Remscheid über Oberbarmen
Die Alien-Invasion hat begonnen. Und zwar über Wuppertal. Es ist unklar, ob das mit den dort zusammengezogenen Kräften der deutschen Science Fiction-Szene zusammenhängt (diese Besserwisser!) oder weil die Stadt so schön länglich ist. Die Alien-Kampfschiffe gehen nämlich über Schwelm in den Sinkflug über, drücken über Langerfeld auf den Feuerknopf und fliegen einfach geradeaus, bis sie kurz hinter Vohwinkel ihr Knöpfchen wieder loslassen und abdrehen.
Der größte Teil Wuppertals schaut verwirrt aus der Wäsche und sucht erfolglos die Luftschutzbunker. Widerstand leistet nur das schwere Schlachtraumschiff REMSCHEID unter dem Kommando von Kapitän Stefan Steffens, dessen Eltern einen feineren Sinn für Humor hatten als die Aliens, die Wuppertal dem Erdboden gleichmachen wollen. Oder zumindest die Schwebebahn, auf die sie nach eigener Aussage ein Copyright haben. Das Raumschiff schwebt über Oberbarmen und feuert auf die Angreifer. Dann stellt es den Beschuss plötzlich ein.
»Der Beschuss wurde eingestellt«, sagt der Bordcomputer.
Kapitän Steffens umklammert die Armlehnen seines Kapitänssessels wie Bänker ihre Boni. »Was soll das heißen? Los! Weiter feuern!«
»Das geht leider nicht«, sagt der Bordcomputer, und: »Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 85 Prozent.«
Der Kapitän verschluckt versehentlich seinen Kaugummi Geschmacksrichtung Pommes Schranke. »Ich will eine Erklärung!«
Freundlich klingt die Stimme des Bordcomputers, als er sagt: »Ich kann keine Dateien für die Berechnung von Zielkoordinaten anlegen.«
Steffens würgt um ein Haar seinen Kaugummi wieder hoch. »Und warum nicht?«
»Ich kann überhaupt keine Dateien mehr anlegen. Anscheinend sind meine Festplatten voll.«
»Wie bitte?«
»Meine Festplatten sind voll.«
»Aber wieso...« Kapitän Steffens schaut Hilfe suchend zu seiner Kaffeetasse, aber die vibriert nicht mehr, seit die REMSCHEID den Beschuss eingestellt hat.
»Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 77 Prozent«, sagt der Bordcomputer.
»Verdammt, Computer, dann lösch ein paar Dateien!«
»Bitte spezifizieren.«
»Die größten zuerst!« Der Kapitän zögert. »Warte. Was für Dateien sind denn die größten? Wir sollten nichts wichtiges löschen, wie die ... Lebenserhaltungssystem-Software.«
»Die umfasst nur 32 KByte«, erklärt der Bordcomputer. »Die größten Dateien sind Videos.«
»Videos? Was für Videos? Spielfilme zur Aufrechterhaltung der Moral an Bord? Stirb Langsam 6 oder sowas?« Kapitän Steffens merkt, dass sein schweißnasser Hintern auf dem Kunstleder seines Sessels festklebt.
»Es handelt sich um Videos, die Soldaten selbst aufgenommen haben.«
Steffens kriegt einen nasskalten Popo. »Abspielen!«
»Bitte spezifizieren. Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 71 Prozent.«
»Das größte!«
Auf dem Hauptbildschirm erscheint das Gesicht eines Soldaten, der traurig aus der Wäsche und in die Kamera schaut. Steffens kennt den Mann nicht, seine Abzeichen weisen ihn als einfachen Gefreiten aus.
