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Remscheid über Oberbarmen

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15.04.2002
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Remscheid über Oberbarmen

Die Alien-Invasion hat begonnen. Und zwar über Wuppertal. Es ist unklar, ob das mit den dort zusammengezogenen Kräften der deutschen Science Fiction-Szene zusammenhängt (diese Besserwisser!) oder weil die Stadt so schön länglich ist. Die Alien-Kampfschiffe gehen nämlich über Schwelm in den Sinkflug über, drücken über Langerfeld auf den Feuerknopf und fliegen einfach geradeaus, bis sie kurz hinter Vohwinkel ihr Knöpfchen wieder loslassen und abdrehen.
Der größte Teil Wuppertals schaut verwirrt aus der Wäsche und sucht erfolglos die Luftschutzbunker. Widerstand leistet nur das schwere Schlachtraumschiff REMSCHEID unter dem Kommando von Kapitän Stefan Steffens, dessen Eltern einen feineren Sinn für Humor hatten als die Aliens, die Wuppertal dem Erdboden gleichmachen wollen. Oder zumindest die Schwebebahn, auf die sie nach eigener Aussage ein Copyright haben. Das Raumschiff schwebt über Oberbarmen und feuert auf die Angreifer. Dann stellt es den Beschuss plötzlich ein.
»Der Beschuss wurde eingestellt«, sagt der Bordcomputer.
Kapitän Steffens umklammert die Armlehnen seines Kapitänssessels wie Bänker ihre Boni. »Was soll das heißen? Los! Weiter feuern!«
»Das geht leider nicht«, sagt der Bordcomputer, und: »Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 85 Prozent.«
Der Kapitän verschluckt versehentlich seinen Kaugummi Geschmacksrichtung Pommes Schranke. »Ich will eine Erklärung!«
Freundlich klingt die Stimme des Bordcomputers, als er sagt: »Ich kann keine Dateien für die Berechnung von Zielkoordinaten anlegen.«
Steffens würgt um ein Haar seinen Kaugummi wieder hoch. »Und warum nicht?«
»Ich kann überhaupt keine Dateien mehr anlegen. Anscheinend sind meine Festplatten voll.«
»Wie bitte?«
»Meine Festplatten sind voll.«
»Aber wieso...« Kapitän Steffens schaut Hilfe suchend zu seiner Kaffeetasse, aber die vibriert nicht mehr, seit die REMSCHEID den Beschuss eingestellt hat.
»Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 77 Prozent«, sagt der Bordcomputer.
»Verdammt, Computer, dann lösch ein paar Dateien!«
»Bitte spezifizieren.«
»Die größten zuerst!« Der Kapitän zögert. »Warte. Was für Dateien sind denn die größten? Wir sollten nichts wichtiges löschen, wie die ... Lebenserhaltungssystem-Software.«
»Die umfasst nur 32 KByte«, erklärt der Bordcomputer. »Die größten Dateien sind Videos.«
»Videos? Was für Videos? Spielfilme zur Aufrechterhaltung der Moral an Bord? Stirb Langsam 6 oder sowas?« Kapitän Steffens merkt, dass sein schweißnasser Hintern auf dem Kunstleder seines Sessels festklebt.
»Es handelt sich um Videos, die Soldaten selbst aufgenommen haben.«
Steffens kriegt einen nasskalten Popo. »Abspielen!«
»Bitte spezifizieren. Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 71 Prozent.«
»Das größte!«
Auf dem Hauptbildschirm erscheint das Gesicht eines Soldaten, der traurig aus der Wäsche und in die Kamera schaut. Steffens kennt den Mann nicht, seine Abzeichen weisen ihn als einfachen Gefreiten aus.
