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Rendezvous mit der Rosen-Bestie
Sharon Kramer hatte gerade eine aufreibende Konferenz in der Nachrichtenredaktion hinter sich gebracht und verspürte wenig Lust auf ein Telefonat. Sie gewährte dem Anrufer eine Minute, der darauf eher belustigt reagierte. Das heisere Lachen klang gezwungen. “Eine volle Minute Ihrer kostbaren Zeit? Wie außerordentlich großzügig!“
„Und zehn Sekunden sind schon wieder rum“, entgegnete Sharon. „Sorry, aber der Tag war hart. Lassen Sie uns zur Sache kommen.“
Der geheimnisvolle Unbekannte kam zur Sache. Ohne weitere Umschweife bot er ihr die Entlarvung der Rosen-Bestie an – praktisch auf einem Silbertablett und sendegerecht für Kramer live aufbereitet. Er behauptete, die Identität jenes Serienmörders zu kennen, der seinen Opfern wenig fachkundig die Augen entfernte und die blutigen Höhlen mit Rosenblüten verschloss.
Die TV-Reporterin nahm eine entspannte Haltung ein und kritzelte nebenbei auf einem Telefonblock herum – so, als spräche sie täglich mit jemandem, der die Identität eines bizarren Serienmörder zu kennen vorgab.
“Und Sie haben sich natürlich nicht an die Polizei gewendet“, stellte sie fest, “Da ruft man doch lieber gleich mal beim Fernsehen an. Vielleicht schafft man es so noch in die Abendnachrichten. Haben Sie eine ungefähre Ahnung, wie oft wir solche Angebote bekommen? Geben Sie mir irgend etwas, das Sie von den Spinnern unterscheidet, die sich hier täglich melden.“
“Sie müssen mir einfach vertrauen.“
“Also gut. Welche Informationen haben Sie für mich?“
“Welche Informationen hätten Sie denn gern?“
Sharon lächelte. “Namen und Adresse des Blumenhändlers, bei dem er die Rosen kauft. Was soll das werden? Wen wollen Sie aus Rache in die Pfanne hauen?“
„Sie glauben mir nicht?“
„Noch habe ich nicht aufgelegt.“
„Okay. Ich bin der, den man sucht.“
Die Journalistin kritzelte weiter. “Bekenner rufen mich häufiger an als meine Mutter.“
“Ihre Mutter ist längst tot“, entgegnete er gereizt.
Sharon stutzte. „Sie sind gut informiert.“
Er flüchtete sich wieder in sein unechtes Lachen, wie ein zweitklassiger Theaterschauspieler, der sich die letzten Reste seiner Begabung durch Nebenrollen in Pornofilmen verdorben hatte. „Ich weiß vor allen Dingen, wie man googelt!“
"Ich bin nicht beeindruckt!"
“Man sagt, Sie hätten einen ausgeprägten Instinkt für gute Storys. Im Moment klingen Sie eher wie die Reporterin einer Schülerzeitung.“
„Und Sie klingen wie ein Arschloch.“
„Ich bringe Menschen um. Ich bin ein Arschloch!“
Sharon legte den Schreiber aus der Hand und rieb sich müde die Augen. „Ach, kommen Sie! Bestimmt waren Ihre Eltern die wirklichen Arschlöcher, oder etwa nicht? Vater Säufer, Mutter Schlampe, täglich Schläge, keine Liebe, etwas in der Art. Und nun wollen Sie uns allen zeigen, wie schlau und gerissen Sie sind. Das reicht nicht. Geben Sie mir etwas, das meine Zuschauer packt, geben Sie mir eine echte Story!“
„Ich hatte meine Aufgabe, so, wie Sie Ihre Aufgabe hatten. Das hat uns auf einen Schlag berühmt gemacht! Erinnern Sie sich? Sie wirkten damals noch ein wenig nervös. Es goss wie aus Kübeln und der Wind zerrte an Ihrem Regenschirm. Aber Sie haben tapfer durchgehalten, so bezaubernd und so sexy! Ich hab mich sofort in Ihr süßes Lächeln verknallt. Sie sprachen über mich! Das war einfach nur geil! Jeder Ihrer Atemzüge gehörte mir.“
“Und was wollen Sie jetzt?“
“Mich mit Ihnen treffen. Möglichst bald. Das geht natürlich nur uns was an. Bringen Sie eine Kamera mit, dann reden wir! Was meinen Sie?“
Sharon lehnte sich in ihrem Stuhl so weit wie möglich zurück und versuchte, sich auf die andere Seite ihres Verstandes zu konzentrieren - von dort schien diese unheimliche Stimme zu kommen. Es fiel ihr zunehmend schwerer, die düsteren Bilder zu verdrängen, die plötzlich ihre Gedanken verdunkelten.
