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Reset
Ein Jahr war Isolde jetzt tot. Als sie in die Erde gelegt wurde, waren einige ihrer Freunde da, einige meiner, die meisten gemeinsame. Ein paar ihrer Kollegen.
Ich war nicht wirklich bei ihr gewesen an diesem Tag. An den Tagen davor, an den Tagen danach, aber nicht an diesem. Von diesem Tag sind mir andere Dinge haften geblieben. Abläufe, Gesten, vor allen Dingen Gesichter. Bemühte Gesichter, die um etwas rangen. Sie rangen um eine Mischung aus eigener Trauer und einem Mitgefühl für mich, von dem sie nicht wussten, wie sie es zeigen konnten, wie nah sie mir kommen durften, wie sie die Balance halten konnten zwischen Anteilnahme und Rücksicht. Das Parzival-Dilemma. Ich hatte befürchtet, dass manche von ihnen schöne Worte über sie sprechen wollten, aber es trat niemand hervor. Ich auch nicht.
Im Restaurant saßen sie zusammen und halfen sich gegenseitig. Ich hatte mich hier und dort hinzu gesellt und bewirkt, dass die Themen zurück zu Isolde fanden. Ich bewirkte es durch meine bloße Anwesenheit, wollte es gar nicht. Warum auch? Für Isolde war es nicht mehr wichtig und mir war es egal.
Die erste Zeit danach. Sie war einfach nicht da. Sie war oft nicht da gewesen. Sie war ja anderswo, würde zurück kommen. Jetzt war sie nirgends mehr. Ich hatte nicht gewusst, wie abwesend und teilnahmslos man ein Leben leben konnte. Ich verhungerte nicht, wusch mich und meine Kleidung, meine kleine Firma lief auch ohne mich.
Ich hatte eine kleine Hausverwaltung, vier Mitarbeiter. Sie waren gut geschult, hatten alles im Griff, brauchten mich nicht.
Die Tage verrannen so wie Flüssigkeit langsam aus einem Glas verdunstet, das in der Sonne steht. Sie begannen und sie endeten. Manchmal legte ich mich schlafen voller Trauer über die Gewissheit, dass morgen wieder so ein Tag kommen würde. Genauso leer und sinnlos wie der, den ich gerade hinter mich gebracht hatte. Manchmal hatte ich keine Tränen, manchmal wusste ich nicht, wie all das Wasser in mich geraten war, das aus mir herausrann. Am Ende eines jeden Tages war ich übrig und wusste nicht warum und wozu.
Irgendwann nach Wochen schien sich in einigen Freunden und Bekannten das Gewissen zu regen. Vielleicht hatten sie schon eine Weile mit sich gerungen und waren daran gescheitert, sich einen Gesprächsbeginn zurechtlegen zu können. Ich bekam Anrufe, Besuche.
Du musst wieder leben! Es muss weiter gehen! Mach eine Reise! Das liebst du doch. Städte und Menschen kennenlernen. Das Leben sehen, wie es anderswo ist. Natürlich wird dir überall Isolde fehlen, aber da musst du durch. Es wird sich ändern. Schwächer werden. Irgendwann wird sie manchmal da sein, manchmal nicht. Mit der Zeit immer öfter nicht. Irgendwann werden die Momente ruhig, in denen du bei ihr bist. Dankbarer, nicht mehr so schmerzhaft. Und dann gehst du wieder ins Büro. Machst deinen Job. Nimmst deinen Rhythmus wieder auf.
Isolde und ich hatten ein gutes Leben geführt, wir waren finanziell ordentlich aufgestellt, die Firma lief, sogar eine kleine Rente hatte sie mir vermacht. Isolde war Lehrerin gewesen, verbeamtete Lehrerin. Gewiss, es gab Momente, in denen ich mich fragte, ob das Leben, das ich lebte, das war, das ich mir als junger Mann erträumt hatte. Aber wer in meinem Alter stellte sich diese Frage nicht hin und wieder? Auch Isolde hatte sie sich gestellt. Und wir sprachen darüber.
„So ist das Leben“, sagte sie. „Je älter man wird, desto sicherer weiß man, dass es andere Wege gegeben hätte. Aber man kann immer nur einen wählen. Und dann muss man zu dieser Wahl stehen. Alles andere macht nur unglücklich. Wir haben keinen Rückwärtsgang! Keine Reset-Taste!“
Aber es war unser gemeinsames Leben gewesen. Keins, das ich allein leben konnte.
