaupt, wenn ich Fabio letzten Montag einfach gar nicht angesprochen hätte, wäre mein Leben weiterhin schön unkompliziert geblieben.
Genervt von allem und jedem wickle ich mich in meine Decke ein und will einfach nur schlafen. Am liebsten auch noch den ganzen morgigen Sonntag durch!
*****
Es klingelt an meiner Tür. Oder hab ich das nur geträumt? Wahrscheinlich wieder der Pizzabote, der eigentlich zu den Nachbarn will. Es klingelt noch mal. Dann klopft es sogar an der Wohnungstür. Wie spät ist es? Kurz nach Mitternacht. Ich nehme nur zur Sicherheit mein Handy mit und tapse zur Tür. Vorsichtig luge ich hinaus.
„Fabio?! Was willst DU denn hier?“
„Mein Bruder hat mir erzählt dass du da warst. Kann ich reinkommen?“
„Ich hab dir nicht nachspioniert oder sowas“, stelle ich klar. „Dein Bruder hat mich reingebeten, ich war nur …“
„Er hat es mir schon erzählt.“
„Warum um alles in der Welt hast du mir nicht gesagt, wo du gewesen bist?“
„Kann ich nicht erst mal reinkommen?“
Kommentarlos lasse ich ihn eintreten.
„Schöne Wohnung. Gar nicht so klein.“
Ich schließe die Tür etwas zu laut und schaue ihn auffordernd an.
„So etwas erzählt man nicht einfach so, Jakob.“
„Mag ja sein, aber du hast es nicht bloß verschwiegen, du hast sogar gelogen. Du hast mich denken lassen, du seist zum Studieren weg gewesen.“
„Ich weiß, tut mir leid …“
„War es so schlimm, wie man immer liest?“
„Ich lese die Sachen nicht, die darüber geschrieben werden, aber vermutlich war es sogar schlimmer. Ich will aber nicht darüber reden. Mit niemandem, nicht mal mit dir. Geht das in Ordnung?“
„Ich weiß nicht. Ich meine, ich erwarte nicht, dass du mir von jetzt auf gleich dein Herz ausschüttest. Ich finde nur, dass nicht darüber reden nichts besser macht, verstehst du?“
„Sowas schon, glaub mir.“
„Aber warum hast du dich überhaupt freiwillig gemeldet? Kannst du mir das wenigstens sagen?“
„Das war ein Fehler. Aber ich dachte halt an die schnelle Kohle und daran, was für Aufstiegschancen man hat. Und ganz ehrlich gesagt, hatte ich einfach nichts Besseres zu tun.“
„Du hattest nichts Besseres zu tun als in den Krieg zu ziehen?!“
„Von Krieg hat ja kein Mensch gesprochen. Auch wenn es genau das ist. Aber ja: Ich dachte eben, dass das vielleicht etwas ist, worin ich gut bin.“
„Befehlen gehorchen und auf Menschen schießen?“
„So war es nicht. Ich hab nie auf jemanden geschossen. Mann, Jakob, du weißt nicht, wie ich die letzten Jahre drauf war. Es musste was passieren. Und das war eben die Gelegenheit, was zu ändern.“
„Und jetzt geht’s dir besser als vorher?“
„Nicht wirklich. Aber es geht mir anders. Und einen Versuch war es wert. Ich hatte eben keinen, der mir wichtig genug war, dass er mir den Blödsinn hätte ausreden können. Was soll ich noch dazu sagen?“
„Ich versteh es nicht.“
„Musst du auch nicht. Du musst gar nichts. Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen. Für die Lüge, nicht dafür, wer ich bin und was ich getan habe.“
Er wendet sich zum Gehen.
„Warte. Ich … ich nehme die Entschuldigung ja an. Und ich frage nicht weiter nach … vorerst.“
„Gut.“
„Und jetzt? Gehst du jetzt wieder zurück auf deine Party?“
„Nur wenn du mich rauswirfst“, schnurrt er und legt seine Arme um mich.
„Ich glaube, du musst dir jetzt erst mal mein Schlafzimmer anschauen.“
Als wir ein paar Stunden später schläfrig werden, frage ich ihn:
„Bist du morgen da, wenn ich aufwache?“
„Soll ich?“
„Ich würde mich freuen …“
„Eigentlich wollte ich ja eine Tour fahren. Das Wetter soll nämlich bald wieder schlechter werden …“
„Und wenn ich dir was Besseres biete als den Geschwindigkeitsrausch? Ich hinterlasse auch ganz sicher keine Narben. Höchstens ein paar Knutschflecken …“
„Mal sehen, das entscheid ich spontan, okay?“
Ich glaube, mehr drängen sollte ich ihn nicht. Deshalb nicke ich nur und kuschle mich ganz nah an ihn.
„Ich mag deine neue Frisur“, hauche ich ihm ins Ohr und schlafe bald darauf ein.
Als ich die Augen wieder öffne, scheint die Sonne und der Wecker zeigt kurz nach zehn. Oh Mist, Arianna steht bestimmt jeden Moment auf der Matte.
„Fabio?“
Ich taste hinter mich, doch die andere Betthälfte ist leer.
„Maaaann“, stöhne ich und schwinge mich auf die Beine, um mich vorzeigbar zu machen und zu sehen, ob Fabio vielleicht im Bad oder der Küche ist. Fehlanzeige.
Ich springe also kurz unter die Dusche, ziehe mich an und decke den Tisch. Schon klingelt es und meine beiden Lieblingsfrauen stehen mit frischen Brötchen von der Tankstelle vor der Tür.
Am Esstisch ertappe ich mich dabei, ständig zu grinsen. Arianna scheint allerding nichts zu bemerken. Wann ich Fabio wohl wiedersehe?
Ich kann mich nicht entscheiden, welchen Brotaufstrich ich als nächstes versuche. Die Kleine zerfetzt den Sportteil der Wochenendzeitung.
„Was für ein Datum haben wir eigentlich heute?“, will ich wissen.
„Den 21., warum?“
„Ich hab immer noch nichts von den Firmen gehört, bei denen ich mich beworben habe …“
„Das dauert halt. Weißt du …“ Der Nachbarspfau brüllt auf. „Maaaaaann, das nervt!“, zischt Arianna. „Wozu hält man sich eigentlich solche Viecher? Kann man die Eier von denen überhaupt essen?“
„Keine Ahnung“, zucke ich die Schultern und entscheide mich für den rosafarbenen Rote-Bete-Meerrettich-Aufstrich.
„Typisch“, grinst sie. „Falls du es heute übrigens noch schaffst, dich zu rasieren, nehmen wir dich mit auf einen kleinen Sonntagsspaziergang. Dann können wir Valentinas Geburtstagsparty nächste Woche planen. Oder hast du schon was vor?“
„Nö. Höchstens …“
*****
Ich werde von der Türklingel unterbrochen.
Arianna schaut mich fragend an:
„Wer kann das denn sein?“
Ich hab da so eine Vermutung und beeile mich, zur Tür zu kommen. Erst mal sehe ich nur eine Tüte mit dem Tankstellenlogo drauf, die mir vor’s Gesicht gehalten wird.
„Hunger?“
Ich bin schrecklich froh, diese braunen Augen zu sehen, und dieses seltene Lächeln.
„Küssen!“
Ich ziehe ihn an mich und bin plötzlich so glücklich, dass ich platzen könnte.
„Eigentlich sind die Brötchen zum Essen da, nicht ich.“
„Scherzkeks. Komm, wir brunchen gerade.“
„Wir?“
„Arianna, ihr Tochter und ich. Mach dich auf was gefasst. Du giltst nämlich als Ruhestörer.“
Arianna ist zwar erst mal überrascht und wirft mir einen Blick zu, der aussagt: „Warum hast du mir das nicht erzählt?“, aber die beiden verstehen sich gleich gut. Fabio begleitet uns sogar noch auf unserem Spaziergang und beteiligt sich überraschend interessiert an den Kindergeburtstagspartyvorbereitungen.
„Morgen fahr ich in die Stadt, Geschenk aussuchen“, erwähne ich.
„Hey, eine Freundin meiner Mutter arbeitet im Spielzeugladen. Wenn ich mitkomme, kriegst du bestimmt Prozente.“
„Cool. Ich dachte mir, ich fahre mit dem Zug um Zwanzig nach Neun. Oder ist dir das zu früh?“
„Zug?!“
„Ich hab kein Auto, also …“
„Dann fahren wir halt mit meiner Maschine.“
„Da kriegen mich keine zehn Pferde drauf“, schüttele ich entschlossen den Kopf.
„Komm schon, ich hab auch einen Extrahelm und fahre ganz vorsichtig.“
„Maximal 100 und es wird nicht überholt!“, verlangt Arianna. „Fehlt mir gerade noch, dass mein Ersatz-Ehemann ausfällt.“
„Ich bring ihn dir heil zurück“, verspricht Fabio.
„Maximal 100 und es wird nicht überholt“, wiederholt sie noch einmal. „Versprochen?“
„Versprochen“, rollt er die Augen.