"Was er wohl mit den Augen macht“, hatte ihre Assistentin Kira erst letzte Woche während einer Arbeitsbesprechung laut überlegt. „Vielleicht sammelt er sie in einem Einmachglas. Oder er isst sie. In Filmen machen die das doch so.“ Ja, in Filmen. Da würde spätestens jetzt bedrohliche Musik einsetzen, während das irre Flüstern des Anrufers immer tiefer in ihren Kopf kroch.
"Und was passiert nach dem Interview?", wollte Sharon wissen.
“Danach werde ich mich der Polizei stellen.“, versprach die Stimme. „Ich bin müde. Aber vorher will ich noch einigen Ihrer Zuschauer ... die Augen öffnen.“ Er lachte. „Und so ganz nebenbei helfe ich Ihnen, als Reporterin eine Legende zu werden.“
Sharon fragte sich, ob es erstrebenswert sein könnte, mit zweiunddreißig Jahren schon eine Legende zu werden. Aber unabhängig davon würde es unvermeidlich sein, sich mit diesem Mann zu treffen, ganz egal, wer und was er auch immer war. Selbst als harmloser Aufschneider konnte er für die Geschichte ein weiteres wichtiges Teilchen sein. Eine Story musste von Anfang bis Ende erzählt werden.
“Und Sie glauben, darauf lasse ich mich jetzt einfach so ein?“, fragte Sharon
Der Anrufer seufzte: “Ihren bisherigen Erfolg verdanken Sie hauptsächlich mir. So gesehen schulden Sie mir was.“
“Sorry, aber ich schulde Ihnen rein gar nichts!“
“Wir haben unseren Weg zusammen begonnen. Also sollten wir ihn auch zusammen beenden. Finden Sie das nicht?“
“Es klingt alles irgendwie falsch, was Sie sagen. Ich bin ja nicht zum Fernsehen gegangen, weil ich über Typen wie Sie berichten wollte.“
„Warum haben Sie dann so viel über mich berichtet?“
„Hab ich das?“
„Und ob! Sie haben mir so unglaublich viel Ihrer Zeit ge...“
„.. opfert?“
„Geschenkt! Aber immer fair! In Ihren Sendungen habe ich mich geborgen gefühlt.“
„Ich habe nur versucht, objektiv zu bleiben - obwohl ich Rosen hasse.“
„Ich werde daran denken, wenn wir uns treffen.“
„Wenn wir uns treffen!“
„Wir müssen uns treffen! Ohne Sie wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Und Ihre Karriere wäre ohne mich vielleicht gar nicht möglich gewesen.“
„So, das reicht jetzt!“
“Keinen Mut mehr für das große Finale? Nach all diesen einfühlsamen Sendungen über mich?“
Jetzt klang Sharons Lachen unecht. “Werden Sie jetzt nicht plump. Da bleibt ein großes Restrisiko für mich, finden Sie nicht?“
„Warum sollte der Künstler seine Muse vernichten? Nach unserem Treffen werde ich mein Schicksal akzeptieren, egal, was es für mich vorgesehen hat. Ich will endlich Frieden finden. Denken Sie darüber nach. Ich melde mich bald wieder.“ Die Stimme verstummte. Der Kontakt brach ab. Die letzten Worte hatten matt und kraftlos geklungen, wie bei einem Vampir, den das erste Tageslicht erreichte.
Auch Sharon fühlte sich erschöpft. Das Gespräch hatte ihre letzten Reserven aufgebraucht. Immerhin hatte der Anrufer es bis zum Schluss verstanden, sich Ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Doch wie sollte es jetzt weiter gehen? Angst verspürte sie nicht. Als Reporterin hatte sie häufig mit “Bestien“ zu tun gehabt. Die Abgründe im Menschen waren ihr vertrauter als es ihr lieb war. Berufsbedingt war sie sowieso in Bereiche vorgedrungen, die von der Hölle nicht mehr allzu weit weit entfernt sein konnten.
Der geheimnisvolle Anrufer meldete sich bereits wenige Tage später erneut. Wie schon beim ersten Gespräch klang seine Stimme merkwürdig angestrengt. Ansonsten machte er einen unverschämt selbstzufriedenen Eindruck. Zu diesem Zeitpunkt war Sharon längst entschlossen, sich auf das riskante Treffen mit ihm einzulassen. Eine Begegnung mit dem Mann, der behauptete, die Rosen-Bestie zu sein, war unvermeidlich geworden. Ort und Zeitpunkt des ungewöhnlichen “Rendezvous“ waren schnell geklärt. Beide sehnten jetzt offensichtlich den Augenblick ihres Zusammentreffens herbei.
“Angst?“, wollte der Anrufer abschließend wissen und es klang, als würde er dabei mit den Augen zwinkern.
“Und Sie?“, fragte Sharon zurück.
Er lachte. Es klang nicht mehr ganz so sicher.
Tatsächlich hatte die Reporterin sich niemandem anvertraut, bereitete sich statt dessen sehr gewissenhaft auf des bevorstehende Interview vor. Sie schöpfte sämtliche Möglichkeiten aus, auf dem Vorweg durch sorgsame Planung das eigene Risiko so weit wie möglich zu vermindern. Ihre Fähigkeit, strategisch zu denken, verhalf ihr zu einer tiefen inneren Ruhe. Es kam ja nur darauf an, durchgehend die Oberhand zu behalten, dann konnte ihr eigentlich nichts passieren. Es war nicht das erste gefährliche Treffen, auf das sie sich ohne Rückendeckung einließ. Sie war Alleingänge seit frühester Jugend gewohnt.
“Wie sucht er seine Opfer aus?“, hatte sie in einer ihrer Sendungen mal einen Profiler gefragt. Wichtig war vor allen Dingen, ob sich ein Muster erkennen ließ.
“Es gibt meistens eins“, hatte der Fachmann für Serienmörder nachdenklich geantwortet. “Auch wenn die Morde bei oberflächlicher Betrachtung eher willkürlich wirken. Aber ich glaube nicht, dass da einer herumläuft, und ungeplant zuschlägt. Ich meine, wir haben es mit einem Täuscher zu tun, der seine Opfer mit großem Geschick in ausgeklügelte Fallen lockt.“
Als Sharon spät in der Nacht den Glaspalast des Fernsehsenders verließ, um zu dem vereinbarten Treffpunkt zu fahren, war sie perfekt vorbereitet. Jegliche Zweifel an ihrem waghalsigen Plan waren verflogen. Sie fragte sich auch nicht mehr, ob sie mit ihrem klugen Kopf am Ende vielleicht doch blindlings in ihr Unglück rannte. Mit derselben Entschlossenheit, die sie in ihrem Wagen mit quietschenden Reifen aus der Tiefgarage führte, ließ sie auch die letzten Reste von Unsicherheit und Angst hinter sich zurück.
Auf der Fahrt durch ruhiger gewordenen Straßen erinnerte sie sich an Neil. Es war noch nicht so lange her, seit sie sich getrennt und den längst fälligen Schlussstrich unter ihre gescheiterte Beziehung gezogen hatten; eine Affäre, die mit einem sexuellen Rausch begonnen hatte, aber auf den anderen zwischenmenschlichen Ebenen bedrückend schnell gescheitert war. Jetzt kamen ihr erneut seine zornigen Abschiedsworte in den Sinn, mit denen er ihr die alleinige Schuld am Ende ihrer Beziehung zu geben versucht hatte. Wütend hatte er ihre Karriere verflucht, ihren krankhaften Ehrgeiz und ihren Egoismus. Sein Vorwurf, dass sie für das Erreichen ihrer Ziele selbst zu einer Art von Bestie zu verkommen drohte, hatte sie eher belustigt. Aus seinem Mund klang das geradezu absurd! Die Trennung von ihm war eine Erlösung gewesen, und einige obszöne Beschimpfungen auf ihrem Anrufbeantworter blieben seine letzten Spuren in ihrem Leben.
Die alte Villa, in der sie sich mit dem geheimnisvollen Anrufer verabredet hatte, lag am Rande der Stadt und stand seit Jahren leer – ein marodes Gebäude mit einer traurigen Historie über ein weiteres Kapitel unkontrollierbarer Gewalt. Vor sieben Jahren hatte dort ein Unternehmer aus heiterem Himmel erst seine Frau und dann seine drei Kinder mit einer Axt zerstückelt. Danach war er einfach verschwunden und bis heute wusste keiner, wo er geblieben war. Es hatte nicht einen brauchbaren Hinweis darauf gegeben, welchen Grund er für seinen blutigen Amoklauf gehabt haben mochte. Schon damals war Sharon am Tatort gewesen, um eine ihrer ersten Reportagen zu machen. Ein befreundeter Beamter der Mordkommission hatte ihr – wenn auch ein wenig widerwillig - die direkte Begegnung mit dem Grauen ermöglicht. Beim Anblick des Blutbades hatte sich manchem gestandenen Polizisten der Magen umgedreht. Sharon aber hatte unbeirrt durchgehalten. Trotz der entsetzlichen Bilder hatte sie sich keine Schwäche erlaubt, bis alles im Kasten war. Diszipliniert hatte sie den ersten Schock überwunden, um eine sachliche und nüchterne Bestandsaufnahme des Geschehens zu machen – und hatte auf diese Weise ihre Bosse zum ersten Mal beeindruckt. So wurde "Die Kramer" zum Mädchen für die ganz harten Fälle ...
Nach dieser Tragödie hatten sich für die Villa keine Interessenten mehr finden lassen. Seit dem verrottete sie unbeachtet und fast vergessen vor sich hin - als Mahnmal des täglichen Wahnsinns. Heute aber kehrte Sharon Kramer an diesen düsteren Meilenstein ihrer Karriere zurück. Während sie den Wagen parkte, verspürte sie eine leichte Anspannung in sich aufsteigen. Sie wartete einige Minuten, bevor sie möglichst geräuschlos ausstieg und benutzte eine Stabtaschenlampe, um sich in der Finsternis zurechtzufinden. Das düstere Haus schien auf sie gewartet zu haben, als wäre ihre Rückkehr an diesen Ort unvermeidlich gewesen. Welcher Kreis schloss sich hier? Die Reporterin knöpfte fröstelnd ihre Jacke zu und schlug den Kragen hoch, um sich vor dem aufdringlichen Wind zu schützen. Sie schulterte die Kameratasche und verschloss behutsam die Wagentür. Wachsam lauschend bahnte sie sich möglichst geräuschlos ihren Weg durch den verwilderten Garten. Dabei versuchte sie, sich an die Aufteilung des Hauses zu erinnern, das sie schon einmal unter ähnlich unangenehmen Umständen betreten hatte. Der Revolver, der in ihrem Hosenbund steckte, behinderte sie kaum beim Laufen, und der harte Druck gegen ihren Körper vermittelte ihr ein erregendes Gefühl von Überlegenheit. Die Waffe zählte zu den Eckpfeilern ihrer Vorbereitungen. Sie hatte alles dabei, was sie für das Treffen benötigte. So war sie nicht leicht zu überraschen, ganz egal, mit wem sie es zu tun bekäme. Trotzdem blieb sie hoch konzentriert und aufmerksam, mit allen Sinnen darauf ausgerichtet, im Notfall sofort flüchten zu können – oder zu schießen.
