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Resignation
Ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren geht durch den U-Bahn-Waggon. „Haben sie bitte ein paar cent für Essen?“ Zwei Mädchen kichern und spötteln über ihn. Eine Frau schimpft, wo denn seine Eltern seien und überhaupt, was ist das für eine Welt in der wir leben, voll Schmarotzertum und kaputten Existenzen. „Nun, der Junge hat sie sich nicht ausgesucht, diese Welt, liebe Frau“, sagt ein Mann ihr gegenüber mit hochgezogener Augenbraue, herausgefordert von ihrem Groll, ohne den Jungen selbst aber eines Blickes zu würdigen. Die Frau macht nun, mit einem nicht enden wollenden Wortschwall, die ganze Menschheit für ihren Zorn über diese Zurechtweisung verantwortlich. Der Mann blättert weiter in seiner Zeitung und die paar Fahrgäste blicken peinlich berührt in das Finstere des Tunnels hinaus.
An der Haltestelle steigt der Junge aus und macht sich auf dem Weg zum Klo. Ein paar Cent und ein paar Euro klimpern in seiner Hosentasche. Sein älterer Bruder wird ihm eins überziehen. Gestern hat er für mindest fünfmal soviel Geld einen Tritt in seine Eingeweide abgekriegt. „Wer nicht ranschafft muss leiden, so lautet das Gesetz, mein Gesetz.“ sagte er grinsend in einem harten Flüsterton, voll Entzücken seinen Hass auf Gott und die Welt auf jemanden auslassen zu können. Er trat ihn zur Tür hinaus und schickte ihn zum Wirt an der Ecke, Wein zu holen. Nach den langen Stunden des Rumlaufens, des Bettelns und des Zeit Herumstehens, schlief er danach den spärlichen Rest der Nacht in dem stinkenden Bett seines chaotischen Zimmers. Zu essen gab es nichts. Längst wurde Geld nur für flüssige Nahrung ausgegeben. Morgens schlich er aus der Wohnung um dem Katzenjammers, seines Bruders tägliches Ritual von Selbstmitleid, zu entgehen.
Er wäscht sich im U-Bahn-Waschraum die Hände und schaut in den Spiegel. In seinem Bubengesicht versteckt, liegen die Augen eines Erwachsenen der schon viel zuviel gesehen hat von der Realität seiner Welt. Er kickt das Papierhandtuch zusammengeknäuelt zu einem kleinen Ball in die Ecke des Raumes. Dann zündet er sich fröstelnd eine Zigarette an, als könnte die Glut ihm die Wärme und Geborgenheit schenken, die es in seinem Leben nie gegeben hat. Er inhaliert tief in seine Lungen hinab und bläst den Rauch seinem Spiegelbild entgegen. Wie ein Nebel legt der Rauch sich über seine Züge, macht sie weicher.
Draußen trifft er auf Knopf, ein Mädchen in seinem Alter, mit großen braunen Knopfaugen, denen sie ihren Namen verdankt. Heute ist eines dieser Augen dick zugeschwollen und blutunterlaufen. Ein Mann in der fast leeren U-Bahn hat sich erlaubt, ihr an die ohnehin noch kaum vorhandenen Brüste zu greifen und sie trat ihm gegen das Schienbein. Die Quittung dafür ziert nun ihr linkes Auge.
„Hi“ sagt sie etwas peinlich berührt. Das Sprechen fällt ihr schwer, als wäre ihre Gesichtshälfte lahm gelegt. Es ist ihr unangenehem, dass der Junge sie so sieht. Er ist ihr Freund und sie möchte nicht, dass es ihm vor ihrem Anblick ekelt. „Es ist schon ok, irgendwie.“ Sie tritt von einem Fuß auf den anderen.
Er steht nur da und sieht sie an. In ihm brennt soviel Zorn, ungebremst nach innen seine Spuren ziehend. In ihre Augen wollen sich Tränen einschleichen, aber sie hat gelernt sie hinunterzuschlucken. Nur ein ganz kleines, fast unscheinbare Tränchen im Augenwinkel lässt sich nicht bezwingen, die anderen sind schon Erinnerung, nicht mehr existent.