Sie nickt zufrieden.
„Und mich fragt keiner, oder wie?“, maule ich.
„Mit dir auf der Maschine würde ich nie ein Risiko eingehen“, erklärt Fabio.
„Ach, aber wenn du allein bist schon, oder wie?“
„Ich hab mein Motorrad i…“
„… im Griff, das hast du schon mal gesagt, ja. Aber du bist halt nicht allein auf der Straße. Wenn irgendwer dich übersieht, weil du zu schnell bist und du dann …“
„Ja, oder wenn ich über die Straße gehe und vom Bus überfahren werde …“
„Ach komm, das ist was anderes. Kannst du nicht einfach versprechen, dass du immer so fährst, als säße ich hinten drauf? Ich hab nämlich keinen Bock, dich zu verlieren, gerade jetzt, wo ich dabei bin, mich in dich zu verlieben …“
Er kriegt ein bisschen rote Wangen, lächelt und gibt mir einen Kuss.
Am nächsten Tag fahren wir auf der Bundesstraße ungefähr eine Viertelstunde hinter einem Traktor her, bis ich Fabio mit einem Klopfer auf die Schulter die Erlaubnis gebe, ausnahmsweise doch zu überholen. Ich fühl mich tatsächlich recht sicher und finde es außerdem ziemlich toll, die ganze Zeit über einen Grund zu haben, mich an ihm festzuhalten.
In der Spielhandlung rät uns „Gabi“, sündteure Holzbuchstaben für die Kinderzimmertür zu kaufen, davon habe Valentina schließlich noch lange was. Fabio findet die Idee allerdings langweilig und sucht stattdessen ein Hämmerspiel und Babytaugliche Percussion aus.
„Babys mögen Lärm“, fachsimpelt er, und er muss es wissen, mit vier jüngeren Geschwistern.
„Bei Eltern macht man sich mit solchen Geschenken allerdings nicht sehr beliebt“, warnt uns Gabi, aber das Risiko gehen wir ein.
„Wollen wir noch in eine Buchhandlung?“, schlage ich vor.
„Oder wir gehen in diesen kleinen Park, den wir in den Mittagspausen früher immer verwüstet haben.“
„Und was machen wir da? Es regnet bestimmt gleich …“
„Komm schon, Jakob. Ich will da mit dir hin und knutschen.“
„Das haben wir uns früher nicht getraut“, erinnere ich mich.
„Eben, das muss nachgeholt werden.“
Dazu lass ich mich gern breitschlagen.
*****
„Die Bank stinkt“, bemerke ich.
„Das vergisst du gleich“, verspricht er und küsst mich, dass ich fast keine Luft mehr bekomme.
„Ach, du wieder!“ Wir springen auf. Hinter der Bank liegt ein Obdachloser auf ein paar Pappkartons: „Das Zurückspulen scheint ja geklappt zu haben.“
„Äh, kennt ihr euch?“, will Fabio wissen.
„Ich bin sein Arzt“, erklärt der alte Mann mit dem schmutzigen Bart, steht ächzend auf und streckt sich erst mal.
Fabio schaut mich fragend an, ich schüttle nur den Kopf und deute an, dass wir besser gehen sollten.
„Äh ja, dann noch einen schönen Tag“, wünscht er dem Mann.
„Der Krieg verändert einen.“
Jetzt frieren Fabios Gesichtszüge ein:
„Was?“
„Der Krieg, mein Junge. Ich weiß wie das ist. Und ich hab genau das, was du brauchst.“
Er verschwindet für ein paar Sekunden hinter einem Busch und kommt mit einem Flachmann zurück, den er Fabio entgegenhält.
„Nein danke, ich muss noch fahren“, lehnt dieser freundlich ab.
Der Mann lacht auf: „Ja, das musst du. Und es wird dir nichts passieren. Dafür hat dein Freund gesorgt.“
Langsam wird mir der Alte unheimlich, deshalb nehme ich Fabios Hand und verabschiede mich so höflich wie möglich.
„Was war DAS denn?“, frage ich, als wir außer Hörweite sind.
„Keine Ahnung, aber irgendwie tut mir der Alte leid. Wer weiß, was dem passiert ist …“
„Ja … aber wenn es dir mal schlecht geht, dann hoffe ich, du greifst nicht zum Flachmann, sondern zum Telefon und rufst mich an.“
„Und ich hoffe, wir kommen noch vor dem Regen heim, sonst werden wir nass.“
„Fahr trotzdem nicht zu schnell, versprochen?“
„Versprochen“, lächelt er.