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Reich!

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16.09.2002
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Reich!

Paul versuchte zum hundertsten Mal, eine bequeme Kuschelposition zu finden, doch es wollte ihm an diesem Abend einfach nicht gelingen. Selbst als er den rechten Arm schräg unter das Kopfkissen steckte, so dass er mit den Fingern über das glatte, warme Holz des Bettrahmens streichen konnte, stellte sich das wohlige Gefühl der beschützten Geborgenheit nicht ein.
Das wenige, schummrige Licht, das die Straßenlaterne wie Rinnsale durch die schmalen Ritzen des geschlossenen Fensterladens in sein Zimmer drückte, malte schemenhafte Muster auf den Kleiderschrank.
Er hatte auf der Schranktür schon Dinosaurier entdeckt und Teufelsfratzen, einen Elefantenkopf mit riesigem Rüssel und einen Cowboystiefel mit Sporen.
Heute jedoch konnte er kein Bild finden, so sehr er sich auch bemühte. Nur ein Durcheinander aus hellen und dunklen Flächen.
Paul seufzte.
Ob es mit dem Schatz zusammenhing, den er unter seinem Bett in der gelben Schachtel versteckt hatte? Bestimmt lag es daran. Alles war plötzlich anders geworden, seit er ihn an diesem Nachmittag gefunden hatte.
Er drehte sich auf die andere Seite, weg von dem Schrank, der ihm an diesem Abend nichts zu bieten hatte, und begann dann, die hellen Ritzen des Fensterladens zu zählen. Schon bei dreizehn oder vierzehn wußte er nicht mehr, welchen der Lichtschlitze er schon abgezählt hatte und begann noch einmal von vorne.
Dieses Mal kam er bis zwanzig, dann drängte sich das Erlebnis des Nachmittags rücksichtslos nach vorne und spulte sich wie ein Film wieder vor ihm ab.


Paul war unterwegs zu Jens gewesen, der drei Straßen weiter wohnte. Angestrengt richtete er den Blick nach unten, um nur ja auf keine der bemoosten Fugen zwischen den Steinplatten des Bürgersteiges zu treten. Einmal hatte er es schon auf dem ganzen Weg zu Jens geschafft. Nun versuchte er es mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad. Nicht nur die Fugen, sondern auch die weißen Flecken der plattgetretenen Kaugummis durfte er nicht berühren. Dazu mußte er hochkonzentriert einen tänzelnden Zickzackkurs einschlagen, denn die Flecken waren fast überall. Plötzlich wurde er durch einen weichen Aufprall jäh gestoppt. Erschrocken hob Paul den Kopf und blickte in ein unglaublich faltiges Gesicht. Die alte Frau war nicht viel größer als er selbst. Einzelne Strähnen ihres glatten, weißen Haares schienen wie die Arme eines Kraken auf ihren Wangen zu kleben.
Paul spürte deutlich das Kribbeln um die Nase, ein sicheres Zeichen, dass er rot wurde.
„Entschuldigung, tut mir leid,“ stammelte er und wollte sich an der Frau vorbeidrücken.
„Aber das macht doch nichts, mein Junge,“ antwortete sie mit einer sehr weichen, freundlichen Stimme und ließ ihn in der Bewegung stocken. „Weißt du, es tut ab und zu sehr gut, von einem jungen Menschen überhaupt registriert zu werden. Besonders, wenn er so höflich ist wie du.“
Mit einem Lächeln nickte sie ihm wie zur Bestätigung zu und wandte sich dann ab.
Paul blieb noch einige Sekunden wie angewurzelt stehen und sah dem etwas gebeugten Rücken nach.
Eine sehr nette Frau.
Plötzlich durchzuckte ihn heiß die Erkenntnis, dass er nicht darauf geachtet hatte, wo seine Füße gerade standen. Konnte gut sein, dass er sich nun alles vermasselt hatte und auf einem Kaugummi oder einer Fuge stand. Ein schneller Blick zeigte ihm, dass tatsächlich unter der Spitze seines rechten Fußes ein flacher, weißer Halbmond hervorlugte. So ein Mist!
Er wollte schon verärgert weitergehen, als er etwa einen Meter vor sich die kleine, braune Mappe entdeckte. Er hob sie vom Boden auf und drehte sie nach allen Seiten. Es schien eine Geldbörse zu sein. Die Erkenntnis jagte ihm einen heißen Schauer durch den Körper. So oft hatte er sich schon vorgestellt, wie toll es wäre, einmal etwas wirklich Wertvolles auf der Straße zu finden.
Mit einem schnellen Blick nach allen Seiten überzeugte er sich davon, dass niemand ihn beobachtete, dann verschwand die Mappe in der Hosentasche seiner Jeans und er ging betont langsam los. Niemand sollte auf den Gedanken kommen, er würde weglaufen.
Ob wirklich Geld in der Mappe war? Vielleicht sogar viel Geld?
Ein Mann kam ihm entgegen und sah ihm im Vorbeigehen kurz in die Augen. War das nicht der typische Blick eines Erwachsenen, mit dem er einem Jungen sagte, dass er etwas falsch gemacht hatte? Hatte der Mann doch gesehen, wie er seinen Fund einsteckte? Paul blieb stehen und drehte sich um, fast sicher, in ein grimmiges Gesicht zu blicken. In einiger Entfernung sah er den Rücken des Mannes. Glück gehabt!
Die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Wohin sollte er mit seinem Fund gehen? Zu Jens? Auf keinen Fall. Der würde es überall herumerzählen. Aber wohin sonst?
Plötzlich kam ihm eine Idee. Nicht weit entfernt gab es eine kleine, eingezäunte Wiese. In die Hecken, die am Rande des Grundstücks wucherten, waren sie schon oft gekrochen, wenn sie unbeobachtet sein wollten. Dort hatten sie sogar schon einmal einen Zigarettenstummel angesteckt und daran gezogen. Ohne Zweifel ein wirklich geheimer Platz.