Er nimmt sacht ihren Arm und sieht die Verletzungen die sie bei dem Gerangel auch dort erlitten hat. Nun weint sie doch. "Scheisse! Nichts ist ok, ich pack das alles nicht mehr, mein Freund. Ich hau ab, irgendwann. Hier ist es doch nur dunkel in all dem Neon. Schau sie dir doch an, all die selbstgefälligen, schleimigen Arschlöcher. Die nehmen Abschaum wie uns doch gar nicht zur Kenntnis. Was kann mich noch Dunkleres erwarten dort drüben? Nichts, das ich nicht schon kenne. Nein ich zieh es durch, was solls, ich möchte endlich friedlich schlafen, verdammt nochmal.“
Der Junge sieht sie eine ganze Weile still an, dann nimmt er sie an der Hand und sagt: „Komm!“ Er läuft durch den gesamten U-Bahn-Bereich, stößt an Passanten und wird mit sämtlichen Schimpfwörtern bedacht, welche die Menschen aus sich herauspressen wie giftigen Schleim.
„Wo willst du denn hin, ich kann doch nicht so schnell laufen, he ...... was ist denn mit dir? Wo laufen wir denn hin? Bleib stehen du blöder Junkie“ Aber der Junge ist nicht aufzuhalten, weder durch ihre Zurufe, noch durch die fast schon verzweifelten Befreiungsversuche aus seinem festen Handgriff. Er läuft mit dem Mädchen hinaus auf die Donauinsel und lässt sich atemlos auf die Wiese fallen.
„Knopf! Sieh hin, sieh da hinauf in diesen Himmel" presst er heraus. "Siehst du, dort oben in dieser Tiefe der Wolken, dort wo alles so endlos ist, in diesem ewigen Dunkel dort willst du zu Hause sein?“
Er nimmt einen Stein auf und wirft ihn, mit all der Energie seiner Wut, weit hinaus ins Wasser. Er keucht und schreit ihr seine Angst entgegen. „Wieso? Wieso willst du dorthin? Diese Sterne dort, die kleinen, die so intensiv glitzern, kannst du sie sehen?“ Knopf,die ebenfalls auf den Knien zusammengekauert auf der Wiese sitzt und friert,wendet nur ganz kurz den Kopf hin, dann schaut sie wieder auf ihre Finger die in der Erde nach etwas nicht Vorhandenem graben.
Er nimmt sie unsanft zur Seite, dreht ihr mit einem Klammergriff seiner schmutzigen Hände den Kopf hinauf zum Nachthimmel.„Du musst hinschauen. Begreifst du es nicht? Dort oben sind alle, die drauf geschissen haben, so wie du. Siehst du, wie sie verzweifelt ihr Licht einsetzen, zu glitzern versuchen, damit sie in der Finsternis noch erkennbar sind?" Seine Hoffnungslosigkeit quält ihn. Seine Angst alleine zurückzubleiben, niemand mehr zu haben, schnürt ihm sein Herz ab. Dann sagt er ganz leise "Sie leuchten, nur, dass wir sie wahrnehmen als ohnmächtige Vergänglichkeit, nachdem sie einfach drauf geschissen haben, verstehst du? Nein Knopf, noch sind wir nicht so weit. Du bist noch nicht soweit. Vielleicht, irgendwann einmal. Aber jetzt, jetzt ist noch nicht der Zeitpunkt. Nicht jetzt.“
Er lässt ihren Kopf immer noch schwer atmend los und streicht ihr sanft, ein wenig verlegen über ihr Haar. Seine Hand findet die Wunde in ihrem Gesicht, streichelt darüber und wischt über ein paar nicht zu verhindern gewesene Tränen. „Nicht jetzt Mädchen, nicht solange es so etwas wie diese Liebe zwischen uns gibt. Du darfst deiner Liebe nicht nur die dunklen Wolken der vermeintlichen Rettung da oben zeigen. Dort ist keine Finsternis wo du dich verstecken kannst. Dort ist das blendende Licht der Hoffnungslosen. Dieses verführerische Licht derer die aufgegeben haben, musst du deiner Liebe zeigen, damit sie sich nicht verleiten lässt zu sterben."
Er legt seinen kraftvollen Arm zärtlich um ihre Resignation und verspürt dabei selbst Geborgenheit und Trost, ein gegenseitiges Fließen von Wärme entsteht in einer Welt die ziemlich kalt geworden ist um diese Jahreszeit. Langsam schlendern sie zurück in die grelle Atmosphäre der U-Bahn-Station.