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Reichstagswahl

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02.12.2003
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Reichstagswahl

Der 14.09.1930 war vorbei. Es war ein schöner, sonniger und milder Herbsttag. Charlotte stand am Fenster ihrer kleinen Küche, welches zur Straße zeigte, und hatte das Kinn auf die Hände gestützt, die Ellbogen auf das Fensterbrett. Ihre braunen Haare schwangen zum Takte der sich nähernden Marschkapelle, das Küchenhandtuch, welches sie um einen der Ellbogen geschwungen hatte, wehte sachte zur Hälfte aus dem Fenster. Und da kamen sie schon um die Ecke marschiert, sie sah sie kommen. Sie musste grinsen. Es war einfach zu herrlich.
Ja, der 14.09.1930 war vorbei, die Reichstagswahlen waren entscheidend ausgefallen. Charlotte hatte sich früher niemals für Politik interessiert. Begriffe wie „Reichstag“, „Koalition“, „Parlamentarismus“ waren für sie Fremdwörter gewesen. Damals hatte sie andere Sorgen gehabt. Damals, ja, es war gar nicht mal so lange her, war sie ganz woanders gewesen. Diese Situation, dieses Küchenfenster, woraus sie jetzt schauen durfte, um die sich näherndern Stürme zu betrachten, wäre damals für sie unerreichbar gewesen. Doch dann kam er und änderte alles. Heinrich. Ja, es war fast zu gut gewesen, um wahr zu sein. Charlotte hatte gerade ihre Arbeit als Kellnerin verloren, war aus ihrer kläglich-grauen Wohnung in Altona herausgeworfen worden, besaß praktisch gar nichts mehr. Da war sie ihm plötzlich begegnet. Schön, wie er war, hatte er versucht, ihr zu helfen. Sie hatte keine andere Wahl und ließ sich helfen, so gut es ging. Dabei hatte er ihre prekäre Situation gar nicht ausgenützt. Wahrscheinlich war es das, was sie dazu brachte, sich in ihn zu verlieben.
Heinrich war Anwalt und hatte, als die Weltwirtschaftskrise über das gepeinigte Deutschland hereinbrach, seine Kanzlei verloren. Doch fand er bald wieder Anstellung bei einer bestimmten politischen Organisation, die seine Weltanschauung bewunderte, sein rednerisches Talent lobte und sein übriggebliebenes Vermögen benötigte. Es handelte sich bei dieser politschen Organisation um eine komische Splitterpartei namens NSDAP. Charlotte hatte schon einmal von denen gehört, sich jedoch nicht weiter erkundigt. Ihre Ideen schien ihr einfach zu absurd und weltfremd. Doch Heinrich war ein Teil davon. Er gehörte sogar einer Unterorganisation der NSDAP an, einer Art Wehrverband, genannt Sturmabteilung. Heinrich erklärte ihr lächelnd, es handele sich wohl kaum um eine Unterorganisation, doch das sei nicht so wichtig, wenigstens nicht im Moment. Er verschaffte ihr eine Anstellung als seine Sekretärin. Charlotte nahm die Stellung dankbar an, sowie sein Angebot, seine Untermieterin zu werden. Er nützte ihre Situation wirklich nicht aus und benahm sich auch sonst sehr integer. Ein richtiger Kavalier.
Dies war vor so einem halben Jahr geschehen. Er hatte sie zu der parteilichen Geschäftsstelle mitgenommen und dort untergebracht, wo sie von den Parteigenossen sehr freundlich aufgenommen wurde. Freilich hatte Heinrich sie dazu genötigt, in die Partei einzutreten, wogegen sie im Prinzip nichts hatte. Nach so vielen Freundlichkeiten lag es nun wohl an ihr, diese Geste des guten Willens zu machen. Also wurde Charlotte zur Parteigenossin gekürt, was die Kollegen auf der Geschäftsstelle dazu verleitete, noch netter zu ihr zu sein. Es war erstaunlich, wie gut das Arbeitsklima war. Am Anfang gefiel ihr alles ungemein, und selbst die parteilichen Ideen schienen ihr plötzlich ganz vernünftig. Über den allgemeinen Arbeitseifer musste sie im Stillen lächeln, er war rührend und gleichzeitig irgendwie beeindruckend. Gespentisch allerdings schien ihr, mit der Zeit, der Fanatismus, der hinter diesem Arbeitseifer steckte. Die Parteigenossen waren alle versessen darauf, so hart zu arbeiten wie möglich, um der Sache der NSDAP, welche allgemein „Bewegung“ genannt wurde, zu dienen. Ja, man glaubte unbedingt an das Gelingen dieser Bewegung und war der unumstößlichen Meinung, bis zum Umfallen dafür schuften zu müssen. Man erklärte ihr, es gäbe nichts schöneres, als eigene Opfer zum Wohle eines Ganzen zu bringen.
