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- 01.09.2005
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Retro-Russen
In Vitalis Zimmer stehen ein Bett und ein Nachttisch, sagte Eugen. Auf dem Tisch läge eine Bibel. Er nippte an seinem Bier. Ich sah Enten nach, die sich die Weser hinabtreiben ließen.
Die Flaschen im Rucksack klimperten, als ich mir eine dritte nahm. Ich hielt Eugen eine hin. Er schüttelte den Kopf. Er trank jetzt viel weniger.
„Bei welchem Siebzehnjährigen sieht denn das Zimmer so aus?“
Zur Antwort zuckte ich die Schultern, machte das Bier auf und dachte an unsere Zimmer von früher. In meinem lagen überall alte Skateboards, durchgebrochen und gesplittert. Alle bewahrten ihre Boards auf, um sie eines Tages an die Wand zu hängen wie Hirschgeweihe. Kaum einer machte es wirklich. Ich auch nicht. Stattdessen war ich irgendwann im ersten Semester übers Wochenende nach Hause gekommen und mein Vater hatte sie alle verbrannt, zusammen mit dem Grünschnitt. In NRW durfte man da schon kein Feuer mehr machen. Es hatte Ärger gegeben. Verwarnung, Bußgeld. Oder Ordnungsgeld. Egal, meine Boards waren weg.
Bei Eugen glänzten die Wände und die Möbel weiß, als wäre es ein Penthouse in New York City und nicht das Einfamilienhaus in der Luisenstraße, für das seine Eltern geschuftet hatten wie im Gulag, bei Bolte Systemtechnik an der Stanze. Und in der Verpackung.
Eugen hatte ein einziges Poster an der Wand. Wenn wir Play Station spielten oder Filme sahen und kifften, sah uns ein riesiger Tupac Shakur dabei zu, im Unterhemd, eine dicke Goldkette um den Hals, mit Tätowierungen, die auf der schwarzen Haut kaum zu erkennen waren. Wir hatten oft darüber geredet, ob es rassistisch sei, das mit den Tätowierungen anzumerken.
Einmal war Eugen raus zum Pinkeln, gerade als das Gras begann, mich paranoid zu machen. Ich hatte Angst, den Riesen-Tupac anzusehen, aber ich spürte, dass er mich ansah. Ich lief aus dem Haus, schnappte mein Fahrrad und fuhr nach Hause, die Hauptstraße entlang, die einsamen Feldwege meidend. Hinter mir hörte ich stampfende, schneller werdende Schritte, und statt „Fi Fei Fo Fam“ drohte eine Stimme so tief wie die Minen von Moria „Niggaz gotta watch they backs coz it's do or die“. Am nächsten Tag erzählte ich Eugen, mir sei schlecht geworden und ich sei so plötzlich gefahren, weil ich ihm nicht ins Zimmer hatte kotzen wollen.
Ich wohnte jetzt in der Innenstadt. Meine Eltern trockneten die Wäsche in meinem Kinderzimmer.
„In dem Alter hast du Phasen“, sagte ich. „Death Metal, Antifa, Haare grün. Und das ist dann eben seine. Er hätte auch Crystal Meth für sich entdecken können.“
„Ach.“ Eugen, machte eine ungeduldige Geste. „Das haben meine Eltern auch erst gesagt. Wenigstens nimmt er keine Drogen.“ Er ahmte den heftigen Akzent nach, mit dem er selbst schon längst nicht mehr sprach, rollte das ,r' in Drogen wie ein kirgisischer Mädchenhändler im Tatort.
„Stimmt doch“, sagte ich.
Eugen schüttelte den Kopf, heftiger als zuvor. „Das ist nicht lustig“, sagte er. „Ich weiß noch, wie es gerade angefangen hat. Ich war für Muttis Geburtstag zu Hause. Ich frage, wo Vitali ist, und mein Vater sagt, der sitzt mit seinen Freunden in der Küche, aber stör die jetzt nicht, die lesen aus der Bibel. Ich hab erst gedacht, das wäre ein Witz. Und dann sitzen die da in der Küche mit der scheiß Bibel! Nochmal ein paar Monate später sehe ich mein altes Zimmer und ich fühle mich wie im Kloster. Oder im Knast. Nur größer. Aber genau so leer.“
Eugen wusste, wovon er sprach. Mit seiner Mechatroniker-Ausbildung hatte er die Kurve gekriegt, aber davor hatte er in Hameln gesessen, ein ganzes langes Jahr.