Die breite Eingangstür der Villa stand halb offen. Sharon tastete ein letztes Mal prüfend nach ihrem Revolver, bevor sie das Haus betrat. Dank Neils ausgeprägter Vorliebe für Waffen, die sich schon oft ausgezahlt hatte, verstand sie es, mit dem Revolver schnell und geschickt umzugehen. Das machte sie mutig und stark. Etwas orientierungslos ließ sie den Lichtstrahl der Taschenlampe durch das Innere der Eingangshalle tanzen. Es stank nach Urin und Erbrochenem. Der Boden war übersät mit Unrat. Das Licht hüpfte hin und her und zeigte ihr kleine Ausschnitte, die sich in ihrer Erinnerung nur langsam zu einem vollständigen Bild zusammenfügen ließen. Ihr Instinkt war in höchster Alarmbereitschaft, signalisierte ihr eindringlich, dass sie nicht allein war. Ein scharrendes Geräusch drang an ihr Ohr. Sie reagierte sofort mit der Taschenlampe und fing auf dem oberen Teil der Treppe herabsteigende Turnschuhe ein. Schnell zeichnete der Lichtstrahl die Umrisse eines Mannes nach, der mit demonstrativ erhobenen Händen und betont langsam nach unten kam. Sharon blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen. In der gleichen Sekunde zog sie den schweren Revolver und spannte geübt den Hahn. Der Fremde schien nicht besonders überrascht zu sein, als er das verräterische Klicken vernahm. Oder aber, er wollte sich sein Erstaunen nicht anmerken lassen.
“Ich habe eine Waffe dabei“, klärte ihn Sharon vorsichtshalber auf. „Die richte ich jetzt gerade auf Sie. Nur, dass Sie jetzt nichts Unüberlegtes tun.“
Er lachte belustigt. “Ich habe mich doch längst ergeben. War das nicht schon zwischen uns geklärt?“
Sie wartete ab, bis er die unterste Stufe der Treppe erreicht hatte. Dann warnte sie ihn mit scharfer Stimme: “Das ist weit genug!“
Er blieb gehorsam stehen und behielt friedfertig die Hände oben. “Also doch Angst.“ Er schien über ihre Vorsichtsmaßnahmen fast ein wenig enttäuscht zu sein.
Sharon blieb kühl. “Sie sollten sich da vielleicht mehr Sorgen machen als ich.“
“Meinen Sie im Ernst, ich komme hier locker die Treppe runter, wenn ich Ihnen eine Falle stellen wollte?“
Sie musterte das Gesicht des Mannes. Er blinzelte mühsam gegen das Licht der Taschenlampe an. Es war ein Allerweltsgesicht, wirkte ein wenig blass und müde. Der Mann trug sportliche Kleidung und machte einen gepflegten Eindruck. Am liebsten hätte sie laut losgelacht. Der wollte die Rosen-Bestie sein? Ausgerechnet der? Sie entspannte sich. Das war kein gefährlicher Irrer, sondern ein harmloser Aufschneider!
“Wer sind Sie?“ Sie senkte die Taschenlampe ein wenig.
“Kann ich wenigstens die Hände runternehmen?“, schlug er vor. "Ich komme mir irgendwie blöd vor."
“Augenblick noch!“ Sharon zerrte aus ihrer Jackentasche Handschellen hervor - ebenfalls ein markantes Andenken an die Zeit mit Neil. Zielsicher warf sie dem abwartend dastehenden Mann die Handschellen direkt vor die Füße. Sie prallten scheppernd gegen seine Schuhspitzen.
