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Rettich und die große Packung

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29.03.2013
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Rettich und die große Packung

„Dat war überhaupt nix“, sagte Rettich, nachdem sein Vater die Tür hinter sich zugeknallt hatte. „Früher, da war der Alte richtich laut, ach du Scheiße. Dat war garnix grade – laues Lüftchen.“
„Is der wirklich ma Marktschreier gewesen?“ Fichte entspannte sich, zündete sich eine Zigarette an und öffnete eine neue Dose.
„Jupp. Hat den alten Ommas die Perücken vom Kopp gebrüllt und sie mit vergammelten Bananen und Salamis beschmissen.“ Rettich steckte das Kabel der Anlage wieder in die Steckdose und drehte den Lautstärkeregler herunter, was den Detroit Pigfuckers zwar einiges von ihrer Durchschlagskraft nahm, aber einen erneuten Auftritt seines Vaters verhindern würde. „Irgendwann isser heiser geworden und konnte nich mehr rumschreien. Vorbei mit der Rumfahrerei. Jeden Tach zuhause. Grau – en – haft, kannsse dir ja denken.“
„Scheiße.“
„Kannsse laut sagen.“
Schweigend lauschten sie der Musik, doch die Botschaft der Pigfuckers verpuffte wirkungslos, da sie eine weitaus höhere Dezibelstärke benötigte, um ihre Fans zu erreichen.
„Kacke!“ stieß Rettich hervor. „Ich muss raus, ich werd noch bekloppt hier.“
„Bei Schwede is Fete, glaub ich“, schlug Fichte vor.
„Na gut – besser als hier rumzuhängen.“

Es hatte angefangen zu schneien. Als sie den Marktplatz erreichten, gingen die Straßenlampen an. Die Kälte, die seit einigen Tagen herrschte, verhinderte, dass die Schneeflocken auf Rettichs weißem Iro schmolzen. Fichte verkniff sich, darauf hinzuweisen, dass ihn der Kopfschmuck seines Freundes entfernt an das Krönchen einer Prinzessin erinnerte. Zu groß war die Gefahr, dass sich dessen ohnehin schlechte Laune verschlimmerte. Nachdem Moni ihn vor zwei Wochen verlassen hatte, glich Rettich mehr denn je einer Zeitbombe, die jederzeit hochgehen konnte.