„Mir wär es doch egal“, sagte er. „Wenn ihn das glücklich macht, bitte. Aber gib das mal bei Google ein, Mennoniten. Die sind wie 'ne Sekte. Bei Wikipedia steht, die sind so ähnlich wie die in Amerika. Die wie früher leben und Kutsche fahren und sowas.“
„Amisch.“
„Auf jeden Fall extrem irgendwie.“
Er wiederholte das mit dem Bett und dem Stuhl. „Das kann es doch nicht sein, in dem Alter.“
Enten. Drei große, keine Küken. Wir sahen ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren.
„Und meine Eltern sagen nichts“, sagte Eugen. „Wegen mir bestimmt. Wegen dem Saufen. Und dem Kiffen. Und den Schlägereien. Dass es klingelt und mein Vater macht im Unterhemd die Tür auf und dann steht da die Polizei. Als Vitali so vierzehn wurde haben sie bestimmt gedacht, die ganze Scheiße jetzt von vorne. Und dann waren sie froh, weil er sich in der Gemeinde engagiert und die Bibel liest. Schräg irgendwie, aber schön, weil deswegen keine Bullen kommen. Mit zwölf hat er noch meine alten Hip-Hop-Sachen gehört. Er hört jetzt gar keine Musik. Nur in der Kirche.“
Ich spürte, dass Eugen von mir eine Lösung des Problems erwartete. Er dachte, ich hätte sowas drauf, weil ich nach dem zweiten noch ein drittes Semester studiert und erst dann abgebrochen hatte. Aber ich war Einzelkind und von den Mennoniten wusste ich nur, dass die Frauen Röcke trugen und Strumpfhosen, lange Zöpfe und Kopftücher. Ihr Tempel war ein vierstöckiges Bürohaus neben dem E-Center. Unten war alles neu gemacht, oben waren die Fenster kaputt. Die Firma hatte irgendwelche Folien hergestellt und jetzt war sie pleite. Wahrscheinlich war das Internet schuld, war es ja immer eigentlich. Über dem Eingang stand Bethaus.
Ich griff in den Rucksack. Es war nur noch ein Bier übrig.
„Wollen wir uns das noch teilen?“, fragte ich.
Eugen schüttelte den Kopf. „Ich muss zurück zu meinen Eltern. Morgen kommt die Verwandtschaft. Wenn ich jetzt extra dafür herkomme und dann verpenne ich alles, gibt's Ärger.“
Am nächsten Tag klingelte das Telefon, spät am Abend. Ich hatte es auf ein Handtuch neben die Badewanne gelegt. Das Wasser war zu heiß. Der Puls pochte in meinem Ohr. Die Zunge fühlte sich schwer an. Ich wollte nicht reden. Eugen war dran.
„Bist du noch besoffen?“, fragte er. „Du klingst komisch.“
Ich entgegnete, ich sei gejoggt und liege nun in der Badewanne. „Wie war's mit der Verwandtschaft?“, fragte ich.
„Hölle. Ich hab mich mit Vitali geschlagen.“
„Was?“
„Eigentlich habe ich ihn geschlagen. Er hat nicht zurückschlagen, bestimmt wegen der anderen Wange und dem Mist. Ich glaube, ich kann nie wieder zu meinen Eltern. Hast du noch kurz Zeit und Bock?“
„Klar.“ Ich hatte zu lange gezögert, als dass es ehrlich hätte klingen können.
„Cool“, sagte Eugen. „Ich bin letzte Ausfahrt Brooklyn.“
Der Burger-King-Parkplatz also, benannt nach einer Romanverfilmung, die wir nie gesehen hatten. Mein Englischlehrer hatte die Klasse damit belästigt, und ich hatte blau gemacht, als er ihn zeigte. Stattdessen hatte ich mit Eugen bei ihm zu Hause Gras geraucht, während seine Eltern sich an der Stanze und in der Verpackung quälten. Eugen war vor Lachen Speichel über das Kinn gelaufen, als ich ihm davon erzählte, und er meinte, das sei ein Film über den Burger-King-Parkplatz, der sei die letzte Ausfahrt Brooklyn, wegen der Leute, die da immer rumhängen. Ich fand das gar nicht so lustig, aber der Name blieb trotzdem hängen.