Isolde und Daniel, Daniel und Isolde. Ich war übrig aber wer war ich? Die verbliebene Hälfte von uns beiden? Allein nicht lebensfähig? Allein nicht mehr fähig zu fühlen, nicht imstande, noch etwas zu wollen von diesem Leben? Wenig hilfreiche Gedanken aber sie fraßen sich in mich hinein. Vor allem nachts. Anstatt zu schlafen, fragte ich mich, wo ich aufgehört hatte, nur Ich zu sein und zu einem Teil unseres Wir geworden war. Dieses Wir gab es nicht mehr. Wenn ich weiterleben wollte, musste ich den Menschen wieder entdecken, der ich davor gewesen war. Vor dem Zusammenwachsen, vor den Kompromissen, vor dem Suchen und dem Finden des gemeinsam Lebbaren. Immer öfter ging ich in meinen Gedanken und Erinnerungen wühlend diesen Weg in meine Vergangenheit. Ich musste unendlich weit gehen. Oft lag ich die ganze Nacht wach, hielt mich am Faden unserer gemeinsamen Geschichte fest und zog mich an ihm zurück. Nichts war falsch gewesen, aber ich wollte zu der Zeit gelangen, in der ich noch allein war mit mir. Sie nochmal fühlen. Wer war ich vor Isolde gewesen? Doch was hoffte ich, zu entdecken? Ein Stück von mir, das ich verloren hatte, an das ich anknüpfen konnte? Etwas neues altes eigenes? Ich wusste es nicht. Ich zog mich vorbei an all den Momenten, die uns zusammen gehört hatten, an Reisen, Gesprächen, Lachen, Weinen, Streits, Versöhnungen, Liebesakten zurück bis zu einer zaghaften Begegnung, bei der wir beide noch nicht gewusst hatten, nicht einmal geahnt, wie viel „Wir“ vor uns lag.
Und ich begegnete Susanne wieder. Mehr als dreißig lange Jahre! Mein Gemeinsames mit Susanne war daran gescheitert, dass wir beide noch nicht reif oder bereit für ein „Wir“ gewesen waren. Zu jung, zu neugierig, zu hungrig. Vor allem ich.
Oft hatte ich nicht an sie gedacht in den letzten Jahrzehnten. Manchmal mit Isolde über unsere Jugendlieben geplappert. Sie war der Meilenstein vor Isolde, an dem ich vorbeigelaufen war ohne anzuhalten. Susanne. Ihr kleiner sehniger Körper. Keine 50 Kilo wog sie. Ihr Lachen, das etwas Blubberndes hatte als würde es aus den Tiefen eines Sees nach oben steigen. Ihr tiefschwarzes Haar, die helle Haut. Mein kleines Schneewittchen, das so traurig war, als ich anfing von Freiheit und noch zu früh und nicht binden zu sprechen, das mich so schweigsam verabschiedete, ihre Stirn an meiner Brust, als ich ging.
Ich erinnerte mich auch an den Augenblick, als ich vor ihrer Tür auf der Straße stand, durchatmete, mich gleichzeitig traurig und befreit fühlte. Und schmutzig. Meine Erinnerungen stockten an der Stelle, weil ich diesen Daniel nicht mochte. Vielleicht noch weniger als das. Vielleicht verabscheute. Ich wollte diesmal weiter gehen. Was für ein junger Mann war er damals gewesen? Wie stark, wie frei, wie reif, wie grausam? Ich wollte mich tiefer erinnern an Susanne. Vielleicht mehr als das. Sie nochmal sehen, etwas gut machen.
Wo lebte sie, was machte sie, wie lebte sie, war sie verheiratet, hatte sie Familie, Kinder, was war aus ihr geworden, hatte sie mich vergessen, wenn nein, welche Art von Erinnerung war ich für sie geworden, eine frühe Liebe, ein junger Mann, der sie verlassen hatte, was war aus ihrer Traurigkeit geworden? Susanne ließ mich nicht mehr los.
Ich recherchierte. Sie war nicht zu ergoogeln. Unter ihrem Mädchennamen war sie nicht zu finden und ihren heutigen Nachnamen kannte ich nicht. Ich wusste ihren Beruf nicht. Nicht mal ihr genaues Alter.