„Wir wollen nicht ich, wir wollen ein wir sein,“ beteuerte ein Parteigenosse mit verklärten Augen. Sie würde es mit der Zeit genauso empfinden, sie könne ihnen ruhig glauben.
Charlotte selber hatte da ihre Zweifel. Sie war, in den letzten Jahrzehnten, zu sehr dem Individualismus verfallen, der eremitenhaften Skepsis, um sich bereit zu fühlen, ihr Ich in einer so weitläufigen Organisation fallenzulassen. Heinrich klärte sie anschließend darüber auf, dass Individualismus ein sehr böses Wort sei, dass diese Idee unbedingt bekämpft werden müsse.
„Individualismus,“ so sagte er, „Ist der Zerfall einer jeden gesunden Kultur. Es ist die Entschuldigung der geistig Schwachen, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Glauben Sie mir, deswegen sind wir ein gespaltenes Volk. Der Deutsche möchte zusammengehören, ist bereit, sich aufzuopfern für seine Brüder, doch die Lügenpresse und der von ihr unterstützte Parlamentarismus hemmen ihn, bringen ihn in Zweifel, schwächen und knechten ihn, bis er nicht wer weiß, wer er ist. Wir sind dazu da, dieses perfide Verfallssystem zu stoppen, ihm Einhalt zu gebieten und unser Volk zu befreien.“
Charlotte war sich da nicht so sicher. Die Parole Du bist nichts, dein Volk ist alles, klang zwar ganz nett in der Theorie, doch für sie schien sich da eine lauernde Gefahr zu verbergen, eine unermessliche Macht, die nur darauf wartete, entfesselt zu werden.
Doch war Heirich nicht der Einzige, über den es was zu lernen gab. Auch Charlotte war immer für eine Überraschung gut. Er hatte sie für ein dummes Mädel gehalten, doch steckte viel mehr als eine arbeitslose Kellnerin, eine dankbare Sekretärin in ihr. Er wollte es zunächst nicht glauben, doch sie war bereits 30 Jahre alt und hatte in Hamburg und Berlin studiert, nämlich Geschichte und Literatur. Sie war in Altona Geschichtslehrerin eines Lyzeums gewesen und hatte einen Literaturklub unterhalten. Geboren war sie auf dem Lande, jedoch waren ihre Eltern schon früh nach Hamburg gesiedelt. Ihre Kindheit war sehr schön gewesen, sie war die einzige Tochter unter fünf Kindern, und dazu noch die Jüngste. Als junges Mädchen zog sie oft mit ihren Brüdern los, fühlte sich unbekümmert und frei.
Der Ausbruch des Großen Krieges jedoch änderte alles. Ihr Vater, ihre vier Brüder, alle verließen sie die Heimat, alle zuversichtlich, euphorisch und berstend vor Patriotismus. Charlotte selber teilte damals dieses Gefühl noch, ihre Ängste wurden ihr vertrieben. Es ging schließlich um die Ehre des Reiches. Recht und billig, fand sie, das Gefühl der Zusammengehörigkeit vertrieb ihre Zweifel an der Richtigkeit des Krieges.
Dann, selbstverständlich, kam die große Ernüchterung. Der Krieg war eben nicht bis Ende des Sommers entschieden, und es stellte sich heraus, dass es noch eine ganze Weile dauern würde, bis die Männer wieder nach Hause kämen. In der Zwischenzeit musste das Leben weitergeführt werden. Auch diese Ereignisse minderten Charlottes Begeisterung für das Reich nicht, sie war bereit, zu arbeiten und ihr Bestes zu geben, um alles für die Rückkehr ihres Vater und der Brüder bereit zu halten. Ihre Mutter leitete das kleine Schreibwarengeschäft, welches die Eltern vorher zusammen mit den Söhnen betrieben hatten, ganz allein. Charlotte kümmerte sich um den Haushalt.
