Reif für den Zirkus?
Im Zusammenleben mit Tieren – gleich welcher Art – erleben wir Menschen immer wieder Amüsantes und Trauriges. Gelegentlich ragt sogar einer unserer Hausgenossen aus der Masse hervor und zeigt Überraschendes.
Hühnern sagt man ja gemein hin nach, sie seien dumm. Gemessen an menschlicher Intelligenz wird das stimmen. Doch dieser Vergleich ist dem Huhn gegenüber nicht fair. Betrachtet man es nach seinen eigenen Möglichkeiten, seinen Instinkten und erlerntem Verhalten, tritt manchmal Erstaunliches zu Tage.
Mit „Nell“ kam so ein Ausnahme-Huhn zu uns.
Sie gehört zur Rasse der Sussex und fiel durch ihr besonders schönes, rotgoldenes Gefieder ins Auge. Ich gebe zu, nicht jedem erschließt sich auf Anhieb die Schönheit eines Huhns. Im Freundeskreis ernte ich daher meist unverständliche Blicke. Doch ich bin sicher, jeder Hühnerfreund wird meine Ansicht teilen.
Gemeinsam mit „Nell“ zog noch „Flo“ bei uns ein und ich hoffte, sie würden den Grundstein für eine erfolgreiche Zucht legen.
Beide Tiere zeigten sich extrem scheu, was sich auch nach der ersten Eingewöhnungszeit nicht legte. Fälschlicherweise hatte ich angenommen, Tiere aus einer Privatzucht seien zahm. Nun ja, möglicherweise wünscht sich nicht jeder einen Streichelzoo in seinem Garten.
Nebenbei bemerkt finde ich es jedoch sehr wichtig, dass die Tiere sich, ohne in Panik zu geraten, anfassen lassen. Bei Verletzungen oder Krankheiten erleichtert das die Behandlung sowohl für das Huhn als auch für mich.
Um dies zu erreichen, versuchte ich in der folgenden Zeit, die beiden Hennen an mich zu gewöhnen. Ich hockte mich in den Auslauf, sprach mit ihnen und lockte sie mit der besten aller Methoden – mit Futter und Geduld. „Nell“ legte dabei wesentlich mehr Mut an den Tag als „Flo“ und schon nach kurzer Zeit pickte sie mir aus der Hand.
Ein paar Wochen später schaute ich – wie so oft - aus dem Fenster, um mich an der kleinen Idylle im Garten zu erfreuen. Auf den ersten Blick bemerkte ich, dass ein Huhn fehlte. „Nell“ war verschwunden. Schnell lief ich nach draußen und suchte hektisch den Auslauf ab.
Hoffentlich war sie nicht das Opfer eines Marders geworden. Schließlich entdeckte ich sie fröhlich scharrend außerhalb der Abzäunung und atmete erleichtert auf. Doch die Frage blieb: wie war sie dort hingekommen?
Trotz gründlicher Suche konnte ich nirgends ein Schlupfloch finden und das Überfliegen des Zauns war ausgeschlossen.
Ich setzte sie zurück zu den anderen und nahm mir vor, sie im Auge zu behalten. Doch noch mehrere Male gelang ihr unbemerkt die Flucht.
Eines Morgens, ich arbeitete gerade im Gemüsebeet, sah ich meine Henne über eine etwa 80 cm hohe Mauer hüpfen, um „ins Freie“ zu gelangen. Dazu musste sie verschiedene Hindernisse überwinden. Ich ließ sie gewähren und stellte fest, dass sie nach einiger Zeit selbstständig auf dem gleichen Weg zu ihrer Gruppe zurückkehrte.
Dieses Verhalten erstaunte mich sehr, denn es setzt voraus, dass das Tier sich ein Bild von seiner Umgebung machen kann. Sie konnte schließlich nicht wissen, was sie hinter der Mauer erwarten würde. Zumindest zeugt es von Neugier und Unternehmungslust.
Um herauszufinden, welche Fähigkeiten noch in „Nell“ stecken, entschloss ich mich, ihr etwas bei zu bringen.
Da Hühner bekanntlich gerne den Überblick haben, hatte mein Mann kurz zuvor eine Art Hochsitz gebaut, den die Hühner bis dahin mit Nichtachtung straften.
Dies sollte die erste Aufgabe sein. Ich nahm einige Haferflocken in die Hand und lockte „Nell“ zu der sechsstufigen Leiter, die auf eine Plattform führt. Sie verstand erstaunlich schnell, was ich erwartete. So hüpfte sie auf die erste Stufe und erklomm dann behände jede weitere bis nach oben. Dort schien es ihr zu gefallen, denn sie blieb eine Weile ruhig sitzen und betrachtete interessiert die Welt von oben.
Durch die Geschwindigkeit ihrer Auffassungsgabe ermutigt, versuchte ich nun, sie dazu zu bewegen, auf meinen Arm zu steigen. Es dauerte ganze fünf Minuten und die Henne kletterte vorsichtig auf meinen Unterarm. Zunächst schaukelte sie ein wenig, gewann jedoch schnell ihr Gleichgewicht zurück.
Bereits am nächsten Tag ließ sie sich so bequem im Auslauf herumtragen.
Sobald ich nun das Gehege betrat, kletterte „Nell“ rasch über die Leiter und von dort sofort auf meinen Arm. Später ersparte sie sich den Weg über die Stufen und flatterte direkt auf die Plattform.
Dieses kleine Kunststück führen wir seitdem gerne unseren Besuchern vor. Alle amüsieren sich königlich und rieten mir schon spaßeshalber, sie auf Kaninchen abzurichten.
Natürlich könnten Skeptiker anführen, dass es sich hierbei um reine Futter-Konditionierung handelt. Möglich - merkwürdig ist nur, dass keines der anderen Hühner dieses Verhalten zeigt. Ich behaupte, „Nell“ macht es Spaß. Mir übrigens auch.
Ich bin gespannt, mit welchen ungewöhnlichen Leistungen mich meine Sussex noch überraschen wird.
Es lohnt sich also durchaus, unsere Hausgenossen einmal von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten.