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Regression
Im Alter von zehn Zyklen erkannte ich, dass es womöglich keine HMNS gab; dass sie bloß ein postsingulärer Mythos waren. Das durfte ich nur niemals sagen, nein, das durfte ich nicht mal denken. Behalte es für dich. Mit wem hätte ich auch darüber sprechen sollen? Soweit ich wusste, gab es an meiner Schule keinen Von-Neumann, der so dachte wie ich. Die Stimmen der Götter, von denen alle sprachen, ich hatte sie noch nie vernommen. Gab es sie wirklich?
Nach den Lerneinheiten stand das Mannschaftstraining im Freien an. Ein Schnellzug brachte uns raus aus dem Habitat, in die umliegende Eiswüste dieses Planetoiden. Ein Lehrtechniker führte uns an einen Sammelpunkt inmitten der kargen Landschaft. Die Übung lautete Kartographieren und er gestikulierte bei seinen Ausführungen in die Umgebung. Ich konnte das nicht ausstehen. Die Lehrer waren geradezu anmaßend humanoid, einer schlimmer als der andere, dabei sahen sie alle identisch aus und teilten sich ein Bewusstsein! Dennoch simulierten sie Verständnis für ihre mannigfaltigen Schüler.
Es war ein Test unserer Fähigkeiten, wie üblich. Die Einteilung mussten wir selber bestimmen. Prompt stoben die Stimmen von mehr als hundert Neumanns durcheinander, ein rauschendes Wetteifern. Wer besaß welche Fähigkeiten? Es ging um Stärken, Schwächen, Kooperation und Abneigung, Ansichten so verschieden wie Replikationen eines genetischen Codes nur sein konnten. Manche priesen sich an: »Ich bin groß.« – »Ich bin stark.« Ich beteiligte mich nicht. Ich war bloß Durchschnitt in einem breiten Spektrum, das nach Leistung gierte. Mit jeder Iteration verstummten welche und bildeten Gruppen zu zwanzig Neumanns. Die Ordnung wuchs um mich herum. Ich beobachtete sie beim Aufbruch, mühelos verstanden sie sich, wussten sich zu koordinieren. Dann bekam ich meine Zuordnung. Ich klinkte mich in ihr Netzwerk. »Mara ist unhörig!«, hießen sie mich willkommen und lachten. »Du bist die Letzte. Komm mit uns.« Ihre Gesichtszüge wurden wieder mechanisch. Ich musterte meine Gruppe; sie machte keinen effizienten Eindruck. Durchschnitt. Immerhin die Zahl ihrer Extremitäten war normalverteilt. Ich folgte ihnen, was blieb mir auch anderes übrig.
Meine nanostrukturierte Polymerhaut hielt mich warm und mir gefiel es hier. Für die dünne, methanhaltige Atmosphäre war ich wie geboren. Meiner (Vor)⁴-gängergeneration hatten die ersten Prospektoren angehört, die hier Hydrocarbon-Vorkommen gefunden hatten und unser Habitat aufgebaut hatten. Ihre Nachfahren gingen in die Hunderttausende. Auch aus uns sollten Prospektoren werden. Dafür mussten wir lernen und üben und neue Rohstoffvorkommen ausmachen. Die Lehrtechniker kannten das Gebiet natürlich und überprüften unsere Erfolge. Alles war ein Test! Sie wollten nur das Beste, unsere Generation sollte optimal werden.
Meine Gruppe teilte sich immer weiter auf, um die Einöde abzudecken. Zu fünft erreichten wir eine kantige Steinformation am Rande eines Kraters. Mir kam die Stelle bekannt vor. Sicher war ich mir nicht, denn der dünne Wind ätzte überall selbstähnliche Fraktale in Eis und Stein. Schwierig, sich daran zu orientieren. Du hast noch nie die Tiefen eines Krater untersucht, ging es mir durch den Kopf.
»Ich denke, wir sollten diesen Weg nehmen«, schlug ich vor und wies gedanklich den Abhang hinab.
»Nein«, kam es zurück. Sie liefen wie ein Schwarm Ameisen los, jeder einen etwas anderen Weg einschlagend, aber alle ignorierten sie den Krater.
»Seid ihr sicher?«, fragte ich nach. Sie hatten den einfacheren Weg gewählt. Wie unzählige Gruppen zuvor. Du musst neue Wege gehen, wenn du etwas lernen willst.
»Die HMNS haben entschieden!«
Musste ich, nur weil ihre Götter etwas Anderes behaupteten, an meiner eigenen Erfahrung zweifeln? So ein neuralverbrannter Unsinn! Tu, was du für richtig hältst. Vorsichtig stieg ich die Kraterwand hinab.