„Ich glaub’s ja nich!“
Kevin Pankow, genannt Schwede, öffnete die Tür. „Rettich und Fichte! Kommt rein, ihr Säcke. Long time no see.“
„Häh?“
„Aber Füße abtreten.“
„Sons noch wat? Na gut. Is ja so ruhich hier“, bemerkte Rettich und schnüffelte. „Wat riecht hier so?“
„Ich hab mir grade ne Huka angesteckt“, erwiderte Schwede und ging voraus.
„Scheiß Kifferei. Hasse auch wat Vernünftiges?“
„Hinterm Sofa is noch’n halber Kasten.“
„Is ja noch keiner da“, sagte Fichte, „kommen die noch?“
„Wer soll noch kommen?“
„Ich hab gehört, hier wär Fete heute.“
„Fete war gestern“, sagte Schwede und ließ sich in einen Sitzsack fallen. Aus dem tönernen Kopf der Wasserpfeife auf dem niedrigen Tisch stiegen Rauchfäden. Rettich beobachtete die bräunliche, blubbernde Flüssigkeit, als Schwede seine Huka neu befeuerte.
„Ich hab ma gehört, man soll die Brühe wenigstens einma im Jahr auswechseln, Alter.“
„Sehr witzig. Dat is kein Wasser, du Idi. Dat is Portwein“, erwiderte Schwede mit angehaltenem Atem. „Kannsse ruhich ma probiern. Kommt einwandfrei.“
„Biss du bescheuert? Ich rauch doch kein Portwein.“
„Wat is mit Dir?“
Fichte starrte auf den Schlauch, den Schwede ihm hinhielt, sah Rettich kurz an und spitzte den Mund. „Wat solls – her damit.“ Er nahm einen tiefen Zug und behielt den Rauch für einige Sekunden drin. Für einen Moment war es still. Das Ticken der Uhr über der Tür war das einzige Geräusch, abgesehen vom Summen des vorsintflutlichen Kühlschranks. Dann schien Fichtes Lunge zu explodieren und ein Hustenanfall, dessen Heftigkeit ein Grinsen auf die Gesichter seiner Freunde zauberte, schüttelte ihn so heftig, dass er um ein Haar vom Sofa gerutscht wäre.
„Meine Fresse! Nich übel. Aber nix für Weicheier“, lautete sein Kommentar. Tränen in seinen Augenwinkeln und ein gequälter Gesichtsausdruck sprachen zwar eine andere Sprache, doch Rettich, der sich nun keine Blöße geben wollte, griff nach dem Mundstück, das Fichte immer noch krampfhaft umklammerte hielt. Schwede hielt sein Feuerzeug bereit. Es klingelte an der Tür.
„Kacke!“
Schwede erhob sich mühsam von seinem Sack und schlurfte in den Flur. Sie hörten leises Gemurmel und unterdrücktes Kichern, dann wurde die Wohnungstür wieder geschlossen. Als Schwede im Türrahmen erschien, hielt er eine kleine Plastiktüte hoch.
„Vitamine“, sagte er.
„Er nahm Darmol und fühlt sich wohl“, kicherte Fichte.
„Wat für Vitamine?“ wollte Rettich wissen.
„Gute“, lautete Schwedes geheimnisvolle Antwort. „Genau dat richtige für Dich, Rettich.“
„Besser als dat Scheißdope, hoffich.“
„Kannsse von ausgehn.“ Schwede fischte eine winzige rosa Pille aus der Tüte und legte sie auf den Tisch. „ Moment, ich hol ma eben ein Messer.“
Während ihr Gastgeber sich an der Spüle zu schaffen machte, beäugte Rettich das ovale Ding, und ehe Fichte, dessen Gesicht einen leicht blödsinnigen Ausdruck angenommen hatte, es verhindern konnte, steckte er es sich in den Mund.
„So“, sagte Schwede, „Messer is sauber. Wo is die Pille?“
Fichte lehnte sich grinsend zurück. „Er nahm Darmol…“
„Hör auf mit dem Scheiß! Die Dinger muss man teilen.“
„Getz bleib ma ruhich, Alter“, sagte Rettich. „Ich kann dat ab. Prost!“ Er hielt Schwede die Bierflasche hin.

Zwei Stunden später überraschte Rettich seine Freunde (und auch sich selbst) aus heiterem Himmel mit einer lapidar hingeworfenen Bemerkung.
„Ihr beide solltet unbedingt einen Paradigmenwechsel in eurem Wertekanon in Erwägung ziehen.“
„Getz gleich, oder hat dat noch Zeit? “, fragte Fichte, den die Schwerkraft so tief in Schwedes Sofa gedrückt hatte, das er außerstande war, auch nur einen Finger zu rühren. Er beobachtete fasziniert Rettichs linkes Bein, das seit einiger Zeit rhythmisch auf und nieder wippte wie das eines hypernervösen Schlagzeugers. Schwede, der vergeblich versuchte, den Sinn dessen, was Rettich soeben gesagt hatte, zu begreifen, schloss die Augen und murmelte: „Spülen is gut, Abtrocknen is scheiße.“
„Meine Rede. So mancher übertreibt schon, wenn er ich sagt“, pflichtete ihm Rettich bei.
Die Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte. Schließlich erhob sich Rettich, streckte die Arme zur Decke und sagte: „So!“
„Bisse unruhich?“ fragte Fichte. Schwede öffnete die Augen.
„Mir is langweilich, Leute. Außerdem muss ich mir ma die Beine vertreten. Kommt einer mit?“
„Ich nich. Macht’s gut, ihr Säcke. Bis dann.“