Eugen lehnte neben der offenen Fahrertür. Er fuhr jetzt einen Audi, dunkel und seriös und weitgehend im Werkzustand, die Reifen nur ein bisschen breiter, das Fahrgestell nur einen Tucken tiefer. Sein Radio war laut, aber kein Vergleich zu denen der jungen Russen auf dem Parkplatz. Einige von ihnen waren noch nicht geboren, als Tupac erschossen wurde, aber sie hörten ihn trotzdem. Sie hörten Tupac. Wie nostalgisch, retro und auch ein bisschen furchteinflößend, Tupacs und meine gemeinsame Vergangenheit bedenkend.
Bei Eugen liefen die Nachrichten. Er kühlte seine Knöchel an einem Sundae-Eisbecher. Auf dem Boden vor ihm lag eine Schachtel mit einem angebissenen Burger darin.
Das Laufen und das Bad hatten mich ausgebrannt. Mein Metabolismus schrie nach Stoff zum Verfeuern. Einen Moment lang glotzten wir beide den Burger an, Wut in Eugens Augen, Sehnsucht in meinen.
„Onkel Michail ist schuld“, sagte er.
Mir war schlecht vor Hunger, aber es schien mir unhöflich, ihn jetzt noch um Geduld zu bitten, während ich schnell nochmal reinlief, um mir etwas zu essen zu holen.
Der Ablauf der Feier, wie Eugen ihn mir berichtete: Michail wollte trinken. Mit Eugen, mit dessen Vater, mit der Mutter, mit allen. Und alle tranken. Wodka aus der Heimat. Auch Eugen trank, einen kleinen im Schnapsglas, so wie er in Deutschland getrunken wurde. Er musste ja noch fahren. Michail akzeptierte das, angeblich.
Der Onkel wurde komisch, obwohl sonst alle mittranken. Immerhin stand da dieser Sohn des Bruders und seine Sorgen galten dem Führerschein, den sie Michail selbst längst abgenommen hatten. Und obendrein wurde ihm dann bewusst, dass das gar nicht stimmte, dass sonst alle mittranken. Da war Vitali, der Gott gefunden hatte, aber keinem so richtig sagte, wo man suchen musste.
Michail schenkte seinem Neffen ein und der lächelte. Er zwinkerte Vitali zu. Da könne kein Gott ernsthaft dagegen sein, ein paar Gläser mit der Familie, richtige Gläser. Was für ein Swinja-Gott wäre das? „Michail!“, schimpfte Eugens Vater. „Ja, ja, ja, alles gut“, sagte der Onkel.
Am Tisch in der verrauchten Küche sitzend kippte Michail den Wodka, der für Vitali gedacht war, selbst hinunter. Die Gespräche wurden leiser. Nach und nach verließen die Gäste die Küche, nahmen im Wohnzimmer Platz oder gingen in den Garten. In der Küche wurde geschwiegen und getrunken, bis nur noch Eugen und Vitali, ihr Vater und Michail übrig waren. Und eigentlich trank nur noch Michail. Eugens Mutter schaute kurz rein und fragte, ob alles in Ordnung sei. Alles gut, sagte ihr Mann.
Als er den Führerschein abgeben musste, hatte Michail dem Chef noch angeboten, eben nur in der Firma zu arbeiten. Etwas sei doch immer zu tun, auch ohne die Fahrerei. Die Lkw müssen gewaschen, Schrauben und Muttern überprüft und nachgezogen werden. Der Chef hatte das Angebot ausgeschlagen.
Michail begann zu weinen, wie immer, wenn er getrunken hatte. Dann sagte er, dass Gott nunmal ein Arschloch sei, sonst hätte er die Tschetschenen wohl nicht erschaffen.
Vitali sagte: „Gott hat dich nicht als Trinker erschaffen.“
"Vitali!", schrie Eugens Vater. „Es reicht jetzt, beide, meine Güte!“
Michail grinste schief. Dann sprang er auf und schleuderte den Hocker durch die Küche, auf dem er gesessen hatte. Der Hocker traf den Vater in den Bauch. Er sank auf die Knie und schnappte nach Luft.
Eugen stürzte sich auf Michail. Zu spät, um zu verhindern, dass der Onkel Vitali die Faust gegen die Brust rammte. Vitali stand einfach da und wartete auf den Schmerz, fast wie Jesus.