Aber ich wusste, wo sie mit ihren Eltern gewohnt hatte. In einem kleinen Vorort, eine Viertelstunde Autobahn mit meinem ersten VW Baujahr 1964. Ich fuhr die Strecke. Aus Ampeln an Kreuzungen waren Kreisverkehre geworden. Aus Waldstücken Siedlungen. Aus einem Bolzplatz ein Baumarkt. Aber ich musste nicht ein einziges Mal fragen, nicht einmal umkehren und mich neu orientieren. Ich brauchte nicht länger als damals. Das Haus, in dem sie gelebt hatte, stand noch da, ein Reihenhaus in einem Vierspänner, an der Tür der gleiche Name. Ihre Eltern mussten beide in den Achzigern sein, aber es gab sie noch.
Ich fuhr nach Hause, suchte und fand die Nummer im Telefonbuch, zögerte eine Woche lang. Dann rief ich an.
Es war ganz einfach. Ihre Mutter erinnerte sich nicht. Ein Freund von Susanne von früher. Aber sie gab diesem Freund bereitwillig die Nummer. Rückwärtssuche bei Klick-Tel. Susanne Helmer. Also verheiratet. Berlin Friedrichshain. Revaler Straße.
Immer wieder versuchte ich, mir ein Telefongespräch auszumalen. Wie beginnen? „Hallo Susanne, ich bin‘s, Daniel, der von vor dreißig Jahren. Wollte nur mal hallo sagen…“ Tagelang formulierte ich an meinem Eingangssatz. Stellte mir ihre Antwort vor. Ihr Schweigen. Dann kaufte ich mir eine Zugkarte nach Berlin.
Die Tage vor meiner Abreise zweifelte ich wieder. Was wollte ich dort? Was suchte ich? Was versprach ich mir von einer Begegnung mit einer Jugendliebe, die ich dreißig Jahre nicht mehr gesehen hatte, die sich vielleicht nicht mal mehr an mich erinnerte? Und das auch noch überraschend wie ein Überfall. Die Antworten konnte ich mir in diesen Tagen nicht geben und am Tag der Abreise wusste ich sie noch immer nicht.
Der ICE flog in einer Stunde nach Nürnberg. Dann verlangsamte er seine Fahrt. Als ich Bayern verließ, zogen Landschaften, Städte, Bahnhöfe an mir vorbei, die in einem Land lagen, das beim letzten Mal, als ich es passiert hatte, noch Deutsche Demokratische Republik geheißen hatte. Aber die „Blühenden Landschaften“ interessierten mich nicht. Nicht heute.
Berlin! Ich hatte mich vorbereitet. S- und U-Bahn-Netz ausgedruckt. Haltestelle Warschauer Straße. Ein Wirrwarr von Gleisen, Bahnsteigen, Menschen. Alles ganz anders. Größer, wilder, chaotischer.
Ich fand meinen Weg. Ihr Haus in der Revaler Straße. Keine 5 Minuten. Nun stand ich da. Während der Zugfahrt hatte ich mich dazu gezwungen, mir keine Begrüßung vorzustellen, keine Worte zu üben. Einfach läuten, dachte ich, einfach vor ihr stehen und dann schauen, was passiert.
Wie wäre es gewesen, wenn sie so bei mir aufgetaucht wäre? Jahrzehnte später. Isolde vielleicht zu Hause. Ich bin’s, Susanne. Wollte nur mal sehen, ob’s dich noch gibt. Wie du so lebst. Tat man so etwas? Durfte man so etwas? Ich hätte fragen müssen, anrufen, nicht einfach auftauchen. Hatte sie nicht jedes Recht, „Nein“ zu sagen? Nein, Daniel. Dazu habe ich keine Lust. Wozu soll das gut sein? Ich kann dich nicht brauchen.
Und nun stand ich vor ihrer Tür. Späte Skrupel! Nun zitterten mir die Finger. Zu späte Skrupel! Nicht zögern, nicht mehr nachdenken! Erdgeschoß rechts. Helmer. Einfach auf den Knopf drücken.
Ich läutete. Vielleicht war sie nicht zu Hause, vielleicht war sie noch arbeiten, es war ja Nachmittag. Vielleicht war sie Einkaufen. Vielleicht, vielleicht. Dann summte es und die Tür öffnete sich.