Dann jedoch der große Schock: Der Krieg ward verloren, das Deutsche Reich am Ende. All das wäre gar nicht so schwer zu ertragen gewesen, wäre die Familie nach Hause zurückgekehrt. Doch sie taten es nicht. Nie wieder. Charlotte und ihre Mutter waren ganz auf sich allein gestellt. Unruhen erschütterten das Land, die Republik wurde ausgerufen. Dann kam der Versailler Friedensvertrag. Das war das Ende. Willkür und Gewalt breiteten sich aus, Revolutionsversuche und allgemeiner Pessimismus. Die schöne Zusammengehörigkeit verpuffte, war sie doch nur eine Illusion der Umstände gewesen. Charlotte und ihre Mutter schafften es, sich durchzubeißen, sie konnte sogar die Mittel aufbringen, zu studieren. Als sie dann ihr Studium abgeschlossen hatte, geschah das, was ihrem Optimismus den Rest gab: Ihre Mutter erkrankte und starb. Da war sie ganz allein. Es schien ihr beinahe so, als hätte ihre Mutter bloß darauf gewartet, dass sie ihre Ausbildung abschloss, um dann aufzugeben.
Charlotte lag es fern aufzugeben, doch war ihr Geist in gewissem Sinne gebrochen. Sie fand eine gute Anstellung und arbeitete gerne, doch hielt sie sich allgemein von Menschen fern..... oder hielt die Menschen fern von sich. Sich zu sehr jemandem zu öffen konnte bloß Leid und Verderben bringen, das hatte sie gelernt. So verbrachte sie die Jahre einigermaßen zufrieden, denn sie erlaubte es sich nicht, große Gefühle für irgendjemanden zu entwickeln. Auch der Republik stand sie mit Skepsis gegenüber, denn sie hatte Deutschland in unzählige, einander bekämpfende Parteien gespalten, und keiner traute mehr dem anderen.
Natürlich konnte das Leben nicht immer friedlich und glanzlos dahinfließen, das wäre ja zu einfach gewesen. Das Entscheidungsjahr 1929 kam und nahm ihr, wie auch Millionen anderer Deutscher, alles weg. Charlotte sah sich also gezwungen, Gelegenheitsjobs anzunehmen, auch wenn sie unter ihrer sogenannten Würde lagen, denn schließlich ging es um ihr Überleben. In jenem Jahr zog sie mehrere Male um, jedes Mal in eine kleinere und schäbigere Wohnung. Zum Schluss, es war der Tag, an dem Heinrich in ihr Leben trat, besaß sie weder einen Job, noch ein Dach über dem Kopf. Sie hatte erlebt, was das Elend den Leuten antat, und wie ihre Solidarität und ihr Gemeinschaftsgefühl von ihrer wirtschaftlichen Lage abhingen. Sie glaubte nicht mehr an die Menschen, und dieses Erlösungsversprechen der Nationalsozialisten kam ihr zu unrealistisch vor.
Heinrich merkte, dass er, um sie zu überzeugen, andere Mittel gebrauchen musste, war sie doch viel gebildeter, intelligenter und vom Leben gezeichnet, als er geglaubt hatte. Als er sie gesehen hatte, so schön, so hilflos und der Willkür ausgeliefert, hatte er gewusst, irgendwie gewusst, dass sie die Art Mensch war, die er für seine Sache gewinnen musste. Er hatte das dringende Gefühl, dass, scheiterte er an ihr, so hätte er auf ganzer Linie versagt und es gäbe, im erweiterten Sinne, für die nationalsozialistische Bewegung keine Chance zum Siege mehr.
„Aber das ist doch der springende Punkt, liebe Charlotte,“ bekräftigte er, gewinnend lächelnd. Er wusste, dass sie ihn mochte. Darauf ließ sich aufbauen. „Woher kommt denn unser ganzes Elend? Wie wurde der Krieg verloren? Die Reichswehr ist ungeschlagen..... es lag an dem bösen Blut, das Unstimmigkeiten an die Front brachte. Wir wurden hinterrücks erdolcht. Hätte ganz Deutschland hinter der Reichswehr gestanden, wäre dies niemals passiert. Das sehen Sie doch ein?“
Charlotte zögerte. Sie liebte keine Parolen, die schienen ihr irgendwie immer zu verallgemeinernd. Das konnte gefährlich werden.
„Das mag ja sogar sein,“ gestand sie ein. „Doch trotzdem ändert es nichts an der Tatsache, dass Patriotismus eine saisonbedingte, künstliche Angelegenheit ist. Wenn es dem Volke gutgeht, sind sie immer bereit, patriotisch zu sein. Geht es ihnen aber schlecht, so ist jeder sich selbst der Nächste.“
Heinrich schüttelte vehement den Kopf.
„Das ist der pessimistische, individualistische Geist, der Ihnen von diesem Verfallssystem eingebleut wurde,“ widerprach er. „Ihre Einstellung ist sozusagen der Beweis für die Richtigkeit meiner Theorie, sehen Sie? Die Menschen waren am Ende, verletzt und verletzlich, sie benötigten Halt und geistige Führung, die linken Bonzen haben das sofort erkannt, listig wie sie sind. Das deutsche Volk wird seit jehedem belogen und betrogen..... alle mit dem Glauben verblendet, es gäbe keine naturgegebene Zusammengehörigkeit. Nein, das ist völlig verkehrt und bedeutet, auf die Dauer, den Tod unserer Nation! Der Deutsche ist von Natur aus kämpferisch und veranlagt, für die Allgemeinheit sich selbst zu opfern. Das ist das Gesetz der Natur. Wenn dieses sozusagen außer Kraft gesetzt wird, so fühlen wir uns verloren und wissen nicht mehr, was wir mit unserer ansonsten konstruktiven Kampfeslust anfangen sollen. Wir fallen übereinander her und zerstören uns. Wenn wir dann alle tot sind, so hat das Schwache, Minderwertige überlebt und über uns triumphiert. Pazifismus, Demokratie, Parlamentarismus, Bolschewismus, Gleichheit aller Menschen...... es ist wider die ewigen Gesetze der Natur, mein liebes Kind! Wir können und dürfen uns von diesen Parasiten nicht aussaugen lassen! Wir müssen aufbegehren und unseren rechten Platz in der Welt einnehmen.... nur so können wir uns behaupten. Wissen Sie, es mag unmenschlich und grausam klingen, aber so ist die Natur! So ist Gott im erweiterten Sinne. Benehmen wir uns nicht artgemäß, so haben wir unser eigenes Todesurteil unterzeichnet. Deswegen ist der Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung von absoluter Priorität. Sie sind doch ein gutes, deutsches Mädel, haben ihre Familie verloren, kämpften um das Wohl des Reiches wie auch sie! Wollen Sie sich jetzt von der Lügenpresse unterkriegen lassen und aufgeben, und unser Ende besiegeln? Ihre Opfer verunglimpfen lassen? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Nein, dass wir uns begenet sind, das war kein Zufall. Sie sind im Herzen Nationalsozialistin, das weiß ich! Sie müssen sich von der jüdischen Hetze nur freimachen!“
Charlotte dachte eine Weile lang still über seine so eifrig gesprochenen Worte nach.
„Juden, sagen Sie?“ fragte sie zögernd. „Ich schätze, die sind jene, die Sie mit minderwertigem Leben meinen. Es tut mir leid, aber irgendwie kommt mir das ein ganz klein wenig zu simpel vor. Sollen die mit einmal für alles Übel verantwortlich sein, nur weil sie einem anderen Glauben anhängen? Diese Menschen sind doch noch immer Deutsche, so wie Sie und ich.“ Sie war ehrlich gespannt, was er darauf zu sagen hätte.
„Bei Ihnen ist die Vergiftung schon ziemlich weit fortgeschritten, sehe ich,“ stellte Heinrich kopfschütteldn fest und setzte sich neben sie, als ob seine Nähe seinen Worten Kraft verleihen könne. „Ich denke, Sie haben Geschichte studiert. Jüdisch sein, das ist nicht bloß der Glaube. Es ist viel mehr als das. Es ist eine Lebenseistellung, es ist eine Art, die Welt zu sehen und für sich zu beanspruchen, die bei denen schon im Blute liegt. Man nehme doch bloß den Bolschewismus in Russland. Das waren alles Juden. Sehen Sie doch, was die mit ihrem eigenen Land angestellt haben. Und nun wollen sie uns.“
„Marx und Engels.“
„Wie bitte?“
„Marx und Engels,“ wiederholte Charlotte und sah direkt in seine schönen, türkisfarbenen Augen, die sie mit einer Mischung aus Kampfeslust und Neugierde engehend betrachteten. „Sie sind die Väter des Kommunismus und gleichzeitig Deutsche.“