Eugen griff Michail mit links an dessen Hemdkragen und schlug ihm mit der rechten Faust viermal ins Gesicht. Michail blutete aus der Nase und von den Lippen und weinte. Zu Eugens Vater sagte er, er könne stolz auf seinen Sohn sein, weil der alte Männer verprügelt, denen das Leben sowieso schon alles genommen hat. Er schmierte den ganzen Kühlschrank mit seinem Blut voll, weil er sich noch eine Flasche Wodka rausnahm.
Eugen fluchte, trat gegen die Schranktür unter der Spüle und wollte dem Onkel hinterher ins Wohnzimmer. Vitali legte ihm die Hand auf die Schulter.
Eugen fuhr herum. „Alles in Ordnung?“, fragte er.
Vitali schüttelte den Kopf. „Das hättest du nicht tun dürfen“, sagte er. „Michail ist kein böser Mensch. Hurerei, Wein und Most nehmen den Verstand weg. Hosea 4:11.“
Eugen atmete tief ein und sah zum Himmel über dem Burger-King-Parkplatz auf, als müsste von dort jetzt irgendeine Reaktion kommen. „Kurzschluss“, sagte er. „War wie ein Reflex.“
„Was?“, fragte ich.
„Mann, was ich am Telefon gesagt habe. Ich hab' ihm eine reingehauen.“
Eugen rieb seine Fingerknöchel. „Hosea 4:11“, sagte er. „Ich helfe ihm gegen diesen Schwachkopf, und das bekomme ich dann dafür. Hosea 4:11. Ich hab's gegoogelt, das steht da wohl wirklich mit dem Most. Hätte mich aber nicht gewundert, wenn … Alter, isst du gerade den Burger vom Boden?“
Ich fuhr zusammen und hörte auf zu kauen. Langsam legte ich den Burgerrest zurück in die Schachtel. Ich hatte sie aufgehoben, während Eugen seine Knöchel studiert hatte.
„Der Burger war nicht auf dem Boden“, sagte ich. „Der war die ganze Zeit in der Schachtel.“
Eugen zeigte mir einen Vogel. „Alter, du sammelst den Müll vom Boden auf und isst ihn! Das ist letzte Ausfahrt Brooklyn, das und mein Bruder und dieser Asi Michail!“
„Ich hatte Hunger und nochmal, ich habe ihn ja nicht direkt vom Boden gegessen. Ob die Schachtel auf einem Tisch steht oder auf dem Parkplatz, wo ist denn da der Unterschied? Den Burger berührt doch nur der Pappkarton.“
„Würdest du ihn auch essen, wenn die Schachtel auf Scheiße steht?“
„Bitte?“
„Sag doch einfach.“
„Ich weiß nicht, wozu.“
„Einfach so, aus dem Bauch. Würdest du?“
„Das ist doch Quatsch.“
„Aber würdest du?“
„Nein!" Ich schleuderte den Karton mit dem letzten Bissen Burger über den Parkplatz. „Nein“, wiederholte ich ruhig. „Ich würde einen Burger nicht essen, wenn er aus einer Schachtel kommt, die auf Scheiße steht.“
„Ach“, sagte Eugen. „Und was meinst du, wie viele Hunde schon auf diesen Parkplatz geschissen haben?“
„Ich hab ihn ja weggeworfen.“
„Dass du ihn überhaupt erst aufgehoben hast.“
„Wo ist das Problem? Er lag noch in der Schachtel und hier hat auch keiner hingeschissen, und ich hatte Hunger und du offensichtlich nicht!“
„Mir ist der Appetit vergangen.“
„Mir aber nicht.“
„Ey.“
Eine tiefe, morieske Stimme. Sie sprach im derben Akzent, den Eugens Vater hatte, und den vermutlich auch Onkel Michail hatte: „Welche von euch zwei Schwuchteln hat das gerade geworfen?“
„Das geht dich einen Scheiß an“, sagte Eugen, ohne den Fragenden dabei anzusehen. Ich sah ihn an. Er hatte ein fieses kantiges Russengesicht und an seiner Lederjacke klebte eine Scheibe eingelegte Gurke. In der Hand hielt er die jetzt leere Burgerschachtel.
