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Resli‘s klagende Stimme
Erst reagierte Marco mit unruhigem Herumwälzen, dann schreckte er aus dem Schlaf. Aufrecht sitzend dem Klang lauschend. Eine hohe Frauenstimme sang in auf- und abschwellendem Ton. Der Liedtext wurde vom Wind zerfetzt, die Melodie blieb aber hörbar.
«Was ist los?», fragte Sybilla schlaftrunken, die durch seine Unruhe aufgewacht war.
«Hörst du es nicht. Draussen singt eine Frau!»
«Du spinnst, das ist doch der Wind. … Du hast recht, es klingt wirklich nach einer Frauenstimme!»
«Siehst du. Jetzt ist es wieder leiser. Merkwürdig. Ob es einer dieser eigenartigen Bräuche ist, die Bergler so treiben?»
«Du meinst, so etwas wie die Sylvesterchläuse bei den Appenzellern?»
«Ja, aber eher um die bösen Geister von den Sommerweiden fernzuhalten. Es ist immerhin August und nicht Januar.»
«Von einem solchen Brauch habe ich noch nie gehört. Aber ich weiss es nicht. In manchen Dingen sind die Menschen hier schon sehr eigen.»
«Es muss so etwas sein!»
«Hm, ich weiss nicht. Es dünkt mich eher ein wenig unheimlich.»
«Ich gehe nachschauen, ob ich etwas sehe. Vielleicht ist es ja nur ein Nachtbubenstreich.»
«Aber pass bitte auf, Marco.»
Mit dem Wanderstock bewaffnet trat Marco vor die Tür. Der Wind blies kräftig, am Himmel trieben Wolken, die den Mond zeitweise verdeckten. Die Frauenstimme intonierte, vom Wind getragen, wieder stärker. Die Herkunft konnte er nicht orten. In Richtung, aus der der Wind blies, waren die Weiden überschaubar, wenn das Mondlicht durchkam. Dort wo eine Kuhherde sommerte, erblickte er deren dunkle Körper, aber keinen Menschen. Sein Blick wandte sich bergwärts, die Steigung hinauf bis zu der zackigen Silhouette, den Grat abtastend. Nichts, das sich auffällig davon abhob. Nun begann es, ihn zu frösteln.
Eben wollte er sich zurückziehen, es dünkte ihn nun auch unheimlich, da meinte er, die Melodie zu erkennen.
«Hör mal auf die Melodie, Sybilla. Erkennst du sie?»
Beide lauschten dem Klang, der durch das offene Fenster ins Schlafzimmer getragen wurde.
«Wie ein Klagelied», meinte Sybilla. Ein leichter Schauer fuhr durch ihren Körper, sie zog die Decke etwas höher.
«Das Beresinalied! Es klingt wie das Beresinalied.»
«Warum sollte hier jemand das Beresinalied singen? Dazu noch mitten in der Nacht?»
«Ich weiss es nicht. Aber es klingt doch so, oder?»
«Ich kann es nicht sagen. Die Melodie habe ich nicht genau in Erinnerung.»
«Doch, doch, das ist es. Vielleicht waren Leute von hier damals an Napoleons Feldzug beteiligt. Es waren ja etliche Eidgenossen damals in seine Dienste getreten. Die Not trieb sie dazu, Geld als Söldner zu verdienen.»
«Übermorgen müssen wir ohnehin Lebensmittel im Dorf einkaufen gehen, dann können wir uns ja erkundigen. Ich versuche nun wieder, zu schlafen.» Sybilla drehte sich auf die andere Seite und auch Marco legte sich wieder hin.
Im Lebensmittelladen kauften sie erst ein, bis Sybilla die Verkäuferin fragte. «Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, was das vorletzte Nacht für ein Brauchtum war?»
Diese sah sie verwundert an. «Ich weiss nicht, was Sie meinen.»
«Na die Frau, die oben am Berg sang», mischte sich Marco ein. «Sie muss oberhalb unserer Hütte gewesen sein und hat die halbe Nacht lang das Beresinalied gesungen.»