Susanne stand an der Wohnungstür und betrachtete den fremden Mann, der die kurze Treppe hinaufstieg und ihren Blick vermied, bis er ihr gegenüber stand. Dunkel und hell. Mein Schneewittchen. Immer noch schlank und schmal, die kleine senkrechte Ärgerfalte über der Nase war tiefer geworden, die Lachfältchen an den Augenwinkeln zahlreicher. Ärger und Lachen, beides musste sie in ihrem Leben gefunden haben.
Sie blieb einfach in der Tür stehen und sah mich an. Sagte nichts, lächelte nicht.
„Susanne“, sagte ich. „Ich bin’s, Daniel.“
„Ich glaub es nicht.“
Und dann nochmal ganz leise: „Ich glaub es nicht.“
Ihre Stimme hatte ich nicht mehr greifen können in den Momenten meiner Erinnerung an sie. Ihr Aussehen, ihre Augen, ihre Art sich zu bewegen, aber ihre Stimme hatte ich verloren. In diesem Augenblick fand ich sie wieder. Dunkel und voll, viel zu voll für diesen kleinen Körper. Ich erinnerte mich an diese überraschende Wahrnehmung vor langer Zeit, als ich ein dünnes feines Stimmchen aus dem kleinen Körper erwartet hatte. Aber sie war laut gewesen. Nicht nur beim Sprechen.
Sie trat zur Seite und ließ mich eintreten. Führte mich in die Küche, ging mir voraus, ohne die Augen von mir zu lassen. Deutete mir mit einem Nicken, Platz zu nehmen an einem großen Holztisch. Ich sah mich um. Betrachtete die Einrichtung, schaute mir alles an. Wie in ihrer kleinen Wohnung vor dreißig Jahren, kaum etwas, das lose herumstand. Keine Döschen und Figürchen. Mir gefiel das schon damals. Mochte es nicht, wenn in Wohnungen zu viel Aufbewahrtes herumstand. Zeugen längst überholter Lebenszeiten. Ich mochte es nicht, wenn Menschen sich nicht trennen konnten, aus jeder Zeit Dinge in die nächste trugen, Erinnerungen, als ob man für das Besondere im Erlebten Eselsbrücken bräuchte.
„Was willst du hier, Daniel? Was willst du hier nach über dreißig Jahren? Wie hast du mich gefunden?“
Ich erzählte. Erzählte von meinem Leben, von Isolde, von ihrem Tod, von meiner Idee, diesem Gedanken, sie unbedingt wiederfinden zu müssen.“
„Aber warum?“
Ich wusste die Antwort nicht.
„Gibt es etwas, das du mir sagen willst? Woran du dreißig Jahre gewürgt hast?“
Ich schüttelte den Kopf, wusste nicht, was sie meinte. Ich hatte nicht gewürgt. Hatte mich erinnert an sie. Eine Station in meinem Leben, an der ich mich anders hätte entscheiden können.
„Weißt du noch, wie viel es war?“
Diese Frage war scharf. Sie war in ruhigem Ton gestellt aber ihre Augen griffen an. Mich wiederfinden wollte ich! Mein Ich aus der Vergangenheit heraus kramen. Ich begann zu verstehen, dass es Susanne in diesem Augenblick vollkommen egal war, was ich wollte, was ich mir von dieser Begegnung versprochen hatte, wonach ich kramen wollte. Nun wollte sie etwas von mir.
„Wieviel was?“
„Wieviel Geld, du elender Mistkerl!“ Sie war aufgesprungen. Schleuderte mir diese Worte ins Gesicht. „Zweihundert Mark! Das Geld für die Abtreibung! Ich hab dein Gesicht noch vor mir. So hart, so gleichgültig.“
„Ich war nicht gleichgültig.“
„Nein? Was war es dann? Feigheit? Angst um deine lächerliche Freiheit? Angst, dass dein pures Spaß-Leben vorbei sein könnte? Ich sehe ihn noch vor mir. Ich kann ihn noch sehen, Daniel. Immer konnte ich ihn sehen. Immer! Dreißig Jahre lang. Ich musste nur an dich denken. An diesen Blick. Nur weg hier. Weg von diesem Mädchen. Weg von mir. Dein Gefasel von jung und zu früh. Ich war genauso jung. Aber ich hatte mich um das Ding in meinem Bauch zu kümmern. Und du?“
Ich schwieg. So klein war sie gewesen. So klein und hilflos und so unendlich traurig. So klein hatte ich das gemacht in meiner Erinnerung, so klein, dass ich es wegsperren konnte, ausblenden. Natürlich war da noch was gewesen. Nicht nur die Trennung. Nicht nur meine fehlende Reife für eine Beziehung. Diese Überschrift hatte ich mir ausgesucht für die Schublade, in der ich sie ablegte. Aber sie überschrieb nicht das, was gewesen war. Wie viel Enttäuschung, wie viel Zorn musste sie mit sich herumgetragen haben? Und ich? Ich erinnerte mich an eine Jugendliebe. Erzählte Isolde davon. Erzählte von meiner ersten Freundin. Nicht mehr. Kein bisschen mehr.