„Aha!“ entfuhr es ihm, seine Augen blitzten triumphierend auf und seine Mundwinkel zuckten. „Das ist kein Gegenargument, sondern eine Bestätigung dessen, was ich Ihnen sagte! Marx und Engels waren Juden. Sehen Sie, wie perfide das System ist und wie gewitzt es vorgeht? Wie es direkt in die Köpfe der Deutschen geprügelt wird und ihren Geist beansprucht? Sie verleugnen die ehernen Naturgesetze und propagieren stattdessen einen perfiden, fatalen Klassenkampf, der einem schaffenden Staat die Handlungsmacht nimmt. Die Einheit eines Staates sichert die innenpolitischen Verhältnisse eines kulturschaffenden Volkes. Wenn diese Verhältnisse nicht bestimmt sind und das Volk nicht für sein Wohl geeint arbeitet, so siegt am Ende nur der Untermensch. Die kulturschaffenden Elemente gehen an ihrer eigenen Selbstlosigkeit zugrunde.“
Charlotte fühlte sich ein wenig verunsichert durch seine Nähe und Willenskraft, die beidermaßen auf sie einwirkten. Trotzdem hatte sie noch nicht vor, aufzugeben, auch wenn sie nicht genau wusste, weshalb sie diese Diskussion führte und wofür sie überhaupt kämpfte.
„Ich glaube nicht an Selbstlosigkeit......“ murmelte sie, plötzlich durcheinander. „Ich habe beinahe mein ganzes Leben lang geglaubt, meine Nation würde mich brauchen und ich müsste stark für sie sein..... Doch irgendwann ist mir klar geworden, dass ich allen egal bin, und dass meine Anstrengungen und Entbehrungen keine Sau interessieren.“ Sie hatte sich so lange nach Erlösung gesehnt, doch vor langer Zeit schon hatte sie den Glauben an jegliche höhere Gewalt verloren.
Er spürte mit einemmal, wie einsam sie in Wirklichkeit war. Mitleidig lächelnd, strich er ihr mit der Handfläche übers Gesicht.
„Es interessiert mich,“ erwiderte er sanft. Charlottes Augen füllten sich mit Tränen, doch sie biss sich auf die Zunge, um nicht zu weinen, und senkte den Kopf. Er hob ihr Kinn und zwang sie mit sanfter Gewalt, in seine Augen zu sehen. „Warum wehren Sie sich so? Wofür kämpfen Sie? Diese Ideologie, diese Menschen, die Sie hier verteidigen, sind genau jene, denen Sie einen Dreck wert sind. Es sind die, welche Ihre gesamte Familie getötet haben und Ihnen fast die Existenz raubten. Ich bin der erste Mensch, der Einzige, der bereit war, Sie aufzunehmen und bedingungslos an Sie zu glauben. Wollen Sie mir jetzt denn danken, indem Sie mir keinerlei Vertrauen schenken? Ist es das? Wollen Sie mich wegstoßen, sich weigern, Ihre falschen Ideale loszulassen, nachdem ich so viel für Sie getan habe? Wenn es so ist, dann können Sie Ihre Sachen packen und gehen. Es wäre die schlimmste Enttäuschung meines Lebens.“
Er ließ ihr Kinn beinahe angewidert los und erhob sich. Seine Augen waren kalt. Charlotte begriff nicht, was gerade geschehen war, aber plötzlich brach alles, woran sie glaubte, zusammen. Er hatte Recht. Sie kämpfte auf verlorenem Posten, für Menschen, die keinen Finger rühren würden, sollte sie dem Hungertod nahe sein. Dafür war sie gerade im Begriff, den einzigen Menschen, der ihr und dem sie etwas bedeutete, im Tiefsten zu verletzen. Das konnte sie nicht tuen. Entsetzt, erhob sie sich ebenfalls und versuchte, nach seiner Hand zu greifen. Er entzog sie ihr und wich noch weiter zurück.
Charlotte, die fürchtete, der Schaden, den sie angerichtet hatte, sei irreparabel, brach in Tränen aus.
„Bitte, verzeihen Sie mir,“ schluchte sie verzweifelt. „Nein, das will ich doch nicht. Es tut mir leid, es tut mir alles so leid..... ich bin so dumm!“ Sie schlug die Hände vor ihrem Gesicht zusammen und versuchte nicht einmal mehr, sich unter Kontrolle zu halten.
„Heißt das, Sie wollen mich nicht verraten?“ fragte Heinrich scharf. Er hatte sie eigentlich genau da, wo er sie haben sollte, unterdrückte noch für einen Augenblick den Drang, sie zu trösten. Er merkte erstaunt, dass sie ihm tatsächlich etwas bedeutete. Wenn er jetzt aber zu früh nachgab, wäre es ein unverzeihlicher, taktischer Fehler. „Heißt das, Sie wollen Ihre nosziven Ideen fallenlassen und bei mir bleiben?“