»Heute ist wieder so ein Tag«, sagt der Gefreite und zieht in aller Ruhe Schnodder hoch. »Der Dienst ist soo langweilig, Mama. Immer nur Drill, Raucherpause, Drill, Raucherpause, Drill. Dabei rauche ich doch gar nicht.« Der Soldat schraubt sich den Finger ins linke Ohr und pult irgendwas heraus. »Und heute bin ich auf dem Gang dem Kapitän begegnet, aber er hat mich wieder nicht erkannt, und ich habe mich nicht getraut, ihn darauf anzusprechen, ob er was dagegen hat, dass ich nicht rauche.«
»Das nächste«, schreit der Kapitän.
Auf dem Bildschirm erscheint Obergefreite Lena ... der Nachname fällt dem Kapitän im Moment nicht ein, aber er liegt ihm auf der Zunge ... Lena zieht sich gerade das Oberteil aus. Diesen Schritt und ein paar weitere hat ihr Kamerad schon hinter sich. Seine haarige Brust wird von der Soldatin aufreizend bekuschelt. Die Obergefreite begibt sich auf Tauchstation, und ihr Opfer fängt an, übertrieben in die Kamera zu stöhnen.
Erst beim dritten »Oh ja« gelingt es dem Kapitän, den Blick abzuwenden, den offenstehenden Mund zu schließen und »löschäääään!« zu kreischen.
»Es ist nicht zu fassen«, haucht er, »meine Mannschaft vergeudet den Speicherplatz mit weinerlichen Videologs und selbstgedrehten Pornos.«
»Strukturelle Integrität des Schwebebahngerüstes bei 65 Prozent«, sagt der Bordcomputer. »Leider kann ich die Videos nicht löschen. Es handelt sich um private Daten. Unsere Datenschutzbestimmungen verbieten es, solche Daten ungefragt zu entfernen.«
Der Kapitän tastet fahrig nach der Kaugummipackung in seiner Hosentasche, findet aber nur... seinen uralten, abgegriffenen mp3-Player. Er hält ihn sich vors Gesicht, als würde er ernsthaft erwägen, auf ihm herumzukauen.
»128 Gigabytes Kuschelrock ...«, murmelt der Kapitän, dann fragt er laut. »Würden 128 Gig erstmal reichen?«
»Ja, für genau 65536 Laser-Salven«, bestätigt der Bordcomputer.
Der Kapitän schluchzt. »So viele Erinnerungen ... und vielleicht sehe ich meine CD-Sammlung nie wieder, um eine neue Kopie zu machen ... was, wenn wir durch den Hyperraum fliehen müssen, wir unterwegs auf einem einsamen Regenplaneten namens Vilm stranden und ich nicht einmal Kuschelrock hören kann?«
»Strukturelle Integrität ...«
»Schon gut!«, kreischt der Kapitän. »Ich gebe ja schon alles auf, was mir etwas bedeutet! Meine Erinnerungen! Meine Gefühle! Meine Freddie-Mercury-Sammlung!« Er stöpselt seinen mp3-Player ans Adapterkabel. »Hier, Computer, nimm dies! Leere diesen Speicher, auf dass mein Opfer die Erde rettet!«
»Erstmal nur Wuppertal«, sagt der Bordcomputer. »Befehl ausgeführt. 25.000 größtenteils peinliche Lieder gelöscht.« Im gleichen Moment vibriert wieder der Kaffee in der Kapitänstasse, die REMSCHEID erwidert das Feuer.
Der Kapitän schluchzt und wünscht sich, wenigstens ein oder zwei Lieder behalten zu haben. Er würde jetzt so gerne »Show must go on« hören. Oder wenigstens »Another one bites the dust«. »Aber wenn man etwas erreichen will im Leben, muss man eben alles geben.«
Und während irgendwo in einem kleinen Lokal in Elberfeld die Elite der deutschen Science-Fiction-Autoren ein letztes Mal Geschichten vorliest ... über viele schlimme und wenige goldene Zukünfte, über Babes im Cyberspace, oder über Freddie Mercuries geheimes Konzert auf Tau Ceti IV, beginnen die Angreifer ihre letzte, vernichtende Attacke.