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Reich der Glocken
Das Reich der Glocken
Prolog
Versunkene Felsen, die an Bauten der Menschen erinnern, schwimmen verträumt auf trüben Wolkenfetzen und Ozeanen aus Licht und weißem Staub. In einem Kreis aus blanken Marmorsäulen, irgendwo im vergessenen Nichts, zwischen kleinen Bächen, die den erdigen Grund ausspülen, kauert eine Gestalt. Schwarzes, hinten zum Zopf gebunden, an den Seiten kunstvoll mit seidenen Fäden durchzogenes Haar, neigt sich auf einem runden, leicht schmal auslaufenden Kopf gegen den Schoß, auf dem ein Buch aufgeschlagen liegt. Nachdenkliche Augen folgen Hebräischen Schriftzeichen, die, gelesen und verstanden, das Ganze sind, wie alles hier vollständig ist, oder war.
Schon mischen sich graue Schleier mit reinen, warmen Strahlen aus weißer Wärme, die Marmorsäulen offenbaren tiefe Risse gegen die gräulichen Berge und Türme aus Wolken. Dort sind steinerne Paläste, die den eigenen Verfall nun nicht länger verbergen können. Das Wesen ist fast nackt, lediglich ein kurzer, weißer Stoffetzen verdeckt die Sicht auf seine Schöpfung in ihrer gänzlichen Natürlichkeit. Am Rücken, dort wo Menschen knochige Schulterblätter beherbergen, ziehen sich zwei vernarbte Risse von der Wirbelsäule hinfort in Richtung Brustkorb. An dieser Stelle tritt eine leichte Unförmigkeit in der sonst so makellosen Körperstruktur zu Tage: Die Haut scheint sich hier anzuheben, wie ein kleiner Hügel auf einer fortwährend grünen Wiese. Es liegen Trauer und Hoffnung zugleich in den nebligen Blicken, die aus blauen Augen hervortreten und lesen, lernen, verstehen, deuten und verwerfen, weil alles nichtig erscheint in diesen Tagen.
„Herr, wo bist du?“
Leise Worte aus einstmals kräftiger Kehle, die lange nicht gebraucht und wenn, dann nicht um Gedanken zu offenbaren, nur um die Stille kurz zu unterwerfen. Es hallt leicht, die feuchte Luft wirft Schall gegen sich verdichtende Ansammlungen von grauen Wolken, die nun von außen in den Kreis eindringen, sich kriechend fortbewegen, langsam aber beständig. Die Augen lassen ab von der Schrift, wandern im undefinierbaren Raum, der doch kein Raum ist, eine Welt ohne Grenzen und schauen der Dinge, die sich befremdlich anschicken, das Zentrum zu erreichen und sich dort in der Mitte zu vereinen. Er spürt den Regen, Vorbote des Sturmes, Wasser in der Luft und der Erde, der Grund wird nun schlammig und Schritte machen platschend Geräusche, denn noch etwas nähert sich aus den Nebeln dem Punkt, an dem das Buch erzählt.
Eine große, blonde Erscheinung, gewaltig, in Statur und Umfang seinem kauernden Gegenüber weit überlegen, tritt aus sich windenden grauen Fäden in die Arena. Er trägt eine weiße Robe. Quer über seinem Rücken spannt ein Riemen eine lederne, weiße Scheide auf, der mächtige Stahlgriff links über seiner Schulter, von Wasser benetzt und darum glitzernd in den letzten Momenten voll Licht, läßt eine mächtige Waffe erahnen.
Eine dumpfe und doch klare, beinahe singende Stimme bewegt seine Lippen:
„Die Welt könnt um euch herum zerbersten, Kaifai, und doch bleibt euer Blick auf das gerichtet, was die Gezeiten überdauert hat. Nicht mehr und nicht weniger ist es wohl, dass uns alle zu erretten vermag.“
„Pfade werden beschritten aber Geschichten bloß erzählt, was Worte fügen, findet sein Dasein nur durch die Tat,“ antwortet eine Stimme, als füge sie sich wider Willen in ein uraltes Kinderlied ein.