Charlotte ließ ihre zitternden Hände sinken und sah ihn mit tränenüberströmten Gesicht an. Dann nickte sie wortlos. Er lächelte, nein, strahlte übers ganze Gesicht und umarmte sie fest. So standen sie eine Weile lang, bis er sie nur ein klein wenig von sich schob, um sie ansehen zu können. Sie weinte nicht mehr.
„Es tut mir leid,“ sagte sie ruhig. „Bitte, schick mich nie wieder weg. Ich liebe dich.“
„Nie wieder,“ beteuerte er, selig. Er war noch nie so glücklich gewesen in seinem Leben. „Ich liebe dich auch.“ Dann küsste er sie.
Danach war das Leben viel einfacher. Charlotte musste sich nicht mehr mit moralischen Bedenken oder Zweifeln quälen, nein, sie ging im Parteigeist ganz auf und fand unbeschränkte Aufnahme bei ihren Parteigenossinen und Parteigenossen. Einsamkeit war für sie ein Fremdwort, und auch nachts schlief sie plötzlich gut. Das war schon lange nicht mehr so gewesen. Eigene Gedanken waren ebenfalls nicht mehr nötig, sie wurde Teil einer großen Idee und machte sie zu ihrem persönlichen Banner. Überall wurde sie aufgenommen und man half ihr, stolperte sie über einen vielleicht widersinnigen Aspekt der Bewegung. Das Unlogische wurde zur abslouten Wahrheit, es war gar nicht so schwer, wie anfangs angenommen. Es war wie eine Erlösung. Sie hätte vor Glück weinen können. Manchmal tat sie es auch.
Schließlich kam dann der 14.09.1930, und Charlotte schritt mit Heinrich zum Wahllokal, um der NSDAP ihre Stimme zu geben. Es war der entscheidende Moment, der allen Nationalsozialisten zeigte, dass zäher Kampf und unerschütterlicher Glaube die Bewegung doch bald zum abzoluten Erfolg führen würden. Die Feier war gigantisch. Noch Tage später marschierten die SA-Stürme triumphierend durch die ganze Stadt. Im ganzen Lande, so die Presse, war Rede davon. Es war die Sensation überhaupt.
Charlotte stand also am Fenster und wartete auf die Parade. Er würde dabei sein, das wusste sie. Ein wunderbar schönes Gefühl des Glückes und der Seligkeit machte sich in ihr breit. Man hatte in der Geschäftsstelle gefeiert und ihr Haus in einen buchstäblichen Blumengarten verwandelt. Sie, wie auch Heinrich, war unglaublich beliebt bei den Parteigenossen. Von einer von bedrückender Einsamkeit Gestählten war sie in kürzester Zeit zur allseits beliebten Kollegin und Freundin aufgerückt. Am Tage der Wahl, nachdem die ersten Resultate herausgekommen waren, war die gesamte Geschäftsstelle in verzückte Extase geraten. Heinrich hatte sie in seiner Glückseligkeit sofort gebeten, ihn zu heiraten. An ihrer Antwort bestand kein Zweifel.
Nach so vielen, einsamen und schrecklichen Jahren konnte sie endlich von sich behaupten, glücklich zu sein. Restlos glücklich.
Der Sturm der SA kam anmarschiert und sie erblickte ihn, Heinrich, der sie aus ihrem Elend gerettet und ihr Leben umgekrempelt hatte. Nun war alles Leid vorbei, und das hatte sie allein ihm zu verdanken. Ihm und dem Nationalsozialismus. Er sah sie am Fenster und, obwohl er den Kopf nicht wandte, grinste er sie an. Sie brach vor Freude in Tränen aus. Ovationen machten sich überall hörbar und auch sie schrie mit. Das Gefühl des Sieges und des Triumphes und der unerschütterlichen Liebe waren berauschend und so beglückend, dass sie nicht mehr wusste, wie sie es so lange ohne sie ausgehalten hatte. Auch konnte sie nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was mehr ihre Treue und Hingabe abverlangte: Heinrich oder die Partei. Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und ließ sich mitreißen im Strom der ungehinderten Begeisterung.
„Es lebe die Bewegung!“
Es lebe die Liebe.

