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Reise in die Unterwelt
Die Enkel Patrick, Thomas und Kerstin hatten sich schon die ganze Woche auf den Geburtstag ihres Großvaters gefreut. Die Feier selbst interessierte sie weniger, Hauptsache war, dass sich die Drei wieder einmal sahen
Nach dem Mittagessen zogen sich die Erwachsenen zu einem Mittagsschläfchen zurück und die Kinder waren sich selbst überlassen.
Patrick, der mit in Opas Haus wohnte, hatte eine Idee, wie sie den Nachmittag verbringen könnten.
„Mensch, bin ich froh, dass ihr beiden endlich mal wieder hier seid. Die Kinder aus meiner Klasse sind irgendwie doof. Mit denen ist einfach nichts anzufangen. Wenn ich vorschlage, etwas Spannendes zu tun, sagen sie gleich: ‚Das haben meine Eltern mir verboten’. Dabei macht doch das, was verboten ist, erst besonders Spaß!"
Die drei Kinder liefen über die Wiese hinüber zum nahegelegenen Wald.
„Ich muss euch unbedingt etwas zeigen!“, sagte Patrick. „Letztes Jahr wurde hier im Wald ein alter Stollen entdeckt. Die Heimatforscher haben das ganze Gelände untersucht, aber nichts Besonderes festgestellt. Sie wollen den Gang demnächst mit einer Stahltür verschließen, damit ihn niemand unerlaubt betreten kann. Kommt, das ist gleich dort drüben.“ Er deutete mit dem Finger zu einer kleine Erhebung am Rande des Waldes.
„Ist das nicht gefährlich, in eine so alte unterirdische Höhle zu klettern?“, fragte Kerstin kleinlaut. Sie war schon immer etwas ängstlich gewesen.
„Wir sind doch zu dritt“, entgegnete Thomas. „Da wird schon nichts passieren. Außerdem kann immer noch einer von uns Hilfe holen, falls wir wirklich in der Klemme sitzen. Los kommt, wer weiß, was wir in dem Gang alles entdecken werden.“
Eilig liefen die Drei auf die dicht bewachsene Waldkuppe zu. Zwischen den Bäumen war es mächtig dunkel. Kerstin lief ein Schauer über den Rücken und daran war nicht nur die Kälte schuld. Kaum ein Lichtstrahl durchdrang die dicht aneinander stehenden Bäume.
„Wir müssen noch ein paar Meter durch das Dickicht hindurch. Dort hinten, seht ihr, dort, bei dem rotweiß gestreifte Absperrband“, dirigierte sie Patrick.
„Autsch!“, rief Kerstin. Sie war an einer Brombeerhecke hängen geblieben und hatte sich den Arm aufgekratzt. Ein feines Rinnsal Blut lief heraus. „Ich glaube, ich gehe wieder zurück“, jammerte sie. „Das brennt fürchterlich. Ich brauche ein Pflaster.“
„Du bist vielleicht eine Heulsuse. Aber wehe, du verrätst, wo wir sind!“, drohte ihr Patrick.
„Nein, ich verrate euch nicht. Ich lasse die Wunde nur verarzten und komm dann wieder zurück.“
Eilige lief sie aus dem Wald und zum Haus des Großvaters hinüber. Ob sie noch einmal hierher zurückkommen würde, musste sie sich noch reiflich überlegen.
Thomas und Patrick hatten unterdessen den Eingang des Stollens erreicht. Vorsichtig betrat Patrick als erster den düsteren Ort. Spinnweben hingen von den Steinen herab und streiften leicht sein Ohr. Mit einer schnellen Bewegung schlug er sie angeekelt weg.
„Es ist so dunkel hier drinnen. Hast du an eine Taschenlampe gedacht?“, fragte Thomas, der langsam seinem Cousin folgte.
„Mist, das habe ich total vergessen! Aber nun ist es zu spät. Ich habe keine Lust mehr, umzukehren. Versuchen wir es trotzdem und tasten uns den Gang entlang.“
Patrick setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Die Steine unter seinen Schuhen knirschten bei jedem Tritt. In dem hohlen Gang hallte das Geräusch wider, so dass man glauben konnte, eine Menge Leute liefen hier herum. Der Untergrund war glitschig und die beiden Jungen mussten sehr vorsichtig sein, um nicht auszurutschen.
Sie hatten das Gefühl, als seien sie schon etliche Meter in den Stollen eingedrungen. Doch das täuschte. Noch immer war die runde Öffnung des Eingangs zu sehen, die sich ein klein wenig vom helleren Hintergrund abhob.
Thomas hatte auf einmal ein komisches Gefühl in der Magengegend. Um nicht ängstlich zu wirken, sagte er: „Ich glaube, wir gehen wieder zurück. Wenn wir kein Licht haben, können wir eh nichts sehen und auch nicht die Gänge erkunden.“
„Du hast doch nur Angst. Gibt es zu!“, bemerkte Patrick und tat einen weiteren Schritt in die Dunkelheit.
Plötzlich knirschte der Boden noch lauter, es hörte sich an, als würden die Wände des Ganges ächzen und stöhnen.
„Was ist das!“, schrie Thomas. „Ich will hier raus!“
Doch es war zu spät. Der Untergrund gab nach und riss die beiden Jungen mit sich in die Tiefe. Sie hatten das Gefühl, als ob sie auf einer Rutsche nach unten sausten. Hin und wieder wurden sie von herabfallenden Steinen überholt und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie unten landeten.
Aber was war das? Statt hart auf dem Felsen aufzuschlagen, landeten sie auf einer weichen Unterlage, fast so, als wenn sie zu Hause in ihr Bett hineinplumpsten. Und noch etwas war anders. Hier unten war es heller.
Patrick und Thomas setzten sich vorsichtig auf und befühlten ihre Arme und Beine. Sie hatten sich nichts gebrochen und es tat auch nichts weh.
„Was ist das?“, fragte Patrick und untersuchte das merkwürdige Gebilde, auf dem sie saßen. „Es sieht aus, als sei es aus lauter Silberfäden zusammengeknüpft. Mensch, Thomas, wo sind wir hier nur?“
„Ich weiß es nicht“, gab dieser kleinlaut zur Antwort. „Im Märchenland?“
Aber dies wurde sofort von Patrick als zu kitschig abgeschmettert. „Du spinnst ja! Wir sind doch keine Mädchen, die noch an ein Märchenland glauben. Es muss hierfür eine andere Erklärung geben. Bloß welche?“
Neugierig erhoben sich die beiden und erkundeten ihre Umgebung. In dem sanften Licht sahen sie, dass von der Decke des Gewölbes ebenfalls lauter silbern schimmernde Fäden herunterhingen, gleich feinsten Spinnweben. Behutsam, um das Kunstwerk nicht zu zerstören, schoben sie die Fäden beiseite und betraten gleich darauf eine riesige Höhle. Hier war es noch ein bisschen heller. Es sah aus, als wären große Scheinwerfer aufgestellt, die den Innenraum erleuchteten. Thomas erinnerte es an den Sportplatz, der immer bei Fußballspielen, die am Abend stattfanden, im hellen Licht erstrahlte.
„Wow!“, entfuhr es Patrick. Er zeigte mit dem Finger nach oben, wo eine große, runde Kugel hing, von der die größte Helligkeit ausging.
„Wen haben wir denn da?“, ertönte plötzlich eine raue Stimme neben den Jungen. Erschrocken drehten sich die beiden um, denn sie hatten gar nicht bemerkt, dass jemand die Grotte betreten hatte.
Und da sahen sie es zum ersten Mal! Ein riesiges Ungetüm trat aus einem Nebengang, wo es auf der Lauer gelegen hatte.
Nach und nach schob es sich aus seiner Nische, ein Bein nach dem anderen erschien. An seinem dicken, runden Kopf hatte es große Facettenaugen, die die beiden Jungen anfunkelten. Als das Tier auch seinen übrigen Körper in die Halle gezogen hatte, erkannte Patrick, dass es sich um eine gigantische Spinne handelte, die sich vor ihm aufbaute.
„Was sucht ihr hier in meinem Bau?“, fragte sie und klapperte wütend mit ihren Beißzangen.
„Wir … wir sind nur ganz zufällig hier nach unten gelangt“, entschuldigte sich Thomas für das unerlaubte Eindringen.
„Was schnüffelt ihr auch in dem verlassenen Stollen herum. Ihr habt kein Recht hier unten zu sein. Zur Strafe für euer unerlaubtes Eindringen dürft ihr diese Behausung nie mehr verlassen. Keiner der anderen Menschen darf etwas von meiner Anwesenheit hier unten erfahren. Sie würden mich auf der Stelle töten.“
„Wir verraten dich nicht! Bitte, bitte lass uns laufen!“, bettelte der Junge.
Wieder funkelten die riesigen Augen in allen Regenbogenfarben. Plötzlich verdunkelte sich das Licht. Der Kopf der Spinne schoss nach oben und sie rief in den Raum hinein: “Was soll das? Macht sofort wieder Licht!“
Patrick sah an die Decke der Höhle und erkannte, dass hunderte von Glühwürmchen die große Kugel bildeten. Nach dem wütenden Gebrüll der Spinne, wurde das Licht augenblicklich heller und erfüllte den gesamten Raum.
Thomas sah sich inzwischen in der Grotte um. In einer gegenüberliegenden Nische entdeckte er lauter weiße Kugeln, die eng aneinander gedrängt lagen. Sofort wurde ihm klar, dass es sich um die Eier der Riesenspinne handeln musste. Gerade bewegte sich eines der Eier.
„Oh“, rief die Spinne. „Meine Kleinen beginnen zu schlüpfen! Nur gut, dass ihr euch hierher verirrt habt. So kann ich sie mit reichlich fetter Beute füttern, denn sie werden einen enormen Appetit haben.“
Ängstlich schauten sich Thomas und Patrick an.
„Du willst uns doch nicht an deine Jungen verfüttern?“, rief Thomas empört.
„Warum sollte ich nicht? Ich habe es nicht leicht, Beute für meine Brut zu finden. Dazu muss ich immer an die Erdoberfläche klettern. Und das ist mühselig. Außerdem muss ich ständig darauf bedacht sein, dass mich die Menschen nicht entdecken. So manches Mal wäre es beinahe schief gegangen. Sie halten ihre Hühner und Schafe in Gehegen und da ist nur schwer daran zu kommen. Aber dieses Mal kam mir ja der Zufall zu Hilfe und hat euch geschickt.“
Langsam kroch die Spinne auf ihre Opfer zu. Die Jungen wichen
zurück, bis sie mit dem Rücken zur Felswand standen und nicht mehr weiter konnten. Auge in Auge standen sie sich dem Jäger gegenüber.
Die Spinne verzog ihr Maul zu einem Lächeln. „So nun seid ihr in der Falle. Jetzt könnt ihr nicht mehr entweichen. Seht nur, meine Kleine beginnen schon ganz unruhig zu werden.“ Sie deutete mit einem ihrer Beine zu dem Nest. Dort geriet einiges in Bewegung. Die Schalen der Eier knackten verdächtig und die ersten spinnenartigen Wesen krochen heraus. Sie sahen ihrer Mutter teuflisch ähnlich.
Die Mutterspinne drehte sich herum und schaute angestrengt zu ihrem Nest. Thomas glaubte schon, dass er sich mit seinem Cousin heimlich verdrücken könnte, als ein dicker Faden aus dem Hinterteil der Spinne herausschoss, geradewegs auf die beiden zu. Der Faden schien überhaupt kein Ende zu nehmen und wickelte sich um die beiden herum, bis sie aussahen wie zwei Pakete, die gerade auf die Reise geschickt werden sollten.