„Nun, die Zeit des Aufbruchs scheint gekommen. Er ward gefunden in den tiefen Schluchten ihrer Hochburgen. Jäger folgen seiner Fährte nunmehr viele Jahre. Das Wort muss wohl ruhen, bis das vollbracht. Die anderen breiten ihre Schwingen schon, folgt ihr?“
„Es ist sein Wille, ich folge euch.“
„Dann treffen wir uns dort, wo Leben und Tod verschwimmen, nah den Toren ihres Reiches.“
„Ich kenne diesen ewigen Weg, wir treffen uns.“
Kaifais Blick schweift ab, während sich Bathar, einer der mächtigsten der Boten, in die Luft erhebt. Mit dem Buch auf seinem Schoß, sehen seine Augen, gegen eine der Säulen gelehnt, eine matt glänzende Klinge, furchtbar und doch schön, erleuchtend und erschreckend. Buchstaben formen Wörter auf der silbernen Schneide, wie auf den Seiten eines Buches, die selben und doch anders, so viel anders.
Die Welt erscheint nun noch grauer.
Sie verblaßt um das Schwert, eine Insel des Lichts im düsteren Meer der sterbenden Zeit.
Glocken in der Ferne.
Es wird ein grausamer Kampf... Es wird... Es...
I
Federn im Wind
Es. Der Luftzug kommt vom offenen Fenster hinein, in das kleine Appartement, höchstes Stockwerk einer so menschlichen Herberge für ihresgleichen: Ein Hotel. Wenig Möbel, aber ein großes Bett mit dem Kopfende an die Wand gelehnt, zieht das Zentrum des Zimmers auf sich, eine Seitentür führt in ein enges Bad. Der Grund aus Teppich und Fliesen, wenig einladend, dort wo Teppich endet, kalte Ebenen aus bleichem Stein. Die weißen, weichen Laken und Kissen des Bettes hüllen eine Frau in sanften Schlaf, ihr blondes Haar bedeckt das in die Seite gelegte Gesicht, die dünne Decke zeichnet Umrisse eines schönen Körpers. Leicht bewegt sich der Anblick, wallend im kühlen Hauch des Stromes aus Luft und etwas Anderem. Da ist noch etwas im Raum, in der Luft. Er kann es spüren, spannt alle Sinne, die ihm noch geblieben, angestrengt starrt er in die dunkle Nacht und auf eifrige Lichter in der Häuserschlucht, die sich bewegen. Pulsierendes Leben in der Stadt der sterblichen Abbilder seiner Hoheit, dem schöpfenden Geist in seiner vollen Pracht. Der Gedanke mischt in seinem Kopf Trauer mit Haß zu einer wütenden Faust der Rache. Sein Blick sieht Häuser, hohe Türme, gähnend im Trott der unbedeutenden Nacht.
„Sie bauen wieder zu den Sternen.“
Plötzlich schnellt sein Arm hinaus, aus dem Fenster, seine Hand greift in das dämmrige Halbdunkel und wird, Etwas gefangen haltend, wieder hineingezogen. Als er sie öffnet sehen tiefe, dunkle Augen, die rötlich zu schimmern scheinen, eine kleine zerzauste Feder, leuchtend weiß in der schwarzen Umgebung. Sie kam mit dem Wind. Das von Zeit zu Zeit aufflackernde Licht einer Neonreklame zeigt nun in Schatten, einen Mann am Fenster des Raumes, mit schwarzem, durchwühlten Haar, bärtig, er wirkt alt und doch jung, von der Feder in der Hand ziehen sich dicke Sehnen unter der Haut, hoch zu muskulösen Schultern und kräftiger Brust. Muskeln sind es auch, die sein Gesicht zu einem gequälten Ausdruck verziehen, die Augen gewinnen an Tiefe und Welten offenbaren sich hinter Tränen. Die Feder weht von seiner Hand hinaus in die nächtliche Metropole, während er sich mit langsamen Bewegungen wieder neben das Mädchen niederläßt. In einem Moment zwischen Sitzen und Liegen spürt er seine Gegenwart, seine Essenz aus silbernen Ketten, die seine Arme halten, Beine verworren an türmende Wolkenpfosten binden. Es sind keine Ketten, nur Fäden, unzerbrechlich, mächtiger als er, nein als Es.