Er war irritiert. “Was soll das jetzt?“
“Meine Lebensversicherung.“
“Soll das ein Witz sein?“
"Nur so funktioniert das mit uns beiden.“
“Und wenn ich das nicht will?“
Sie ließ den Lichtkegel der Taschenlampe unmissverständlich zwischen seine Beine wandern. “Auf diese Stelle ziele ich gerade. Ich schieße übrigens sehr gut. Und es lässt sich immer wie Notwehr darstellen.“
Seufzend bückte er sich nach den Handschellen, hob sie auf, betrachtete sie unwillig und klimperte spielerisch damit herum. “Das nenne ich mal eine echt professionelle Vorbereitung.“
“Das ist meine Art zu arbeiten. Was haben Sie erwartet? Dass ich mich auf Ihr Ehrenwort verlasse?“
“Sie müssen mich ja nicht gleich in Eisen zu legen.“
“Bitte!“, drängte Sharon. “Die Waffe ist entsichert. Ich weiß nicht, wie lange ich den Finger noch ruhig halten kann.“
Da bewegte er sich plötzlich sehr schnell. “Nur keine Panik. Eigentlich wollte ich ja schon immer mal wissen, wie das ist, diese Dinger zu tragen.“
Sharon beleuchtete seine Hände. “Ketten Sie sich ans Treppengeländer. Ich will genau sehen was Sie machen. Seien Sie vorsichtig. Ich bin gerade schrecklich nervös.“
Beflissen folgte er ihren klaren Anweisungen, und erst als sie sicher sein konnte, dass er die Handschellen geschlossen und sich fest an das Geländer gekettet hatte, näherte sie sich ihm wie eine sprungbereite Katze, die Waffe weiterhin im Anschlag. Ohne erkennbare Regung zu zeigen, ließ der Mann diese letzte Prüfung über sich ergehen. Als die Reporterin mit allem zufrieden war, sicherte sie den Revolver und ließ ihn in ihrer Jackenasche verschwinden. “So ist es viel besser“, sagte sie erleichtert. Bisher hatte alles reibungslos geklappt. Fast schon zu reibungslos. Sie blickte sich um. Lauschte. Traute dem Frieden noch nicht.
“Die Bestie in Ketten!“ Der Mann zerrte ärgerlich an den Handschellen. “Ist das der Titel für die Sendung morgen. Das ist unwürdig.“
“Über Würde sprechen wir noch“, entgegnete Sharon. “Wie heißen Sie eigentlich?“
“Ist das jetzt so wichtig?“
“Soll ich Sie die ganze Zeit als 'Bestie' anreden?“
“Louis.“
“Und weiter?“
Er schnaufte. “Verdammt, das nervt! Was soll die Fragerei?“
“Das ist mein Job. Schon vergessen?“
“Brodie. Louis Brodie.“
“Okay, Louis Brodie. Dann lassen Sie uns reden.“
“Ich habe mir das etwas anders vorgestellt“, beschwerte er sich. “Aber das ist jetzt auch egal. Alles ist egal. Sie wollen eine aufregende Beichte hören? Also bitte, ich gestehe alles. Hoffentlich wird es keine Enttäuschung werden. Aus dem großen Spektakel wird nämlich nichts. Ich, Louis Brodie, bin ein arbeitsloser Theaterschauspieler. Ich schlage mich zur Zeit hauptsächlich mit Nebenrollen in Pornofilmen durch. Das ist dann aber auch schon der schwärzeste Punkt in meiner Laufbahn. Mein Problem sind allein Sie. Ich bin verrückt nach Ihnen. Wenn ich Sie Tag für Tag im Fernsehen sehe, kann an nichts anderes mehr denken. Ich musste Sie einfach treffen! Und dann hatte ich diese Idee und wusste, dass es so klappen könnte. Wie sonst soll jemand wie ich an jemanden wie Sie herankommen? Na ja, es hat ja auch funktioniert, wie man sieht. Sie müssen zugeben, dass ich in der Rolle der reumütigen Bestie sehr überzeugend war. Sonst wären Sie wohl nicht hier. Das Dumme ist nur, dass ich kein Mörder bin. Es tut mir sehr leid, Sie getäuscht zu haben. Hoffentlich können Sie mir noch mal verzeihen. Vielleicht darf ich Sie zum Essen einladen? Als Wiedergutmachung, gewissermaßen. Wo Sie wollen und wann Sie wollen. Hätten Sie jetzt die Güte, mich zu befreien?“
Sharon lächelte. „Da bin ich also glatt auf Sie reingefallen. Und jetzt soll ich Sie schnell freilassen,damit wir unser nächstes Rendezvous besprechen können. Haben Sie sich das in etwa so vorgestellt?“
“Es wäre zumindest echt nett, wenn Sie erst mal die Dinger aufschließen. Das ist ein blödes Gefühl, hier angekettet zu sein. Herrgott, ich bin kein verdammter Mörder. Ich wollte doch nur ein Mal nur in Ihrer Nähe sein. Dafür hätte ich alles gegeben.“
„Auch Ihre Augen?“ Sharon lächelte noch immer.