«Keine Ahnung was das gewesen sein soll. Ich wohne allerdings einige Kilometer von hier entfernt, aber gehört habe ich noch nie von so etwas.»
«Aber Rebecca, das ist doch s’Resli», meldete sich ein knorriger alter Mann zu Wort. Er kam jede Woche vorbei, um seinen Wochenvorrat an Tabak zu holen, und stand hinter Sybilla und Marco.
«Welches Resli meinst du denn, Flurin?»
«Je s’Resli von der Bödelialp. Jetzt musst du nur sagen, du kennst es nicht.» Rebecca sah ihn nur verständnislos an.
Marco fand dies befremdend. Die komfortable Hütte, die sie für ihren dreiwöchigen Urlaub gemietet hatten, war auf der Bödelialp. Etwas abseits gab es noch einen Schuppen und einen Unterstand für das Vieh, das weiter oben weidete. Bewirtschaftet wurde es von einem Bauern, der seinen Hof mehr talwärts hatte. Aber da oben wohnte niemand.
«Aber die Hütte ist doch nur an Feriengäste vermietet», wandte sich Marco nun direkt an den Auskunftgeber.
In Flurins faltigem, braun gebranntem Gesicht schienen sich die Furchen noch zu vertiefen, als er lächelte. Seine dunklen Augen nahmen Marco ins Visier.
«Da haben Sie recht, in der Hütte wohnt s’Resli nicht mehr. Möchten‘s denn mehr über sie wissen?»
«Ja, doch gern», sagte Marco schnell.
«Da muss ich mich aber erst setzen.» Flurin schritt auf einen Tisch mit vier Stühlen zu, der in einer Ecke des Ladens stand. Dies ermöglichte den Einheimischen, nebst Einkäufen auch noch einen längeren Schwatz zu halten. «Rebecca, bringst du mir bitte ein Bier.»
«Also das war so. Der selige Juchert Karl, ein Zugewanderter, hatte vor bald zweihundert Jahren damals auf der Bödelialp für sich und seine Familie ein Haus gebaut und ein paar Kühe und Ziegen zugelegt. Auf dieser Höhe hatte damals niemand überwintert und man war skeptisch. Doch er und seine Familie überstanden den Winter dort schadlos, was später dann auch andere bewog, es an solchen Lagen zu versuchen.
Im dritten Sommer geschah es dann. Seine halbwüchsige Tochter, s’Resli, war einer versprengten Ziege nachgestiegen, um sie zurückzuholen. Wie es genau passierte, wusste niemand, auf jeden Fall war sie abgestürzt und jämmerlich zu Tode gekommen. Die Mutter vom Resli nahm sich dies sehr zu Herzen und wurde kränklich. Als Karl im nächsten Frühjahr sich im Dorf nicht blicken liess, stieg jemand hinauf. Die Gesundheit der Frau hatte sich im Winter anscheinend verschlechtert. Sie fanden sie liebevoll gebettet, anscheinend durch einen Herzstillstand verstorben. Den Karl aber entdeckten sie an einem Dachbalken erhängt. Er konnte diese Schicksalsschläge dicht hintereinander wohl nicht mehr verkraften.
An dem Tag, als man sie zu Tal trug, erklang erstmals die klagende Stimme vom Resli. Ihr Klagelied begleitete die toten Eltern zu Tal, wo auch ihr Körper beigesetzt worden war. Seither ist ihr Klageruf ab und zu vernehmbar. Nicht so oft, aber doch immer wieder mal.»
«Das ist ja furchtbar. Passierte es im Haus, in dem wir wohnen?», fragte Sybilla sichtlich betroffen.
«Nein, nein. Das Haus stand sehr lange Zeit leer und verfiel dann. Anstelle dessen baute der Camenzind Andri viel, viel später die Sennhütte. Seine Nachkommen vermieten es nun als Ferienhaus, nach einem Umbau vor einigen Jahren.»