»Heute ist wieder so ein Tag«, sagt der Gefreite und zieht in aller Ruhe Schnodder hoch. »Der Dienst ist soo langweilig, Mama. Immer nur Drill, Raucherpause, Drill, Raucherpause, Drill. Dabei rauche ich doch gar nicht.« Der Soldat schraubt sich den Finger ins linke Ohr und pult irgendwas heraus. »Und heute bin ich auf dem Gang dem Kapitän begegnet, aber er hat mich wieder nicht erkannt, und ich habe mich nicht getraut, ihn darauf anzusprechen, ob er was dagegen hat, dass ich nicht rauche.«
»Das nächste«, schreit der Kapitän.
Auf dem Bildschirm erscheint Obergefreite Lena ... der Nachname fällt dem Kapitän im Moment nicht ein, aber er liegt ihm auf der Zunge ... Lena zieht sich gerade das Oberteil aus. Diesen Schritt und ein paar weitere hat ihr Kamerad schon hinter sich. Seine haarige Brust wird von der Soldatin aufreizend bekuschelt. Die Obergefreite begibt sich auf Tauchstation, und ihr Opfer fängt an, übertrieben in die Kamera zu stöhnen.
Erst beim dritten »Oh ja« gelingt es dem Kapitän, den Blick abzuwenden, den offenstehenden Mund zu schließen und »löschäääään!« zu kreischen.
»Es ist nicht zu fassen«, haucht er, »meine Mannschaft vergeudet den Speicherplatz mit weinerlichen Videologs und selbstgedrehten Pornos.«
»Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 65 Prozent«, sagt der Bordcomputer. »Leider kann ich die Videos nicht löschen. Es handelt sich um private Daten. Unsere Datenschutzbestimmungen verbieten es, solche Daten ungefragt zu entfernen.«
Der Kapitän tastet fahrig nach der Kaugummipackung in seiner Hosentasche, findet aber nur... seinen uralten, abgegriffenen mp3-Player. Er hält ihn sich vors Gesicht, als würde er ernsthaft erwägen, auf ihm herumzukauen.
»128 Gigabytes Kuschelrock ...«, murmelt der Kapitän, dann fragt er laut. »Würden 128 Gig erstmal reichen?«
»Ja, für genau 65536 Laser-Salven«, bestätigt der Bordcomputer.
Der Kapitän schluchzt. »So viele Erinnerungen ... und vielleicht sehe ich meine CD-Sammlung nie wieder, um eine neue Kopie zu machen ... was, wenn wir durch den Hyperraum fliehen müssen, wir unterwegs auf einem einsamen Regenplaneten namens Vilm stranden und ich nicht einmal Kuschelrock hören kann?«
»Strukturelle Integrität ...«
»Schon gut!«, kreischt der Kapitän. »Ich gebe ja schon alles auf, was mir etwas bedeutet! Meine Erinnerungen! Meine Gefühle! Meine Freddie-Mercury-Sammlung!« Er stöpselt seinen mp3-Player ans Adapterkabel. »Hier, Computer, nimm dies! Leere diesen Speicher, auf dass mein Opfer die Erde rettet!«
»Erstmal nur Wuppertal«, sagt der Bordcomputer. »Befehl ausgeführt. 25.000 größtenteils peinliche Lieder gelöscht.« Im gleichen Moment vibriert wieder der Kaffee in der Kapitänstasse, die REMSCHEID erwidert das Feuer.
Der Kapitän schluchzt und wünscht sich, wenigstens ein oder zwei Lieder behalten zu haben. Er würde jetzt so gerne »Show must go on« hören. Oder wenigstens »Another one bites the dust«. »Aber wenn man etwas erreichen will im Leben, muss man eben alles geben.«
Und während irgendwo in einem kleinen Lokal in Elberfeld die Elite der deutschen Science-Fiction-Autoren ein letztes Mal Geschichten vorliest ... über viele schlimme und wenige goldene Zukünfte, über Babes im Cyberspace, oder über Freddie Mercuries geheimes Konzert auf Tau Ceti IV, beginnen die Angreifer ihre letzte, vernichtende Attacke.