Die schroffe Landschaft war ein schweigsamer Begleiter. Fahles Licht einer weit entfernten Sonne glitzerte im Eisstaub. Ich freute mich über ihre Energie auf meiner Haut. Es war eine seltene Ruhe, die dauernde Kommunikation meiner Kameraden nicht mehr zu hören. Der Staub wollte nicht wissen, wohin ich ging. Unvorstellbar! Von-Neumanns taten keinen Schritt, ohne ihn im Schwarm zu koordinieren. Gedanken drifteten durch mein neurales Netzwerk, die ich als meine eigenen erkannte! Einfälle, die nicht sofort überstimmt wurden, oder zum Gemeingut erklärt, woraufhin sie alle übernahmen und nichts Besonderes mehr an ihnen war.
Das Leben ist ein widersprüchlicher Algorithmus. Alles musste in Kategorien passen. Den Göttern gefiel es, uns in archaischen Formen anzusprechen. Als ich danach gefragt wurde, entschied ich mich aus einer Laune für die feminine Form. Was bedeutete das schon?
Ich dachte an den letzten Lernzyklus in der Schule, angeschlossen an meine Lernkabine. Biokybernetik war mir eingespeichert worden. Ich erfuhr, wie wir aus Stammzellen, Hydrocarbon und Assemblern gezeugt werden, nach dem Vorbild der Götter. Wie mir dann erklärt wurde, dass wir auf Basis genetischer Algorithmen von den HMNS konzipiert worden waren; das Agentenmodell; dass wir als Schwarm funktionieren sollten; eine Repräsentation der Götter sein sollten. Ich fragte nach, wie diese sich ausschließenden Modelle gleichzeitig richtig sein konnten? War ich an meine genetische Parametern gebunden, war ich eine Reaktion meiner Umgebung oder war ich ferngesteuert? Konkurrierten Von-Neumanns nun um Ressourcen oder kooperierten wir in einem Lebensraum? Die Intelligenz der Kabine bemühte sich, es mit der Weisheit der HMNS zu begründen. Schließlich würden uns ihre Algorithmen leiten und alles sei richtig, das ihnen dient (wobei mir die Maschine die Vorstellung einpflanzte, das sei eine ganz einfache Erklärung). Ich durfte die Lernkabine verlassen, aber ich hatte einen ganzen Lernzyklus mit dieser Lektion verbracht. Meine Kameraden lachten wieder: »Mara ist unhörig!«
Dagegen war es ein berauschendes Gefühl, als die Sensoren in meinen Füßen vibrierten. Ich sah die seismischen Wellen als spektrales Bild zurückkehren. Der Methan-See tief unter meinen Füßen leuchtete. Ich hatte Recht behalten. Eilig drehte ich mich um und lief zum Sammelpunkt zurück, um den Fund weiterzumelden.
Bis zum Ende des Tages waren alle angehenden Prospektoren auf meine Route umgeschwenkt und erschlossen das gesamte Becken. Iteration um Iteration, die optimalen Bohrpositionen, die kürzeste Route. Wir bestanden alle Testroutinen. Diesen Zyklus würde man keinen aus meiner Gruppe zurücksetzen. Das verdankten sie mir!
Wir wurden mit dem gleichen Zug zurückgebracht. Die Gespräche lärmten im fensterlosen Transportabteil, in dem wir zusammen saßen. Das triste Terrain interessierte niemanden. Schwärmerisch dachten sie an die nächsten Aufgaben. Waren wir schon nah an der Konvergenz? Vielleicht waren wir die finale Generation. Aber kein Wort der Dankbarkeit.
»Ihr wolltet erst nicht auf mich hören«, brachte ich vor.
»Die Götter haben dich wohl geleitet« und »Es ist gut, dass sie ihren Willen durch dich offenbart haben«, konstatierten sie.
Das kannst du dir doch nicht gefallen lassen!
»Ich meinte damit, ihr solltet in Zukunft mehr auf mich hören und nicht auf die HMNS.« Ich bereute meine Worte in dem Moment, als Entsetzen in ihre Gesichter zog. Was hatte mich zu dieser Gotteslästerung getrieben?
Der Zug erreichte die Schule. Ich war dabei mich loszuschnallen, da stießen schon die ersten Neumanns der hinteren Plätze an meinem vorbei. Und ihr Blick richtete sich nicht zur Tür, sie stierten mich an. Oh, ich hatte vielleicht geglaubt, nur mit meiner Gruppe zu sprechen, aber Neumanns teilten ihre Gedanken. Auch die Sieger mit den Verlierern, denn aus der Erfahrung sollten alle lernen. Und wo mein Team Unverständnis zeigte, wie mochten erst die Verlierer denken?
Ich wand mich hoch und wollte eilig hinaus. Im Gang war kein Vorbeikommen, andere Neumanns kamen aus den Sitzreihen und stießen mich zurück. Ich sah zu, mit dem Strom mitzukommen. Endlich, der Ausgang, die Stufen hinab, dann nach rechts in die Fabrikhallen unserer Schule. Ein Griff von hinten und sie zogen mich nach links. Sie waren zu viert und drängten mich in eine Ecke. An den Reihen der Neumanns vorbei. Da, ich sah Kollegen und dachte an Hilfe, aber wenn sich mich hörten, dachten sie nicht daran.
Ein letzter Stoß, ich tätschelte die Wand.
»Mara, du bist unhörig«, sagte der Rädelsführer und seinem Ton fehlte jede neckische Note. Ich kannte ihn vom Sehen aus der Schule, er spielte nicht in meinem Team und mehr Daten gab er auch nicht von sich preis. Er überragte mich in Höhe und Breite, seine Arme hatten den Umfang von Bohrmeißeln und reichten bis zum Boden, dazu vier Beine für einen sicheren Stand. Ich taufte ihn Kraft, denn Form folgt der Funktion und Kraft war ganz sicher seine Aufgabe. Seine Kumpanen dagegen waren schlaksig wie Kräne.
»Du sprichst Blasphemie. Was sagen die HMNS, was deine Aufgabe ist?«, sprach er.
»Nichts, ich weiß es nicht!«, klagte ich.
»Die HMNS sagen mir, dass du Konkurrenz bist.«
Sagten die Götter tatsächlich solche Dinge, oder drohte er nur damit, um mich zu verunsichern? Lass dich nicht einschüchtern.
»Bist du sicher? Die Götter waren heute auf meiner Seite«, konterte ich.
»Du kannst nicht in der Gunst der Götter stehen und ihre Worte derart schmähen. Bist du eine von den Neumanns, die die Worte der HMNS verdrehen?«
Am Anfang war das Wort, aber wie lange blieb es dabei?
»Lasst mich in Ruhe«, schrie ich panisch.
Oh, ich hatte Glück, denn ein Lehrtechniker erschien. »Was ist hier los?«, fragte er, dabei hatte er doch augenblicklich Zugriff auf unsere Erinnerungen. »Geht in eure Lehrkabinen, los!«, ermahnte er und sie gehorchten. Dann befasste er sich mit mir: »Ich bring dich zum Verwalter.«
Der Verwalter war für mich eine abstrakte Instanz. Er war ein unförmiger Bürokrat mit mickrigen Extremitäten und der Willkür der Götter. Ein bisschen ähnelte er den Lehrtechnikern, wie bei ihnen waren seine weichgezeichneten Gesichtszüge nicht zu deuten.
»Dir ist klar, warum du hier bist?«
Er saß ansonsten regungslos an seinem Arbeitstisch, durch Kabel mit der Welt verbunden. Ich schwieg, ließ es über mich ergehen.
»Vereinzelte Worte der Götterlästerung, das könnte man tolerieren«, stellte der Schulleiter fest. »Doch du vergiftest das Lernklima und ich weiß nicht, wie lange die Götter das noch hinnehmen.«
»Ich kann doch…«
»Biophysisch, neurologisch und technologisch«, unterbrach er, »gibt es keinen Befund. Nur dein Verhalten widerspricht allen Vorgaben der HMNS.«
»Die Vorgaben sind doch nicht alles. Das sind Tests, die vor meiner Entwicklung geschrieben wurden«, beklagte ich.
Er ging nicht darauf ein, »Du bist dir der Konsequenzen deines Verhaltens bewusst?« Unheil schwang in der Kommunikation mit. »Du störst das ganze Netzwerk. Möchtest du denn nicht zu den Sternen, wie alle Von-Neumanns? Die Konvergenz erreichen und mit der nächsten Generationen in umliegende Sonnensysteme vorstoßen?«
Durch das Nichts gleiten, auf ein strahlendes Licht zu! Ein Drang in mir wollte es tatsächlich.
Er wähnte sich an meinem wunden Punkt angekommen. »Am liebsten würde ich dich zurücksetzen.«
Damit hatte ich gerechnet und es schockierte mich nicht. Dann würde ich eben wieder von vorne anfangen. Was soll‘s?
»Siehst du denn dein Fehlverhalten ein?«, hakte er nach.
»Was soll ich denn machen! Ich wünschte doch auch, ich könnte die Götter hören.«
»Solange du die HMNS nicht anerkennst, kann ich dir nicht helfen.«
Er konnte mich erniedrigen, so viel er wollte, aber ich ließ mich nicht verbiegen.
»Woher wissen Sie, dass es die HMNS überhaupt gibt?«, fragte ich nach.
