Reise in die Vergangenheit
Unser bequemer Reisebus fährt über die sehr schlaglochreichen Straßen in Polen. Wir sind schon über eine Woche unterwegs und haben uns langsam daran gewöhnt.
Der größte Teil unserer Reise liegt also bereits hinter uns. Heute fahren wir noch bis nach Posen, und morgen geht es wieder nach Hause.
Angefangen hat die Rundreise in Stettin. Dann sind wir nach Danzig gefahren, wir haben uns die Marienburg angesehen und natürlich auch die bekannte Westerplatte. Wir haben auch noch einen Abstecher zur masurischen Seenplatte gemacht. Es ist eine herrliche Landschaft. Wir fuhren nach Allenstein und nach Warschau und haben wunderbare Theateraufführungen gesehen. Es waren herrliche Tage, sogar das Wetter hatte sich von seiner besten Seite gezeigt.
Als Krönung soll heute Abend in einem Gestüt bei Posen der Abschluß dieser Reise gefeiert werden. Wir sind da zum Essen angemeldet.
Ja, am ersten Tag unserer Reise bin ich in Stettin wieder durch Straßen gegangen, die einmal vor fünfzig Jahren meine Heimat gewesen sind. Wir sind dort nur eine Nacht geblieben, darum bin ich sehr früh aufgestanden und habe mir ein Taxi genommen. Ich habe auf einem alten Stadtplan in deutscher Sprache die Straße gefunden, in der wir einmal gewohnt haben und habe sie dem Fahrer gezeigt. Er nickte mit dem Kopf, dann fuhren wir los.
Zuerst ging die Fahrt durch ein neues Industriegebiet. Nach einiger Zeit kamen mir die Straßen doch schon bekannt vor.
Da rechts, dieses große, rote Backsteingebäude mit dem Säuleneingang, ist das nicht die Bank, zu der Mutti immer mit mir gegangen ist, um Geld zu holen?
Natürlich ist sie das, ich kann mich nun genau daran erinnern.
Und da in diesem Haus war einmal unser Kaufladen. Ja, wir sagten Kaufladen und nicht etwa Supermarkt. Dann muß links gleich die Eisdiele kommen. Sie war in einem runden Gebäude, in einem Pavillon und in dem Schaufenster drehte sich immer ein Gebilde, das aussah wie eine gemalte Schnecke. Wenn man länger darauf schaute, dann wurde man richtiggehend hypnotisiert.
Da! Der alte Pavillon steht tatsächlich noch, aber das Schaufenster gibt es nicht mehr und Eis wird da scheinbar auch nicht mehr verkauft.
Ich wußte nun aber genau, wo ich war. Hier kommt gleich die Straßenbahnhaltestelle, die unserer Wohnung am nächsten lag. Bis hierher sind wir immer gelaufen. Die Haltestelle ist noch da.
„Gleich hier müssen wir rechts rein“, sagte ich zu dem Fahrer. Ich war richtig aufgeregt, waren doch inzwischen fünfzig Jahre vergangen, seit ich zum letzten Mal hier gewesen bin.
Diese Straße machte noch eine Linkskurve, aber dann, in der Verlängerung, sah ich sie "meine Straße." Erinnerungsfetzen jagten durch meinen Kopf.
Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muß versteckt sein ich komme! Kreisel treiben, Seilspringen, Puppenwagen schieben.
Die Straße lebte für mich.
Elvchen, raufkommen, schlafen gehen.
Ach Mutti, noch zehn Minuten, bitte, bitte.
Räder müssen rollen für den Sieg
Das stand damals an der Litfaßsäule.
Ich stand jetzt vor dem Haus. Die Farbe war grau und abgeblättert. Da war doch tatsächlich noch dieselbe Haustür mit der dicken Holzklinke. Ich mußte mich früher immer mit meinem ganzen Gewicht dranhängen, um sie runterzudrücken.
„Haben sie hier einmal gewohnt?“ fragte mich der Fahrer.
„Ja, ja, hier habe ich als Kind gelebt, oben rechts im 1.Stock.“
„Klingeln sie doch mal“, ermunterte er mich.
„Klingeln bei fremden Menschen am Sonntag morgen um sieben Uhr? "Nein, auf keinen Fall!“ gab ich ihm zur Antwort.
In die Wohnung wollte ich auch gar nicht hinein. Wie würde ich mich verhalten, wenn noch unsere alten Sachen dastünden, was natürlich unwahrscheinlich war, aber wer weiß das schon so genau.
Wie ich nun hier stand, fiel mir der letzte Abend ein, den wir in diesem Haus verbracht hatten, besser gesagt im Keller des Hauses.