„Guck Dir ma die Wichser an. Die brauchen was aufs Maul.“
„Hör auf! Die hörn Dich noch“, flüsterte Fichte.
In der Nähe der Imbissbude am Bahnhof lungerten einige Halbwüchsige herum. Springerstiefel, weiße Schnürsenkel und rasierte Schädel sprachen eine eindeutige Sprache.
„Kackbraun is die Haselnuss“, sagte Rettich, dessen Selbstbewusstsein durch Schwedes Vitaminpille einen unerhörten Wachstumsschub erhalten hatte. Er schüttelte Fichtes Hand ab und ging entschlossen auf die Gruppe zu.
Die Auseinandersetzung dauerte nur wenige Sekunden. Der Frau aus der Imbissbude war es zu verdanken, dass Rettichs Verletzungen sich in Grenzen hielten. Sie brüllte, kaum, dass sie mitbekam, was da passierte, die Worte Arschlöcher und Polizei, und die Kahlrasierten suchten das Weite. Fichte überquerte den Platz und beugte sich über seinen Freund.
„Mann-mann-mann – hab ich’s Dir nich gesacht? Kannsse aufstehn?“
„Gib mir lieber ne Kippe“, zischte Rettich, verzog sein blutiges Gesicht und spuckte einen Zahn aus.
„Hier. Scheiße, wat für ne Packung! Ich kanns nich glauben!“
„Soll ich die Sanis anrufen?“ rief die Imbissfrau.
„Nee danke, is nich nötich.“
Die Wolken rissen auf und im Licht des Vollmonds sah Fichte, dass sein Freund lächelte.

 

Hi,

also deine Geschichte spielt ja in einer Welt die ich jetzt so gar nicht kenne. Von der Art wie die Protagonisten reden tippe ich mal das die Geschichte in Berlin spielt oder zumindest könnte.

Gut geschrieben ist sie. Es gibt kaum, eher keine Wortwiederholungen, was dem Lesefluss zu gute kommt. Ausserdem sind deine Sätze sehr abwechslungsreich gestaltet. Lange kurze etc. wechseln sich gut ab.
Jeder Protagonist bekommt für seine Wörtliche Rede eine eigene Zeile, was ich als sehr wichtig erachte. Es ist dadurch möglich der Geschichte folgen zu können und man verliert den Überblick über die Charaktere nicht.

Das Ende verstand ich erst nicht. Ich konnte es nicht in Zusammenhang bringen zum Rest der Geschichte. Aber beim zweiten mal lesen versteh ich das Ende so das Rettich durch die Einnnahme der Pille bei Schwede schmerzunempfindlich geworden ist und ihm alles total egal ist. Er wird von den Nazis verprügelt aber er merkt die Schmerzen und das Ausmas seines Tuns nicht. Kennt man ja von z.B.von dem Medikament Tilidin.

Wie auch immer ich fand deine Geschichte Interessant, wenn auch nicht ganz meine Welt.

Mfg

Cozmo

 

Hallo Cozmo,
Schön, dass Dir die kleine Story gefallen hat. Was den Slang angeht, liegst Du ein bisschen daneben. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass der Eine oder Andere in Berlin so oder ähnlich redet, aber eigentlich hab ich das Ganze irgendwo in Westfalen angesiedelt. Ist ja im Grunde kein Dialekt, sondern eher so ein abgeschliffener Slang. Dein Lob meinen Schreibstil betreffend nehme ich dankend entgegen, so was hört man immer gerne.
Ja, das Ende. Wie in den beiden anderen Geschichten um Rettich und Fichte bekommt auch hier Rettich am Schluß was auf die Glocke, weil er sich durch pure Dämlichkeit in Situationen manövriert, die eigentlich nicht anders enden können. Ursachen seiner Kamikaze-Aktion sind einerseits die besagte Pille sowie die Wut darüber, dass ihn seine Freundin verlassen hat. Ihm ist alles egal, was Du sehr richtig erkannt hast.
Danke Dir für deinen Kommentar, und schreib mal selber was. Nur Mut.
Schöne Grüße
Harry

 

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