Sein Geist ist wieder dort, hoch oben im Reich des Einen, vor dem Fall, Flugwesen in der Höhe, die ihre Bahnen über einen blauen Himmel ziehen, die, Kraft ihrer Schöpfung, das Wesen aller Dinge durchdringen und eins sind mit dem, welches Er schafft. Wie Er schafft, schafft, schafft, kann nicht aufhören, Vielfalt, Schönheit, so zahlreich, aus dem Nichts baut Er Welten und sie spüren es in ihrem Geist, dürfen teilhaben am Füllen der Leere mit Leben. Aber Es ist da oben, Teil der Tauben und ihres Schwarms. Nicht einmal seine Weisheit erahnt die Sünde und Versuchung, in seinem beschäftigten Kopf ist Er nur am bauen, werkeln, konstruieren. Warum sieht Er nicht den Tod hinter dem Sein, die Finsternis, wenn Sonne nicht scheint, Er sollte doch wissen, spüren, dass die Pforten des Chaos brodeln.
„Ich verfluche Dich, verfluche Dich für mein Dasein. Wolltest freie Wesen schaffen, aber Schicksal machte uns zu zerstörten Kreaturen und heute jagen uns die Flügel.“
Er schläft ein. Niemand merkt, wie durch die offenen Fenster mehr Federn mit dem Sog des Windes in das Zimmer dringen. In der Dunkelheit schwirrende Punkte, wie Boote im Sturm des Meeres, sie durchdringen den Raum, tränken jede Ecke. Es scheint als kämen sie aus allen noch so winzigen Rissen im Boden, die kleinste Unförmigkeit im Mauerwerk bietet Platz um einzudringen. Nur wenige Minuten dauert es, da ist das ganze Zimmer geflutet mit Federn, sie liegen auf den Möbeln, keine Fliese ist mehr zu sehen, ein Teppich aus weichem, weißen Gefieder. Ein Schneesturm im Sommer und dann aus der Weite des Unendlichen, zuerst leise und entfernt, dann näher kommend, ein Geräusch, das sich selbst vorantreibt und zum hellen Klang anschwillt, eine Musik der Sphären, die einen Rhythmus bildet, der schöpfenden Wesen das warme Gefühl der Liebe offenbart: Glocken, Glocken sind da, in der Nacht.
Zeit, nicht länger als ein Augenaufschlag, vergeht, als das ungeordnete Umherschwirren der Federn Form annimmt, sich materialisiert mit einem durchdringenden Element, das in der Welt schwebt und niemals von Menschen wahrgenommen wird. Außer im dem kurzen Augenblick zwischen Leben und Tod, wenn Er sie wieder zu sich ruft, oder zerrt.
Um das Bett stehen plötzlich in einem Halbkreis versammelt sieben Gestalten, die Federn entschwunden, sind sie weiße Silhouetten in der Schwärze des Schlafes, große Schwingen auf ihren Rücken, sieben Tauben. Reine Waffen, ein jeder mit Schwert. Einer hält einen Bogen gespannt mit einem weißen Pfeil, auf die Schatten unter der Decke, die sich nicht rühren, und Ketten, der Größte von ihnen trägt mächtige, silberne Ketten verschlungen um seinen Körper, obwohl geschmiedet aus vielen feinen, winzig kleinen Gliedern. Die Hände der anderen fünf greifen die langen Griffe der Schwerter, die, mit der Spitze auf den Boden gerichtet, aussehen, wie das Kreuz des Messias vor ihren Körpern. In der Mitte der mächtige Blonde, Bathar, wie ein Felsen im schwarzen Sturm. Ihre Augen verbunden mit weißen Tüchern und darunter ein schimmerndes Rot wie Feuer, das aus brennenden Schloten versucht in die Finsternis zu entfliehen. Es scheint als weinten einige von ihnen, wäßrige Tropfen fließen die strahlenden Gewänder herunter, die aber bedeckt sind mit glitzernden Rüstungen und Harnischen, Kettenhemden und Brustpanzern. Waffen und Rüstungen aus den alten Tagen, der Krieg gegen die Legionen der Kälte und des Feuers zugleich, vernarbte Hände und altes Blut an den Schneiden sind nur weitere stumme Zeugen. Ihr Blick, wenn es unter den Masken denn einen gibt, durchbohrt die Nacht in Richtung des schlafenden Paares, starr und steif wirken ihre Glieder, doch bewegen tut sich niemand von ihnen. Wie ein Schrecken, der sie erfüllte, kurz nach dem Betreten, oder wie jemand der gekommen ist, einen alten Freund zu erschlagen.