 

Hi elanor-magdalena,

so, wie ich es dir versprochen habe, hier jetzt die Kritik.

Eine sehr mitreißende Geschichte hast du da geschrieben. Ich konnte mich gut in die Protagonistin hineinversetzen, und gerade, weil wir dieses Thema im Moment in Geschichte durchnehmen, habe ich auch einen Bezug dazu. Ich glaube, du hast den Geist dieser Zeit gut eingefangen.

Ein paar Fehler sind mir aufgefallen:

Er hatte das dringende Gefühl, dass, scheiterte er an ihr, so hätte er auf ganzer Linie versagt und es gäbe, im erweiterten Sinne, für die nationalsozialistische Bewegung keine Chance zum Siege mehr.

Der Satz ergibt keinen Sinn...

irgendwo hast du "jehedem" geschrieben, ich glaube, du meinst "ehedem"

Stellenweise sind die Texte sehr intensiv und sehr dicht, gerade, wenn Friedrich die arme Protagonistin zutextet ;) An einer oder zwei Stellen solltest du das durch Absätze auflockern, nur um der Lesbarkeit willen

Nazi-verachtende Grüße
Vita

 

Hi Vita!!!!
Danke schön für die nette Kritik. Ich habe mich sehr mit dem Thema beschäftigt und besonders mit der Propaganda. Ich kann mir gut vorstellen, dass es vielen so ergangen ist. Das mit den Absätzen ist wahr. Ich bin es leider nicht gewohnt, ich habe nämlich in Brasilien Abi gemacht und da werden Texte anders aufgebaut. Ich werde aber versuchen, mich dran zu halten.
Alles Liebe,
Elanor-Magdalena:)

 

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