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Rettich und die Qualität der Dinge
„Sachen? Wat für Sachen?“ Fichte sah seinen Freund mit halb geschlossenen Augen an. Rettich deutete achselzuckend auf die abgebrannten Streichhölzer im Aschenbecher.
„Zum Beispiel.“
„Häh?“
„Taugen auch nix mehr.“
„Streichhölzer? Wieso?“ Fichte nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas und rülpste so laut, dass die junge Frau am Nachbartisch angewidert die Augen verdrehte. Ihr Begleiter hob die Augenbrauen.
„Du Sau“, sagte Rettich. Beide brachen in lautes Gelächter aus.
„Also, wat is jetz mit den Streichhölzern?“
„Die brennen einfach nich mehr so gut wie früher. Is Dir dat noch nich aufgefallen? Und die ganzen andern Sachen. Fritten, Fernsehprogramm, Klamotten, Musik – die ganze Scheiße.“
„Wie biss Du denn drauf?“ Fichte glaubte, in Rettichs Stimme diesen gewissen Unterton, den er nur zu gut kannte, herauszuhören. Wäre er nüchtern gewesen, hätte er vorgeschlagen zu zahlen und weiter zu ziehen. Doch nach fünf Gläsern Bier und ebenso vielen Schnäpsen war es ihm herzlich egal, wie sich der Abend noch entwickelte.
„Ich bin überhaupt nich drauf. Ich seh bloß, wat los is; alles Kacke, Alter. Mach ma dat Radio an: hörsse nur noch diese scheiß Xavier Naidoo Kacke. Oder hippi hoppi Rapscheiße. Geh mir wech!“ Rettich gab der Bedienung ein Zeichen und leerte sein halbvolles Glas in einem Zug. Dann rülpste er seinerseits, laut und druckvoll.
„Ist ja ekelhaft!“ sagte die junge Frau. „Penner“, fügte ihr Freund hinzu und setzte sich aufrecht hin.
Fichte sah hinauf zur Kirchturmuhr. Ein lauwarmer Wind war aufgekommen, und vom Restaurant auf der anderen Straßenseite wehten Essensdüfte herüber. Am Himmel waren die ersten Sterne zu sehen. Rettich stand schwankend auf. „Ich muss pissen.“
Am Nebentisch blieb er stehen und beugte sich zu dem jungen Mann hinab. „Dat mit dem Penner hab ich gehört.“
„Und jetzt? Mann, hau ab, du stinkst aus’m Hals wie ne Kuh aus’m Arsch.“
Rettich musterte den Kerl erstaunt, taxierte den Umfang seiner Oberarme und richtete sich auf. „Nix – ich wolltet nur ma gesacht ham.“ Nach einem kurzen Blick hinüber zu Fichte setzte er seinen Weg fort und verschwand in der Kneipe.
Die Minuten verstrichen. Die Bedienung erschien und setzte zwei Gläser Pils vor Fichte ab. Das Paar am Nebentisch verlangte die Rechnung und ging. Fichte sah ihnen nach, bis sie in einer Seitengasse an der Kirche verschwunden waren.
„Aha“, sagte Rettich, als er den leeren Tisch sah, „genau dat hab ich gemeint. Alles nich mehr so wie früher. Haut einfach ab, der feige Sack.“
„Wat soll’s, gehsse heute ma ohne Beulen ins Bett. Is doch auch schön.“
„Du Aasch.“
Gegen Mitternacht begann es zu regnen. Ein leichter, warmer Sommerregen, der Rettichs weißen Irokesen in einen zerfledderten Backpinsel verwandelte.
Sie zahlten und machten sich auf den Heimweg.
„Riecht irgendwie nach toten Regenwürmern“, sagte Fichte.
„Jupp. Kuck ma.“
„Wat?“
Rettich überquerte das glänzende Kopfsteinpflaster und blieb vor einem alten Mercedes-Benz stehen. Er berührte den Stern mit zwei Fingern und rüttelte daran.
„Siehsse? Geht nich ab. Qualität.“
In diesem Moment erschien wie aus dem Nichts eine Gestalt in der Tür des Gebäudes, vor dem der Wagen geparkt war. Bevor Fichte ihn warnen konnte, erhielt Rettich eine gewaltige Ohrfeige, die ihn zu Boden warf.
„Haut bloß ab, oder ich ruf die Bullen.“ Der Besitzer des Wagens, ein kleiner, untersetzter Mann, deutete mit dem Finger auf Fichte. „Los, hilf deinem Kumpel hoch, und dann Abmarsch!“
Die Wolken waren verschwunden. Die Freunde saßen auf einer Bank am Bahnhof, und starrten mit zurückgelegten Köpfen in den Sternenhimmel. Irgendwo stand ein Fenster auf und Musik ertönte.
„Kacke … Xavier Naidoo … “ murmelte Rettich, dessen rechte Wange angeschwollen war. „Dat hab ich nich verdient.“ Er steckte sich eine Zigarette in den Mund. „Feuer?“
Fichte durchsuchte seine Taschen und förderte schließlich ein Streichholzpäckchen zutage.
„Scheiße. Is nur noch eins drin.“