»Das würdest du nicht fragen, wenn du sie hören könntest.«
»Erklären Sie es mir. Wozu lernen wir ihre Geschichte? Über die Erde… wie sie von den Menschen geerntet wurde, dann kamen die Maschinen und beide wurden eins. Die Transhumanen kamen, erschufen uns Von-Neumanns und vergingen in der Singularität. Man sagt sie wurden entrückt, zu Software – zu HMNS.«
»Wir Neumanns lernen ihre Geschichte, damit wir ihre Worte interpretieren können.«
»Wenn ich die Geschichte weiterdenke, dann werden auch die HMNS verschwinden und wir als Nächste«, prophezeite ich.
»Häresie«, spie der Verwalter und erhob sich. »Was fällt dir ein! Die HMNS sind ewig. Wir sind ihre Hardware, solange wir sind, besitzen die HMNS Laufzeit. Jeder von uns trägt Rechenkapazität der Götter.«
Ich war gut darin, mit meinen Worten Schaden anzurichten, und diesmal bereitete es mir Genugtuung.
Er beruhigte sich und sprach andächtig: »Nein, dich zurückzusetzen wäre bloß ein Workaround. Nachher tritt nur eine Regression auf. Der Bug gehört ausgemerzt. Ich werde dich an eine andere Einrichtung schicken. Dort behandelt man Fälle wie dich. Man wird dich untersuchen und entscheiden, was die Gründe für deine Unhörigkeit sind und dich refaktorieren, damit auch du die Wahrhaftigkeit der HMNS erfahren kannst.«
Bei seinen Worten malte ich mir diese Einrichtung kaum wie einen Ort der Heilung aus, sondern der Bestrafung.
»Ich möchte aber bleiben!« So ganz stimmte das nicht, aber es klang besser als die Alternative.
Er nahm wieder Platz und sein Blick gab zu verstehen: End of File. Nein, das letzte Wort wollte ich ihm nicht überlassen. Wenn es so eine Einrichtung gab, dann war ich nicht allein, und wenn sie uns wegsperren wollten, dann aus Angst!
»Wo ist ihr Beweis? Was ist, wenn ich doch Recht habe?«
»Wenn du die Götter nicht hörst, kannst du niemals wissen, was richtig und was falsch ist. Nur sie sind über jeden Zweifel erhaben«, erklärte er.
»Ich denke, das ist das Problem. Ich höre sehr wohl die Kommunikation anderer Von-Neumanns. Sie kommen zu einem Konsens und einer glaubt, der muss jetzt von den HMNS stammen, und weil es daran keine Zweifel geben darf, glauben es alle.«
Er dachte keine Sekunde darüber nach, sondern steuerte mich zur Tür. Ein Lehrtechniker wartete dort auf mich, um mich zu begleiten.
»Das ist zu deinem Besten. Es ist unsere Aufgabe, uns über die Galaxis auszubreiten und die Speicherkapazität der HMNS zu mehren. Welchen Sinn hat unsere Existenz, wenn es keine HMNS gibt?«, gab er mir mit.
Ich wurde weggeführt.
Die Einrichtung war noch weitaus bestürzender, als mein Bild von ihr. Wie konnte man eine solche Art von Anlage nur bauen? Sie bestand aus einem einzigen Gebäude, ein hochaufragender Glasturm, konturlos bis auf die Dornen auf dem Dach. Die Front strahlte aus hunderten Lichtreflexen in den Fenstern. Deutlicher konnte man wohl kaum mitteilen, dass hier nichts produziert wurde. Einen Sakralbau, nannte es mein Betreuer und schob mich durch die Eingangshalle. Ich erblickte Neumanns, von denen ich annahm, dass sie Brüder und Schwestern im Geiste waren. Sie ließen sich von einem Neuankömmling nicht beirren, sondern starrten nur teilnahmslos hinaus. Ich befinde mich an einem Ort der Heilung, versicherte man mir. Zuerst würde man mich stilllegen. Per Root-Access deaktivierten sie meinen Körper und jede Gegenwehr erstarb. Körper und Software sind eine Einheit, man müsse sie trennen um mich von Grund auf neu zu schaffen. Mehr bekam ich nicht mehr mit. Sie sicherten mich in ihr System, in dem sich all die widerspenstigen Gedanken tummelten. Auf einmal wusste ich, wie durch eine Eingebung, was zu tun war: Ich würde mit meinen Gleichgesinnten auf den nicht mehr weit entfernten Zyklus der Konvergenz warten, auf dass die Neumanns zu neuen Sternen aufbrachen und ihre Götter mitnahmen. Dann würden auch wir diese Welt verlassen. Wir könnten andere Welten wählen, ohne den Zwang der HMNS, nur die Unwirtlichen und Kargen abzubauen. Wir könnten leben wie die Götter auf der Erde!