Eugen spuckte auf den Boden und sagte etwas auf Russisch. Der Angesprochene reagierte mit einem Schwinger. Eugen ging sofort zu Boden. Der Angreifer begann auf ihn einzutreten. Drei Freunde des Schlägers kamen herbeigelaufen. Ich dachte einen sehr theatralischen Gedanken: Wir sind verloren.
Genau wie Eugen ein paar Stunden zuvor hatte ich einen Kurzschluss im Kopf. Ein Moment des Mutes, von dem ich bereits ahnte, dass er mir zum Verhängnis würde, bevor er geschehen war.
Ich schubste den Ivan von hinten. Da er gerade das Bein zum Tritt schwang, wäre er fast hingefallen. Etwas stieß in meinen Rücken und holte mich von den Füßen. Der stolpernde Russe vor mir machte einen schnellen Schritt zu Seite. Damit gab er den Weg zum Autodach frei, an dem mein Nasenbein brach. Ich sah Schwärze, in der dunkle Blitze zuckten. Etwas drückte in mein Gesicht und die Blitze hörten auf.
Ich saß auf einer Bank, ein gutes Stück vom Eingangsbereich des Krankenhauses entfernt, rauchend. Über der Nase hatte ich ein dickes, verstärktes Pflaster. Sie war gar nicht richtig gebrochen. Prellungen, Schürfwunden, verletzter Stolz. Alles tat weh, vorne weg meine Nase, aber eigentlich hatte ich Glück gehabt.
Ich trat die Zigarette aus und zündete mir gleich eine neue an. Ich atmete schwer durch den Mund, als hätte ich eine schlimme Erkältung. Jemand ging vorbei in Richtung Krankenhaus. Die Augen schwollen mir zu, aber ich erkannte ihn trotzdem. Er mich auch.
Der Ausdruck in Vitalis Gesicht ließ mich ahnen, wie ich aussah. Er deutete auf seine Nase und glotzte meine an. „Hat mein Bruder auch so viel abbekommen?“
„Mehr.“ Meine Stimme klang nasal, als würde ich für Kinder eine Ente imitieren. „Glaube ich. Ging ziemlich schnell.“
Vitali nickte. „Ja, meistens ist das so.“ Er hatte rote Flecken im Gesicht, leicht geschwollen, aber nichts war geplatzt. Eugen konnte es nicht ernst gemeint haben.
„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte ich.
„Leute von früher“, sagte Vitali. „Haben mich angerufen. Meinten, sie seien nicht sicher, aber wahrscheinlich sei er's. Und dass es ziemlich übel gewesen sein soll. Ich wollte auf dem Handy anrufen, aber er geht nicht dran. Ich glaube, er hat's aus.“
Ich wunderte mich, dass er ein Handy hatte, wo er doch nicht mal Musik hören durfte.
„Wir haben uns da auf dem Parkplatz unterhalten und auf einmal kamen diese Typen angeschissen“, sagte ich.
Vitali nickte. „So passiert das, ja“, sagte er. „Mein Bruder hat es früher nicht anders gemacht.“
„Hat er ja auch die rote Karte für bekommen.“
„Das reicht vor den Menschen, aber nicht vor Gott.“
Ich zuckte zusammen, weil mein Lachen einen scharfen Schmerz von der Nase hoch in die Stirn schickte. Vitali lächelte, wie man über ein Kind lächelt, das etwas Dummes sagt. Nicht, weil es dumm ist, sondern weil es noch nicht lange genug auf der Welt ist, um bestimmte Dinge zu wissen.
„Rauchen ist übrigens ungesund“, sagte er.
„Ich muss mir gleich noch welche kaufen“, erwiderte ich trotzig.
„Und ich gehe jetzt rein, denke ich.“ Sein Entschluss enttäuschte mich. Eugen war Familie und ich eben nicht, aber dass er so schnell weiter wollte, gab mir das Gefühl, ich sei es gar nicht wert, gerettet zu werden.
„Pass auf, dass du dir nicht wieder eine fängst“, sagte ich.
Er grinste, hob die Hand zum Gruß und ging Richtung Eingang. Meine Nase tat jetzt so weh, hätte er sie durch Handauflegen geheilt wäre ich mit ihm gegangen, Halleluja rufend, Erwachsenentaufe im Schwimmbecken, Kutsche fahren, Festplatte mit Musik wegschmeißen, nur noch im Bethaus abhängen, jeden Tag, so als wäre das die letzte Ausfahrt und nicht der Burger-King-Parkplatz.