Es war wieder einmal Fliegeralarm, und wir saßen gemeinsam mit den anderen Hausbewohnern im Kellergang. Da waren, seit es mit den nächtlichen Angriffen angefangen hatte, Stühle für die Hausbewohner aufgestellt worden. Die hatten dann auch noch Decken und Kissen auf ihre Stühle gelegt, denn es war im Keller immer kalt. In den Ecken standen mit Sand gefüllte Eimer, und daneben lagen Feuerklatschen. Sie sahen aus wie vergrößerte Fliegenklatschen ein langer Stiel, an dem ein schwarzes Stück Gummi befestigt war. Mit diesem Ding sollte man, wenn es brannte, die Flammen ausschlagen. Gott sei Dank brauchten wir es nie auszuprobieren. Ich zweifle heute sehr an der Wirksamkeit dieses Gerätes.
Wenn wir in den Keller rannten, dann mußten wir unsere schon fertig gepackten Taschen mitnehmen und vor allen Dingen durften wir die Gasmasken nicht vergessen. Alle diese Sachen hatten längst einen festen Platz neben der Wohnungstür erhalten.
In der letzten Nacht, die wir in diesem Keller verbrachten, war es fast soweit, daß wir die Klatschen gebraucht hätten. Ganz in unserer Nähe war eine Sprengbombe runtergegangen, und uns flogen im Keller Putzbrocken und Staub um die Ohren. Es knallte fürchterlich, und wir wurden alle mächtig durchgeschüttelt.
In dieser Nacht kam mein Vater überraschend zu einem Fronturlaub nach Hause. Er war in dem Bombenhagel den ganzen Weg vom Bahnhof bis zu unserer Wohnung durch die brennende Stadt gelaufen. Es war einer der schlimmsten Angriffe, der je auf Stettin geflogen wurde. Die Straßenbahn fuhr natürlich nicht, wenn Alarm war. Gerade als es bei uns so knallte, ging die Tür auf, und Papi stand auf der Kellertreppe. Besser gesagt, er wurde hereingewirbelt. Das war eine Freude!
Als endlich Entwarnung gegeben wurde, konnten wir in die Wohnung gehen und sahen uns die Bescherung an, die die Druckwelle ausgelöst hatte. Alle Scheiben waren zersprungen. Am nächsten Tag waren etliche Glaser damit beschäftigt, die Fenster zu reparieren.
Mein Vater sagte immer wieder: „Das ist ja schlimmer als an der Front, wir sehen den Feind wenigstens und können reagieren. Ihr seid hier ja das reinste Freiwild, werdet einfach abgeknallt. Hier könnt ihr auf keinen Fall bleiben. Morgen bringe ich euch zu den Großeltern.“
Ich fragte noch, bevor ich einschlief: „Zu welchen Großeltern fahren wir denn?“ „Na, zu denen nach Freienwalde“, sagte Mutti zu mir. „Au fein, da fahre ich gerne hin!“ rief ich erfreut und schlief beruhigt ein.
Ich hatte ja auch noch die anderen Großeltern in Kolberg, aber wenn ich bei der Omi war, dann rannte sie mit mir jeden Tag zu ihrer Schneiderin und ließ mir Sachen zum Anziehen nähen und ich mußte immer auf einem Tisch stehen und alles stundenlang anprobieren. Manchmal pikste mich sogar eine Stecknadel.
Wir fuhren also am nächsten Tag mit einigen Koffern los und hatten damals noch keine Ahnung, daß wir nie wieder in unsere Wohnung zurückkehren würden.
Das war alles so lange her, aber man kann es nicht vergessen und nun stand ich tatsächlich wieder vor diesem Haus.
„Nein, nein, auf keinen Fall will ich in die Wohnung reingehen“, sagte ich darum noch einmal zu dem netten Taxifahrer. Er sah mich etwas erstaunt an, aber er hatte wohl gemerkt, daß ich mit meinen Gedanken sehr weit weggewesen bin.
Die Straße genügte mir, ich wollte gar nicht wissen, wie es oben hinter den Fenstern der Wohnung aussah.
Die Straße hatte sich natürlich auch verändert. Die Rasenflächen vor den Häusern waren zu Gemüsebeeten umfunktioniert worden, und die Birken, die auf jedem Rasenstück standen und bei unserem Weggang noch ganz klein waren,sind jetzt höher als die Häuser. Optisch ist die Straße schöner geworden.
Es war Sonntagmorgen, und wir waren die einzigen Menschen auf der Straße.
Ich machte noch ein paar Fotos für die Familie. Dann drehte ich mich um und stieg wieder in das Taxi. Schluß mit sentimentalen Erinnerungen, befahl ich mir selber.
„Fahren sie bitte zurück zum Hotel“, sagte ich zu dem Fahrer. Vielleicht bekomme ich ja noch ein Frühstück, dachte ich so bei mir.