„Ich habe das immer mit mir rumgetragen, Susanne. Wie einen schwarzen Fleck, eine Wunde, die vernarbt aber immer wieder schmerzt. Eine Scham, die nie ganz vergeht.“
„Na wenigstens das! Du hast mir die Scheine rüber geschoben. Bist aufgestanden und gegangen.“
Tränen stürzten aus ihr heraus. Sie packte mich an den Schultern, drosch ihren Kopf an meine Brust. Immer wieder. Ich widerstand dem Impuls, sie festzuhalten, meine Arme um sie zu legen. Langsam wurde sie ruhiger.
„Du hättest mich nicht heiraten müssen. Du hättest dich trennen können. Aber du hättest mich nicht allein lassen dürfen.“
„Es tut mir leid, Susanne!“
„Es tut dir leid?“
Und dann holte sie aus und schlug zu. Mit der flachen Hand auf die Wange. Ich hätte ausweichen können aber ich hielt still. Meine Brille flog mir vom Gesicht, landete auf dem Tisch. Ich erwischte sie, bevor sie auf den Fliesenboden fallen konnte und setzte sie mir wieder auf. Eine lange Weile sprachen wir beide nicht. Sie hatte sich wieder gesetzt. Sah mir jetzt ruhig in die Augen.
„In einer Stunde kommt mein Mann nach Hause. Wir gehen essen. Heute ist unser Hochzeitstag. Ich muss mich noch schön machen.“
„Ich glaube, ich weiß jetzt, warum ich gekommen bin.“
„Dann sag‘s mir!“
„Um mir diese Ohrfeige zu holen.“
„Geh jetzt!“
Bevor sie mich aus der Wohnung schob, bekritzelte ich noch einen Fetzen Papier mit meiner Telefonnummer.
Zwei Stunden später saß ich wieder im Zug zurück. Bis Leipzig war ich gefühlstaub, bis zur alten Zonengrenze ärgerte ich mich über die Reise, meine Unbedarftheit. Was hatte ich erwartet? Eine offene Tür? Ein Willkommen lieber Daniel. Schön, dass du nach dreißig Jahren wieder in meinem Leben auftauchst.
Den letzten Teil der Fahrt war ich mit mir im Reinen. Die Ohrfeige war der Grund und die Antwort dieser Reise. Sie wusch mich nicht rein, sie brachte keine Vergebung, sie heilte keine Wunde, beseitigte keine Scham. Aber sie war ganz einfach seit dreißig Jahren überfällig. Und wenn ich mich an Susannes Gesicht erinnerte, mit dem sie mich eben aus der Tür geschoben hatte…Es war auch für sie gut gewesen, diese Ohrfeige loszuwerden.
Den nächsten Tag verschlief ich. Am übernächsten ging ich ins Büro. Ich besuchte Isolde, brachte ihr Blumen, erzählte ihr von meiner Reise.
Um Mitternacht des dritten Tages nach meiner Fahrt nach Berlin klingelte das Telefon. Ich war gerade dabei, mich hinzulegen.
„Hallo Daniel. Ich bin’s, Susanne!“
„Hallo Susanne.“
„Da gibt es jemand der dich sprechen will.“
Ich wartete, hörte ein männliches Räuspern, ein Flüstern.
„Ich hab tagelang überlegt, ob ich mit dir reden will. Hab mit Mama diskutiert. Ich weiß nicht, ob ich dich sehen will. Wie ich dich ansprechen soll. Vater geht nicht. Erzeuger ist blöd. Wie wärs mit „Hallo du Arschloch“?“