„Sie haben einen echt schrägen Humor“, entgegnete er.
“Das sagen meine Kollegen auch immer.“ Sharon suchte nach dem Schlüssel für die Handschellen. „ Wirklich schade. Die Sache hatte gerade angefangen, interessant zu werden. Und nun entpuppt sich der Mörder als kleiner, mieser Stalker. Ich überlege gerade, in welcher Rolle Sie mir besser gefallen.““
Brodie lachte hysterisch. “Jetzt sagen Sie bloß noch, dass Sie mich für einen Psychopathen halten. Was muss ich tun, damit Sie mir glauben?“
“Bisher habe ich Ihnen ja wohl alles geglaubt. Ich bin hier, oder etwa nicht? Und ohne Polizei, ganz so, wie Sie es wollten.“
“Aber ich bin nicht die Bestie!“ beteuerte er hitzig. „Ich habe ja nicht mal Rosen dabei.“
Sharon hob beschwichtigend die Hände. “Schon gut, schon gut. Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen. Dass Sie nicht ..., ich meine, dass an Ihrer Geschichte was faul ist, wusste ich von Anfang an. Ich wollte eigentlich nur noch herauszufinden, wer Sie in Wirklichkeit sind. Und was für ein billiges Spielchen Sie mit mir treiben.“
“Ich war perfekt in meiner Rolle", entgegnete Brodie beleidigt. "Was bitte soll an meiner Geschichte faul gewesen sein? Und was meinen Sie mit billig?"
Sharon hielt den Schlüssel für die Handschellen bereits in ihrer Hand und bewegte sich langsam auf den Mann zu. “Also, das war's dann?“, fragte sie mit einem leichten Bedauern in der Stimme.
“Tja, so sieht es aus", sagte er und grinste. "Jetzt bereue ich es fast, nicht die Bestie zu sein. Dann wäre ich für Sie bestimmt interessanter gewesen.“
“Dafür können Sie Ihren Saufkumpanen, mit denen Sie gewettet haben, eine tolle Geschichte erzählen“, tröstete ihn Sharon. „Die warten sicherlich schon ungeduldig in irgendeiner Kneipe auf Sie.“ Sie klimperte verlockend mit dem Schlüssel. „Da hätte ich eigentlich Lust, Sie als Strafe noch ein Weilchen schmoren zu lassen.“
“Oh, nein!“ Er schüttelte entschieden den Kopf. “Denken Sie, ich mach mich zum Idioten? Niemand weiß natürlich von unserem Treffen. Ich hatte doch nur gehofft, dass Sie und ich … ach, was weiß ich. Blöde Idee!“
Sie hatte ihn erreicht. Er hielt ihr erleichtert die Hände entgegen, damit sie besser an die Handschellen kommen konnte. Sie blieb stehen, verharrte in der Bewegung, legte den Kopf schief und musterte Brodie. “Wissen Sie, was mich an dieser ganzen Geschichte wundert?"
Er zerrte ungeduldig an der Kette. "Nee. Aber Sie könnten mich erst einmal befreien, bevor wir uns weiter darüber unterhalten."
Sie trat näher, leuchtete ihm direkt ins Gesicht. Er wich überrascht zurück, soweit die Handschellen es zuließen. Sharon warf die Schlüssel für die Handschellen achtlos hinter sich und lächelte: “Der Mörder. Der Täter. Der Killer." Sie unterdrückte mühsame ein Kichern. "Seit so vielen Jahren suchen sie nach einem Mann. Verstehst du das, Louis? Was macht sie bloß so verdammt sicher?“