Zurück zum Hotel fuhren wir also wieder durch die mir immer bekannter werdenden Straßen. Der Fahrer fuhr betont langsam, weil er wohl merkte, daß immer wieder neue Erinnerungen in mir hochstiegen.
Da war der Exerzierplatz, von uns Kindern nur "Exer" genannt, dann, nur ein Stückchen weiter, der "deutsche Berg". Das war eigentlich nur ein Hügel, auf dem eine große Eiche stand, aber zum Rodeln war er für uns wie gemacht. Dahinter stand gleich das Lazarett.
Ich kann mich noch genau daran erinnern, als es gebaut wurde.
Hier lag Papi einmal mit Gelbsucht. Die hatte er sich damals als Soldat in Rußland geholt. Von seinem Zimmer aus konnte er genau auf unser Haus sehen, und wir haben ihm jeden Tag zugewinkt.
Wegen der Ansteckungsgefahr waren Besuche verboten. Aber danach, als er wieder gesund war, sind wir mit ihm nach Binz auf Rügen in den Genesungsurlaub gefahren. Ach, es war doch eine schöne Zeit.
Im Hotel war ich schon vermißt worden. „Wo bist du denn bloß gewesen?“ „Wir sollen doch nur in Gruppen das Hotel verlassen.“ Ja, ich hatte davon gehört. Aber wen sollte ich denn so früh aus dem Bett werfen, nur um mit mir einen Trip in die Vergangenheit zu machen? Es war ja alles gut gegangen.
Trotz der stundenlangen Fahrten war es in unserem Bus immer sehr lustig zugegangen. Von Zeit zu Zeit ging einer mit einer Flasche herum und schenkte uns ein Gläschen ein. Das war aber bei dem Gehopse des Busses gar nicht so einfach. Das kostbare Naß schwappte unkontrolliert aus der Flache. Und je nachdem wie tief die Schlaglöcher waren, war das Glas gefüllt, je tiefer das Loch, um so voller das Glas.
„Mir bitte nur ein kleines Schlagloch voll“, sagte ich immer.
Wir fuhren durch eine herrliche Landschaft mit wundervollen Wäldern und vielen, grünen Weiden. Aber es fiel uns auf, daß man nur von Zeit zu Zeit eine einzelne Kuh auf der Weide sah.
„Wo sind die anderen Kühe?“ fragten wir unseren polnischen Reiseführer Andreas.
„Es sind keine da“, sagte er.
„Es ist so: Eine Kuh macht muh, und viele Kühe machen Mühe. Das ist unsere Philosophie.“
Wir lachten schallend, aber eigentlich war es doch traurig.
Gleich werden wir in unserem Hotel in Posen sein. Eine kurze Pause zum "Frischmachen", danach geht es dann sofort weiter zu dem Gestüt. Dort werden wir schon erwartet.
Zur Begrüßung hält uns jemand ein Tablett mit einem Begrüßungstrunk entgegen. Es ist Pfefferwodka. Ich schaffe es, dieses Getränk hinter einen Busch zu schütten. Das Glas ist halb voll Pfeffer. Schrecklich!
Bevor wir zum Essen ins Haus gehen, ist noch eine romantische Kutschfahrt angesagt. Eine stattliche Anzahl Kutschen mit je zwei Pferden davorgespannt warten schon auf uns.
Ich sitze vorne beim Kutscher. Die Fahrt geht durch Wiesen und einen schönen Waldweg entlang.
Es wird schon dunkel, und man sieht in der Ferne ein Dorf, aus dem die ersten Lichter zu uns rüberleuchten. Da fällt mir plötzlich ein, daß mein Vater in der Nähe von Posen geboren worden war. Ich frage den Kutscher neben mir:
„ Kennen sie einen Ort, der Wreschen heißt?“ Er nickt mit dem Kopf und deutet mit der Peitsche in eine Richtung, in der ich einige Häuser erkennen kann. „Da drüben, das ist es “ ,sagt er.
Also da, vielleicht in einem der Häuser, die ich sehe, war Papi geboren worden.
Dann sind wir auch schon wieder auf dem Gestüt und werden in einen großen Raum geführt, in dem eine Tafel für uns schön gedeckt ist. Es sieht richtig festlich aus, und wir bekommen ein wunderbares Essen
Und natürlich wird am letzten Abend noch einmal kräftig getrunken. Wir kenne es ja inzwischen.
In Polen: Wodka!!! Immer fünfzig Gramm. Etwa ein halbes Wasserglas voll.