II
Wege ins Paradies
Während sie stehen, der helle, melodische Klang in der Ferne, zieht ein Gesang auf. Stimmen, wie von einem Knabenchor, trotzdem tief und durchdringend, werden laut, doch die sieben Boten bleiben stumm. Mit zunehmender Dauer werden Worte deutlich:
Ich bin, was du geschaffen,
Bin dein eigen Fleisch , dein Blut,
Deine Schöpfung glänzt im Schatten,
Rötlich blühend im Morgenrot.
Macht und Stärke sind dir eigen,
Vereinst die Kraft in deiner Mitte,
Dein Erscheinen läßt sie leiden,
Erkenne mich und meine Bitte.
Stolze Banner meines Herren,
Brandmarken meinen Körper,
Und die Sehnsucht und die Liebe
Machen meinen Willen härter.
Feuersturm erstickt die Welten,
Düster, finster, unbewohnt,
Doch die Herzen deiner Kinder,
Deine Heimat unberührt.
Es scheint, als wiederholten sich die Zeilen viele Male, bis der Mann erwacht, die Augen aufreißt und der Anwesenden gewahr wird. Sein Blick schnellt durch den Raum, erschrocken aber suchend, einen langen Stab findend, der, eingehüllt in dreckig braune Tücher, in einer dunklen Ecke schlummert. Die Decke weggerissen, steht er urplötzlich im Bett, eine weiße Mauer im Halbkreis um sich, die Frau verharrt in ihrer stillen, schlafenden Haltung. Schwerter richten sich bedrohlich gegen ihn, die Spannung seines Körpers, ihrer Körper ist am Höhepunkt, er atmet tief ein. Mit einem, seine eigene Angst erdrückenden Anfall von Mut, öffnet sich sein Mund:
„Willenlose Diener, nichts weiter.“
Ein mächtiger Sprung folgt, das Bett federt, über die Schar hinweg landet er sicher in deren Rücken, richtet sich auf und setzt zum Spurt auf den Stab an. Schon lösen sich die Tücher, wie von selbst streifen sie ab und geben in der Finsternis drei rot schimmernde, spitze Zacken an der Oberseite frei. Doch bevor seine Hand greifen kann, spürt er einen dumpfen Druck im Genick, der ihn zu Boden wirft, vornüber. Er windet sich, versucht den Angreifer abzuschütteln, der ebenso schnell und weit sprang und jetzt über ihm ist, hat sich beinahe weit genug gedreht, um zum Schlag anzusetzen, als seine Handgelenke von dünnen Fesseln umflossen werden. Dann die Knöchel, die Beine, Arme, Hals und Becken. Ein zweiter Angreifer führt die Enden der Fäden, die zu mächtigen Ketten erwachsen. Gefangen. Die Händen halten jedes Kettenende verschlossen in einer ballenden Faust und spannen die erdrückenden Fesseln auf, so stark auf, dass an Bewegung nicht zu denken ist, jedenfalls nicht ohne immensen Widerstand. Ein Dritter von ihnen schreitet am geschlagenen, geketteten Elend vorbei, ist mit zwei Schritten in der Ecke und bedeckt den, mit einem roten Kranz umgebenen Stab. Sein Blick dabei ist voller kalter Furcht, seine Bewegungen erstarren als seine Hand der Waffe zu nahe kommt. Sofort zurückgezogen zeigt sich eine verbrannte Innenfläche, dampfendes, verkohltes Fleisch, doch die grausame Erscheinung ist wieder verhüllt.
Bathar, der bisher unbeweglich neben Kaifai gestanden hatte, tritt nun auf den am Boden liegenden Gegner, auf den Feind, zu. Kaifai folgt ihm mit seinem Blick, seinem Gesicht, ohne Augen, zeigt quälendes Mitleid und Haß, ein Ausdruck der unbeschreiblich anmutet. Nicht ohne Vorsicht erklingt die tiefe Stimme des mächtigen Boten, Bathar:
„Deine Wahl ist es wieder und in alle Zeit, deine Wahl. Ich verabscheue dich und deine Existenz, wie Er dich lieben kann, bleibt mir ein Schleier.“
„Er liebt mich, aber bist du frei von Rache, dann beende Es, hier und heute“, antwortet der bärtige Mann, sich gegen die Ketten stemmend, was dazu führt, dass er sich leicht aufrichten kann. Sein Blick ist fordernd, seine Stimme spuckt Gift und feurige Glut.
Wie gut sie sich kennen, wie ewig die Welt ist. Kaifai schaudert.
Bathar beugt sich jetzt weit zu ihm herunter, kann seinen heißen Atem im Gesicht spüren, zögert:
„Warum hast du mich zu dem verdammt, warum muss ich diese Bürde auf meinem Rücken ertragen, dein Leben ist mein stinkender Fluch. Ich kann dich bekämpfen, doch mit jedem Schritt stürze ich die Flügel weiter in den Abgrund.“
„Das ist Wahn. Erkennst du nicht den toten Sinn, die Leere deiner Aufgabe, wie ausgehöhlt dein Streben ist? Tu es nicht, löse dich aus diesem wirren Traum, suche deinen Willen, rette dich selbst vor dem fanatischen Blender. Er ist tot, fort, entschwunden, dieser Krieg ist ohne Glaube!“
„Du irrst, ich bin der Glaube.“
Ein markerschütternder Schrei entreißt sich der Kehle des Mannes.
Bathar richtet sich wieder auf, beginnt mit gesenktem Kopf zu flüstern:
„Vater Unser ...“
Hinter ihm, dort wo bis eben ein Bett stand, das Mädchen schlief, ein heller, beißender Lichtstrahl, weißes Feuer aus den Höhen, dass auf einmal von einem dunklen Schatten überlagert wird, Kaifai blickt sich um, trennt seinen Blick von Bathar, und sieht, wie sich hinter ihm ein steinernes Kreuz hochschraubt. Aus den Fliesen richtet es sich senkrecht empor.
„Geheiligt Werde Dein ...“
Beide Arme weit von sich streckend, angeschmiegt an das nun zum festen Stand kommende Steinkreuz, die Hände und Füße durchstoßen von Nägeln, eröffnet sich Kaifais Augen ein unwirklicher Schrecken. Mit hängendem Haupt, die langen, goldenen Haare ihr Antlitz verdeckend, steht, oder schwebt, beinahe ruht das Mädchen vor den seinem Blick. Sie waren gekommen, hatten die Grenze überschritten, um das zu vollstrecken, was alte Stimmen flüsternd befahlen.
„Dein Reich Komme ...“
Glocken und himmlischer Chor entfernen sich, die ersten Tauben, Boten, Grenzgänger, wie man sie auch nennen mag, entschwinden schon in die Dunkelheit. Das Licht erlischt langsam, schwarze Schatten kriechen aus den Ecken, Nacht hält wieder Einzug. Bathar hebt das Haupt, faltet noch einmal die Hände und ist, ohne zurückzublicken, mit einem staubigen Lichtimpuls fort. Zurück bleiben wehende Federn, die Strudel bilden und die Fenster aufstoßen und klappern lassen.
Der alte Mann kniet nun, die Ketten fallen von ihm ab und sickern, erst wie dickflüssige Schlangen, dann wie klares Wasser, in den Teppich. Sein Blick ist gesenkt, wagt nicht aufzuschauen, denn er kauert unmittelbar am Fuß des Kreuzes aus Stein, von dem nun Blut den mittigen Pfahl hinabfließt und mit dem Wasser der Ketten auf wunderbar anzusehende Weise vermischt. Leicht versetzt, in seinem Rücken, blickt ein verstörter Geist auf unfaßbare Qualen. Kaifai, der sich die seidene Binde von den Augen genommen hat, kauert, von Dunkelheit eingeschlossen, ruhig und abwartend, aber innerlich gerüttelt von Traurigkeit, mit teils fragenden, teils wissenden Augen. Ein ferner Ruf erklingt, dem er nicht folgt. Stille.
III
Alte Wahrheit
In der Verborgenheit der Nacht, unendlich voneinander entfernt und doch auf kurze Distanz, zwei Wesen. Kaifai weiß nicht mehr, wie lange er regungslos im Rücken des Mannes abgewartet und geschwiegen hat. Er fühlt Angst, Trauer und ein Gefühl, das ihn drängend, quälend zum Aufbruch zwingen will. Trotz allem bleibt er und kämpft jeden Zweifel nieder, als er es schafft Lippen zu bewegen, leise und mit Bedacht, er hat Zeit gehabt ihren Sinn zu formen, folgen dem Willen Worte:
„Was sind wir ohne dich?“
In der Bewegungslosigkeit des Körpers, erkennt Kaifai, dass der Mann keineswegs überrascht ist, leicht dreht er den Kopf, aber nur soweit, dass er nun im Augenwinkel das weiße Etwas in der Entfernung erahnen kann.