 

Hinweis: Es handelt sich hierbei um einen Text, den ich bei einem SF-Poetry-Slam vorgetragen habe, und der nicht besonders gut ankam. Ich möchte wissen, ob er wirklich nicht witzig ist, der Vortragende einen schlechten Tag hatte oder doch das Publikum ;)

 

Hallo Uwe,

manche Autoren leben in ständiger Versuchung, schnell ein paar Scherze hinzuwerfen. Wenn es klappt, fühlt man sich als toller Kerl und Liebling sämtlicher Musen. Wenn es nicht klappt, liegt es eben am Publikum, an den Lesern, am unterschiedlichen Humorverständnis. Möglicherweise ist das ein Weg, sich gegen Kritik zu immunisieren - mit dem skurrilen Spaß als letztes Sicherheitsnetz.

Meiner Meinung nach verschwenden manche Autoren ihr Talent damit, dauernd lustig sein zu wollen. In dieser Geschichte überdeckt das ein paar originelle Einfälle, etwa die The-Office-mäßigen Videos der Mannschaft oder den Countdown, dass dieses Schwebebahngerüst immer schwächer wird.

Von mir aus können die Außerirdischen sämtliche Witzbolde abknallen!
Ich finde allerdings auch Terry Pratchett und Douglas Adams doof.

Also in meinem Fall: Einer mehr, der lieber sieht, wenn der Autor seine Intelligenz und Erfahrung einsetzt, um über etwas zu schreiben, worüber er wirklich etwas zu sagen hat. ;)

Freundliche Grüße vom

Berg

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Uwe,

ich fuehlte mich von diesem Text angesprochen, weil ich nunmal gerade in Wuppertal hocke. Dass wir uns ausgerechnet von Remscheid retten lassen muessen, bitter.
Grundsaetzlich ist es natuerlich so, dass Texte, die auf den schnellen Gag hin geschrieben wurden und sich darin auch erschoepfen, im Zweifel wohl bei einer Lesung besser ankommen als hier im Leseforum - siehe Berg, der auch ein paar wahre Dinge sagt.
Ein paar Gags kamen bei mir schon an. Besonders mochte ich die Nachricht an Mutti und das mit der Raucherpause. Insgesamt ist das Witzgeballer allerdings schon etwas unkoordiniert, oder halt so schrotflintenmaessig - einfach so viel wie moeglich rausballern, ein paar Kuegelchen werden schon treffen. Ich schaetze mal, Du hast den Text in Wuppertal vorgelesen. Da haettest Du m.E. noch etwas mehr Lokalkolorit reinbringen koennen als die Schwebebahn. Wir haben auch 1000 tolle Treppen, 365 Tage im Jahr Regen und einen Spazierweg, der durchs Tigergehege fuehrt.
Oder hier zum Beispiel:

Der Kapitän verschluckt versehentlich seinen Kaugummi Geschmacksrichtung Pommes Schranke.
Voellig verschenkt. Das ist doch Ruhrpott. Hier haben wir Kaugummi Bergischekaffeetafel (mit Waffeln, Kirschen, Schwarzbrot und Milchreis).

Also ich fand den Text jetzt nicht doof und einige Gags haben auch gezuendet, aber viele eben auch nicht. Und insgesamt bleibt halt wenig zurueck. Aber ich schaetze mal, Du hast es ohnehin nur als leichtes Unterhaltungsstueck gedacht - in der Hinsicht denke ich, koennte man den U-Faktor durch Regionalitaet noch boosten.

lg,
fiz

P.S.: Vergass zu sagen, wo es fuer mich nicht hinhaut. Hier zum Beispiel:

Kapitän Steffens umklammert die Armlehnen seines Kapitänssessels wie Bänker ihre Boni.
Das find ich erstens nicht lustig und zweitens steht es so willkuerlich da rum, hat von der Bildlichkeit gar keinen Bezug zum Text.

Stefan Steffens, dessen Eltern einen feineren Sinn für Humor hatten als die Aliens
Ist der Witz hier, dass er Stefan Steffens heisst? Das ist doch wirklich nicht sehr lustig, oder findest Du?

 

@Berg: Ich hoffe doch sehr, Du hast den Smiley nicht übersehen. Das Publikum ist selbstverständlich NIE schuld, wenn eine Story nicht die gewünschte Wirkung entfaltet, sondern der Autor oder der Vortragsstil. Wobei es im aktuellen Fall durchaus so war, dass sogar die beteiligten Profi-Slammer meinsten, das Publikum sei etwas... müde.

@fiz, für Deine konkreten Anmerkungen danke ich Dir! Das sind wirklich ein paar sehr hilfreiche Feststellungen.

 

Ich kenne den Text ja vorgetragen und hatte beim Lesen gleich wieder Uwes Stimme im Kopf. Aber woran liegt es nun, dass das Ding nicht zündet?
Kurze Vermutung: Es hat ein paar Brennstufen zu wenig. Humor funktioniert manchmal so, dass man denkt, man weiß, wie der Hase läuft, und dann legt das Vieh noch ein paar Scheite nach und schaltet den Nachbrenner ein. Dieser Text aber hat nur eine Stufe, keine Steigerung, keine weiteren Hindernisse, keine Meta-Katatrophen.

Ausbauen oder abreißen!

Wreck-O-Naut

 

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