Die Stimmung wird immer besser und obwohl es schon Oktober ist, haben wir eine laue Nacht. Manchmal gehen wir raus vor die Tür und genießen die schöne Nachtluft. Einige haben auch mal etwas Dringendes zu erledigen, denn das "stille Örtchen" ist in einem unaussprechlichen Zustand.
Plötzlich macht sich Unruhe breit. Die Haustür ist abgeschlossen. Jemand sagt: „Es darf keiner mehr rausgehen.“
Und nicht nur das. Wir werden in unseren Raum gedrängt und der wird auch abgeschlossen. Dann kommt noch die Polizei. Zwei Polizisten stellen sich vor unsere Tür und bewachen uns. Das muß man sich mal vorstellen!
Mein Herz klopft wild. Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Was soll das alles bedeuten? Kidnapping, Lösegeld oder ist ein Krieg ausgebrochen ?
Jemand ruft sehr energisch:
„So können sie nicht mit uns umgehen, wir sind schließlich Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Was ist eigentlich los?“
Eine kleine Abordnung von uns darf rausgehen und mit dem Wirt sprechen. Folgendes stellt sich heraus:
Unser Reiseführer Andreas hat die Schecks, mit denen er das Essen bezahlen soll, im Hotel vergessen. Wir haben bereits mit dem Reisepreis das Essen bezahlt, dafür hat es vom Reisebüro diese Schecks gegeben.
„Ich bringe die Schecks morgen vorbei“, sagt Andreas.
„Kommt nicht in Frage. Jetzt wird bezahlt“, poltert der Wirt wütend los. Er scheint seinem Landsmann nicht zu trauen.
Der Wirt will Geld sehen und zwar sofort.
Er denkt wohl, wenn wir das Essen bar bezahlen, dann bekommt er DMark von uns. Michael, unser "Boss" bei diesen Reisen, sagt sehr energisch: „Wir haben das Essen bereits bezahlt.“
„Wir werden das Essen nicht zweimal bezahlen!“ rufen wir auch noch einmal mit Nachdruck.
Andreas wird in ein Taxi gesetzt und muß die Schecks holen. Das kann zwei Stunden dauern. Der Wirt versucht immer noch, uns zum Zahlen zu überreden. Er sagt:
„Ihr glaubt doch nicht, daß der Andreas mit den Schecks zurückkommt. Der räumt eure Zimmer aus und verschwindet. Bezahlt und ihr könnt gehen.“
„Wir bezahlen nicht!“ sagt Michael immer wieder sehr gelassen zu dem Wirt.
Die Stimmung unter uns wird auch angespannter. Einige wollen bezahlen, andere versuchen, die verschlossene Tür aufzudrücken. Man merkt deutlich, daß sich Angst breit macht. Die Situation wird kritisch, denn es ist ja auch schon Alkohol geflossen.
„Also, wir müssen uns jetzt einig sein. Es wird nicht bezahlt. Andreas kommt wieder. Aber wir wollen, daß die Türen aufgemacht werden!“ rufen einige von uns.
Nach einigem Hin und Her wird die Tür unseres Raumes wieder aufgeschlossen. Die Haustür bleibt aber weiterhin verschlossen.
Jetzt können wir wenigsten im Haus herumgehen, auch in die kleine Gaststube, die es gibt. Die beiden Polizisten haben sich ebenfalls dahin zurückgezogen, denen war das ganze Theater eher peinlich. Als ich einen Blick dort hineinwerfe, sitzen die beiden mit einigen von uns am Stammtisch und trinken fröhlich.
Getränke bekommen wir auch weiterhin, denn die haben wir ja sowieso aus unserer eigenen Tasche bezahlt. Und der Wirt hat schon gut an uns verdient. Es wird wieder recht fröhlich, und die beiden Polizisten bekommen reichlich Wodka von uns ausgegeben.
Dann kommt Andreas wieder!
Er wird mit großem Hallo empfangen. Er kommt auch gerade im rechten Augenblick, denn dem Wirt ist nämlich der Wodka ausgegangen. Mit den beiden Polizisten haben wir inzwischen Brüderschaft getrunken, wir haben uns ihre Dienstmützen aufgesetzt, und es ist zum Schluß eine Bombenstimmung.
Leider müssen wir uns nun von diesem gastlichen Ort trennen. Alles ist bezahlt worden, und wir steigen in unseren Bus, der uns wie eine Heimat vorkommt.
Am nächsten Morgen treten wir die Heimreise an.
Unser Andreas hält noch eine rührige Abschiedsrede, wir sollen doch recht bald wiederkommen. Dann ermahnt er uns, den Wodka immer so zu trinken, wie er es uns beigebracht hatte:
"Das Glas heben bis zum zweiten Hendenknopf von oben, Augenkontakt,tief einatmen, Luft anhalten, trinken, ausatmen und dann das Glas ganz langsam absetzen."