„Nichts. Vorher war kein Leben, nur der Traum.“
Mit einem mageren Lächeln fügt er hinzu:
„Du wandelst nicht oft auf diesem Boden, deine Stimme ist so klar.“
„War es Liebe zwischen euch ... ist es noch?“
„Ich bin nur Teil. Wie du.“
„Das Mädchen, ich spreche von ihr.“
Mit jeder Minute, die vergeht, wird er unsicherer, etwas zieht den Boten zu sich, in die Ferne. Der Mann ist lediglich kurz erstaunt, und antwortet nach langer Pause.
„Sie gehört auch zu all dem hier, ist nur winziges Korn in der Wüste unserer Zeit. Oh ja, Wüste ist eine so passende Umschreibung für seine Kreation. Weise ist er nicht, nur begabt in mancher Hinsicht, das muss ich wohl zugeben, aber zu Weisheit gehört die Erkenntnis der eigenen Schwächen. Leben ist durchsetzt, mit Krankheit, Leid und nicht zuletzt dem Tode höchstpersönlich, ein lustiger Geselle, nur seine Aufgaben sind so undankbar."
Wieder nur ein Anflug, der Versuch, das wahre Innere zu unterdrücken. Abermals gelingt es ihm nicht und so fährt er, wie verändert, fort:
„Ich liebte sie und doch bleibt Schatten über meinem Haupt, wenn ich sie sah, berührte, es scheint, als versuchte ich es nur. Sie lebt ein Leben, weit entfernt, zu weit für das, was ich jemals aus eigener Kraft erreichen könnt, zu weit für meine Wahrheit, für mein Streben, doch nicht für mein unendlich tiefes Tal, durch das ich wandern muss, die Ränder gesäumt mit Leid und Blut. In der Länge reicht es bis weit an alle Grenzen dieser Welt, füllt diese vollständig aus und umgibt sie, als wenn alles Ich ertränkt werden soll. Leid ist die enorme Vielfalt der Gefühle, die sich zu einer schrecklichen Vollständigkeit summieren, was mir widerfährt mag Tausende von geringeren Wesen, schon tausendmal heimgesucht haben. Trotzdem drängt nur mir sich, in diesen Moment ein Verlangen auf, das alles neben der Vernunft abzudunkeln vermag, das nichtig wirken läßt, was vorher so vehement von meinem Geist zu absolut höchster Priorität ausgerufen wird. Ich erkenne sie, den wahren Engel und dich, du Taube, von Gott geschaffen, ein Geschöpf mir ähnlich und doch nicht gleich, denn mich selbst verachte ich. Mein Spiegel, ach was, meine unbedingte Notwendigkeit zum Weiterleben und doch alles nur dem einen Zwecke dienlich. Geburt wird zum Feuersturm, Knaben töten ihre Väter und die Liebe bleibt zum Schluss, der Schoß aus dem Legionen von Mördern schlüpfen, um das Licht der freien Welten zu erspähen. Indem ich liebe, schaffe ich, wie Er vor Urgezeiten, doch was sie austrägt und gebärt, ist euer schlimmster, dunkelster Widersacher. Geh jetzt, Es trennt uns, Es ist meine Natur, auf ewig seien wir brüderliche Todfeinde.“
Wie aus einem Traum, voller Einsicht, herausgerissen, öffnen sich die Narben an Kaifais Rücken und geben zwei riesige, mit hellem Blut verschmierte Schwingen preis, die sich sofort ausbreiten. Mit einem letzten haßerfüllten Blick taucht er in weißes Licht und ist fort. Der Raum färbt sich glühend rot, Hitze erstickt alles, Feuer breitet sich aus und verbrennt die sterblichen Überreste des Mädchens.
Feuersturm erstickt die Welten.
Noch während er im Flug ist, die Welt der Menschen zu seinen Füßen, erhebt sich die Sonne in einem dunkelroten Ball aus Glut und Asche, im pfeifenden Wind erschallt aus brennender Kehle ein Name, der sich heiß und schnell in das Bewußtsein des Engels brennt. Kaifai wiederholt flüsternd, voll von Gewalt, alles Mitleid vergessend, den einen Namen immer und immer wieder:
Morgenrot,
Morgenrot,
Morgenrot,
Morgenrot,
Morgenrot,
Morgenrot,
Teufel.