Paul hatte sich bis tief in das Gestrüpp vorgearbeitet und saß nun auf der etwas feuchten Erde. Ein Ast kitzelte ihn im Nacken, aber das störte ihn nicht. Ehrfürchtig klappte er die braune Mappe auf und warf einen Blick hinein. Fast hätte er gejubelt vor Freude als er die vielen Münzen sah, die in den beiden Fächern verteilt lagen. Er drehte die Geldbörse um und ließ den Inhalt klimpernd vor sich auf den Boden fallen. Schnell zählte er das Geld. Fünfzehn Euro und zweiundzwanzig Cent. Und alles gehörte ihm. Wow! Was konnte man damit alles kaufen! So viele Süßigkeiten, dass es für die nächsten Wochen ausreichen würde. Vielleicht sogar das Blasrohr, das seine Eltern ihm ihm nicht erlaubt hatten. Aber wo würde er es verstecken? Egal, da ließe sich schon etwas finden. Er, Paul, gerade neun Jahre alt geworden, war reich!
Er nahm die Mappe nochmals in die Hand und untersuchte sie genauer. Seitlich konnte man noch ein Fach aufklappen. Er zog daran und mit einem klackenden Geräusch sprang der Verschluß auf. Dann wurden seine Augen groß. Zwischen einigen Papieren steckte ein Bündel Geldscheine. Ein dickes Bündel! Mit zitternden Fingern und klopfendem Herzen zog er es heraus und starrte sekundenlang darauf. Dann begann er mechanisch zu zählen. Es waren fast nur große Scheine.
Sechshunderdreißig Euro!
Langsam sank die Hand, die diesen unfaßbaren Reichtum hielt, nach unten.
Paul war zu keinem klaren Gedanken fähig. Außerdem machte sich ein komisches Gefühl in seinem Bauch breit. Sechshundertdreißig Euro! Wieder starrte er auf das Bündel. Minutenlang. Dann legte er es, ganz vorsichtig, als könne er die Scheine beschädigen, wenn er sie unsanft behandelte, auf seinem Bein ab und zog die Papiere aus dem Fach der Mappe. Wie ein Krampf fuhr es ihm in den Magen, als er das Gesicht erkannte, das ihn schwarzweiß von dem Personalausweis anlächelte.
Es war die alte Frau, die er fast umgerannt hatte. Sie hieß Erna Schmidt. Die Geldbörse gehörte ihr.