Marco und Sybilla lagen im Bett und horchten in die Nacht. Wiederum blies der Wind, doch die Stimme von Resli war nicht zu hören.
«Ich finde es unheimlich», bemerkte Sybilla nach langer Stille zaghaft.
«Hm, ja, es ist ein Gefühl als müsste man jeden Moment damit rechnen, die toten Juchert's würden durch die Tür treten.» Marco machte dazu ein grimmiges Gesicht.
«Wie kannst du so etwas Furchtbares sagen, ich fürchte mich schon genug.»
«Na von auferstandenen Toten habe ich noch nie gehört, aber es ist dennoch gruselig.»
«Und was war mit Jesus?»
«Bist du nun plötzlich streng religiös?» Marco sah seine Frau verwundert an.
«Nein, das nicht. Aber letztlich weiss man ja nicht, ob seine Auferstehung nicht doch mehr als nur symbolisch gemeint war.»
«Du machst mir Spass. Jetzt kann ich dann auch kein Auge mehr zu tun, selbst wenn mir ein solcher Spuk unwahrscheinlich erscheint.»
«Aber s’Resli hast du ja selbst gehört.»
«Ja natürlich. Aber irgendwie ist es doch absurd. Es gibt doch keine Toten, die auf den Berg steigen und singen.»
«Mir ist es dennoch unheimlich. Ich habe mal gehört, Orte mit düsterem Geschehen würden solche Vorfälle wieder nach sich ziehen.»
«Hm, ich weiss nicht. Sollen wir morgen abreisen?»
«Ja ich bin dafür. Ich stehe gleich auf und packe, schlafen kann ich ja doch nicht.»
«Ich helfe dir.»
Drei Jahre später. Sybilla sass auf der Terrasse ihres Hauses, die Zeitung aufgeschlagen. Ein Artikel über Phänomene aus Berggebieten zog ihre Aufmerksamkeit an. Eine Projektgruppe von Studenten der ETH war Merkwürdigkeiten, die Einheimische berichteten, nachgegangen. Vor allem waren es Naturphänomene, die im ersten Moment unwahrscheinlich erschienen, doch für die es eine logische Erklärung gab. Sie überflog die meisten Ausführungen nur. Dass der dünne Sauerstoffgehalt in sehr grosser Höhe auch zu Wahrnehmungsverzerrungen führt, interessierte sie. In diesem Zusammenhang wurde die Legende vom Yeti erwähnt. Sie wollte die Seite schon umblättern, als ihr weiter unten im Text drei Stichworte auffielen: «Melodie der Berge!» Bei einer Felsformation, in der die Witterung und die Erosion ein durchgängiges Loch schuf, führte es zu einem Klangphänomen. Bläst der Wind aus einer bestimmten Richtung, was nicht häufig auftritt, erklingen musikartige Geräusche. Dies ist nur in gewissen Höhenlagen hörbar. Solche Formationen treten vereinzelt auf, doch hängt der Klang von der Beschaffenheit der Felsöffnung und den Windverhältnissen ab. Sie können aber durch Erosionen am Fels auch wieder verschwinden. .Bis ins Mittelalter glaubten die Menschen, solches seien himmlische Klänge und huldigten den Phänomenen. Später, als die Kirche solchen Spuk verboten hatte, rankten sich dann ortsbezogene Legenden darum
Ist es gar keine versprengte Ziege gewesen, der s’Resli nachstieg, vielmehr diese eigenartige Melodie?, überlegte Sybilla. Das muss ich Marco erzählen. … Nein, ich sag ihm besser nichts, sonst will er künftig die Ferien wieder in den Bergen verbringen. Vielleicht war es doch die Stimme vom Resli? Am Meer gibt es glücklicherweise keine solchen Phänomene, höchstens Seemannsgarn, und bei dem weiss man wenigstens, dass es sich nur um Schauermärchen handelt.
Der Blick von Sybilla fiel auf die Voranzeige: «Morgen berichten wir über Phänomene aus Gewässern.»