Sie konnten sich überhaupt nicht mehr bewegen, waren voll und ganz der Spinne und ihren Jungen ausgeliefert. Jetzt vernahmen sie auch noch das gehässige Lachen des achtbeinigen Ungeheuers.
Thomas und Patrick waren verloren. Wer sollte sie hier unten suchen? Keiner wusste, wo sie sich befanden. Oder doch?
Plötzlich hörten sie im Gang ein leises Rumoren. Und im nächsten Moment erschien Kerstin, begleitet von drei weiteren Personen, in der Halle. Ein Glück, dass die Spinne sie nicht sah, da sie zu sehr mit ihrem Nest beschäftigt war.
„So, gleich werdet ihr ein feines Futter bekommen, meine kleinen Racker“, sagte sie gerade, als mehrere Gewehrschüsse losgingen. Alle hatten das Tier in den Körper getroffen. Überrascht drehte es den Kopf und glotzte die Menschen mit seinen riesigen Augen ungläubig an. Wieder gingen Gewehrschüsse los und die Eier auf dem Gelege zerplatzten. Die Spinne drehte sich langsam um und ging auf die neuen Eindringlinge zu. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne und fiel plötzlich um, alle acht Beine weit von sich gestreckt.
Kerstin lief auf Thomas und Patrick zu. „Gott sei Dank! Es ist euch nichts passiert.“
Verzweifelt zerrte sie an dem Gespinst, mit dem die Jungen eingewickelt waren. Schließlich rief sie ihren Vater zu Hilfe, der den festen Faden mit einem Messer durchtrennte.
„Das ging ja noch einmal gut“, sagte Patricks Vater und nahm seinen Sohn in die Arme.
„Wie … wie habt ihr uns gefunden?“, fragte Thomas und lief auf seinen Vater zu.
„Kerstin hat uns alarmiert. Sie ist nach Hause gekommen und hat ein Pflaster geholt. Dann war sie wieder weg.“
„Ja, ich bin zu euch zurück gekommen, da ich irgendwie ein komisches Gefühl im Bauch hatte“, erzählte das Mädchen weiter. „Und wie ich dann langsam in den Stollen hineingegangen bin, übrigens, ich habe mir eine Taschenlampe mitgenommen, da habe ich das Loch im Boden gesehen und das Licht, das heraufgeschimmert hat. Dann habe ich unheimliche Geräusche und eine fremde Stimme gehört. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, was dort unten sein sollte, aber ich hatte Angst um euch. Da bin ich wieder zu Opas Haus gelaufen und habe Papa und die anderen geholt. Die haben vorsichtshalber ihre Gewehre mitgenommen und so haben wir euch gefunden.“
„Jetzt wollen wir aber schnell nach oben klettern, denn die anderen werden schon zu Hause ungeduldig auf uns warten. Ich werde dann gleich Herrn Saurius anrufen, der wird sich über euren Fund bestimmt freuen. Obwohl, der hätte ihn gern lebend gehabt“, lachte Kerstins Vater und die anderen stimmten ein. Sie alle wussten nämlich, dass dieser Professor Saurius ein etwas merkwürdiger Mensch war, der sein Leben der Erforschung von Höhlen widmete.
Über diesen außergewöhnlichen Fund im Stollen wurde nach lange im Dorf erzählt. Thomas und Patrick waren die Helden des Tages. Auch Professor Saurius dankte ihnen, dass sie ihm einen Weg in diese unentdeckte Höhle verschafft hatten. Viele Tage verbrachte der Professor dort unten, um alles zu vermessen und zu katalogisieren. Natürlich war er traurig, dass die seltsamen Spinnenwesen zu Tode gekommen waren.
Aber niemand von ihnen ahnte, dass eines der Spinnenjungen den Angriff überlebt hatte und nun irgendwo im Untergrund weiterlebte.