Auf dem Heimweg fühlte sich der Gegenstand in seiner Tasche schwer an, störend beim Gehen. Sein Bein wollte sich gar nicht an den Druck gewöhnen. Er hatte schon ganz andere Dinge in der Hosentasche transportiert. Schwere Dinge. Stets waren sie ihm nach ein paar Minuten nicht mehr aufgefallen. Diese Mappe war anders. Als wolle sie ihn immer wieder daran erinnern, dass sie nicht zu ihm gehörte.
Der Weg nach Hause kam ihm fremd vor, obwohl er ihn schon hundert Mal gegangen war. Die Menschen, die ihm begegneten, sahen anders aus als sonst. Sie hatten alle den gleichen, seltsam verschwörerischen Ausdruck im Gesicht. Es schien ihm, als gehörten alle zusammen und nur er, Paul, wäre ausgeschlossen von dieser Gemeinschaft. Verwirrt kam er zu Hause an und ging sofort in sein Zimmer. Dort verstaute er seinen Schatz in der gelben Schachtel unter seinem Bett und ließ sich dann auf die weiche Matratze fallen.
Er hatte so viel Geld, dass er sich einfach alles kaufen konnte, was er nur wollte. Trotzdem war er nicht so glücklich, wie er es eigentlich hätte sein müssen. Das verstand er nicht.
Er sah wieder das faltige Gesicht vor sich. Das gütige Lächeln der alten Frau. Sie war nicht böse gewesen, als er gegen sie gelaufen war und hatte gesagt, er sei höflich.
Als Paul mit seinen Eltern Abendbrot aß, fühlte er sich immer noch nicht besser. Im Gegenteil. Auch Mama und Papa schienen plötzlich weit von ihm weg zu sein. Sie verhielten sich genau wie immer, aber irgendwie... .


Die leuchtenden Ritzen schoben sich über die Erinnerung an den Nachmittag und störten ihn mit ihrer Helligkeit.
Paul drehte sich wieder zur anderen Seite und nun konnte er auch ein Bild in dem Muster auf dem Schrank erkennen. Es war scharz-weiß. Wie auf dem Personalausweis. Dann schlief er ein.

Als Paul am nächsten Morgen den Klingelknopf neben der grauen Eingangstür gedrückt hatte, mußte er sich stark beherrschen, nicht einfach wegzulaufen.
Schlurfende Schritte waren zu hören, dann öffnete sich die Tür und Frau Schmidt blickte ihm überrascht entgegen. Sie sah anders aus als am Vortag. Müder. Und noch älter.
„Ja?“ fragte sie einfach nur. Sie schien ihn nicht zu erkennen.
„Hallo, ich bin der Junge, der gestern mit ihnen zusammengestoßen ist. Sie haben etwas verloren, das wollte ich ihnen zurückbringen.“
Als er ihr die braune Mappe entgegenhielt wurden ihre Augen so groß, dass sogar die tiefen Falten sich etwas glätteten. Wortlos und unendlich langsam nahm sie die Mappe an sich und öffnete sie. Ihre Augen wurden erst feucht, dann schwappte die Flüssigkeit über und Tränen rannen über die tiefen Gräben in ihren Wangen.
„Meine Rente. Meine ganze Rente.“ Immer wieder stammelte sie diese Worte.

Auf dem Nachhauseweg betrachtete Paul sich die Gesichter der Menschen. Der komische Ausdruck darin war verschwunden, er gehörte wieder dazu.
In seiner Hosentasche knisterte ein Zehn-Euro-Schein.
Finderlohn!
Laut pfiff er ein lustiges Lied.

Er war glücklich! Er war reich!

 

Die Welt wird beschrieben aus der Perspektive eines kleinen Jungen. Das hast du gut gemacht. Die kleinen Dinge, die du teilweise so genau beschreibst und die von Erwachsenen kaum beachtet werden, haben mich auch an meine Kindheit erinnert.

Doch etwas stört an deiner Geschichte: Die alte Frau.
Schon wieder schreibst du über eine einsame alte Frau. Das Thema scheint dir am Herzen zu liegen. Die Szenen mit ihr und dem kleinen Jungen sind leider schwach.

Weißt du, es tut ab und zu sehr gut, von einem jungen Menschen überhaupt registriert zu werden. Besonders, wenn er so höflich ist wie du.“

oder
„Meine Rente. Meine ganze Rente.“ Immer wieder stammelte sie diese Worte.

Da musste ich schon ein wenig schmunzeln, weil es so pathetisch, schwülstig, kitschig ist. Es ist, im Vergleich zu dem rest der Geschichte eben nicht authentisch, nicht gut erzählt.

Ansonsten gut geschrieben.

LG

PP

 

Hallo PeterPan,

vielen Dank für dein Feedback.

Ob mir das Thema 'alte, einsame Frau' besonders am Herzen liegt, kann ich nicht sagen. Was mir sicher am Herzen liegt, ist das Thema 'Mensch' und die manchmal kleinen, unbedeutenden und manchmal außergewöhnlichen Situationen, in die uns das Leben bringt.

Was deine Kritik der Szenen betrifft, danke ich dir für den Hinweis. Ich werde mir die Geschichte unter diesem Aspekt nochmals vornehmen.

Gruß

Arno

 

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