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Regionalexpress
Mein Rucksack war so voll, dass die Reißverschlüsse beinahe rissen. Die Plastiktüte, die neben mir auf dem Boden stand, enthielt zwei Topfpflanzen, außerdem Stifte, Taschenrechner, Lineal, Handcreme. Ich hatte in Windeseile hineingeworfen, was an persönlichen Gegenständen in meinem Büro herumlag.
Verspätung: 35 Minuten stand auf der Anzeigetafel am Bahnhof Grund: Unwetter. Dann sprang die Anzeige um, ein anderer Zug wurde angekündigt.
Eine halbe Stunde später war weder mein Zug noch der andere in Sicht. Der Wind fegte in Böen über den Bahnsteig, fuhr in meinen Jackenkragen und kühlte meine Hände auf Kühlschranktemperatur. Ich zitterte am ganzen Körper.
Noch eine halbe Stunde später waren auch die Füße zu Eisklumpen gefroren, das Zittern war unkontrollierbar geworden. Die Gruppe, die am Bahnsteig wartete, wurde kleiner. Viele hatten offenbar die Idee, nach Hamburg zu fahren, aufgegeben und sich ein Zimmer in einer der Pensionen im Ort genommen. Oft genug hatte ich dasselbe getan, heute kam es nicht in Frage: Ab morgen, endlich, würde ich wieder in in meiner Heimatstadt arbeiten. Ein paar Fahrradminuten von meiner Wohnung entfernt. Traumhaft.
Um kurz nach 9 beugte ich mich über das Gleis und sah – tatsächlich – die Lichter einer Lok auf uns zufahren. „Hamburg“, stand auf der Anzeige. Erleichterte Ausrufe, ein Raunen ging über den Bahnsteig. Die Unerschrockenen, die die Fahrt nicht aufgegeben hatten, stürmten den Zug.
Ich suchte mir einen Sitzplatz, stöpselte Kopfhörer in die Ohren, schaltete mein Hörbuch an und bemühte mich, meine Umgebung nicht wahrzunehmen. Wenn ich Glück hätte, wäre ich um halb 12 zu Hause. Dann würde ich gerade noch genug Schlaf bekommen, um zumindest nicht mit schwarzen Augenringen in den neuen Job zu starten.
Der Zug hielt an. „Bad Kresen, dieser Zug endet hier, bitte alle aussteigen“, sagte die Stimme. Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Das konnte nicht sein, vorhin hatte der Bildschirm im Zug Hamburg als Ziel ausgewiesen. Nun stand da „Bad Kresen“.
„Die spinnen ja“, erklärte ich. „Ich bleibe hier drin. Mindestens bis gegenüber ein Zug nach Hamburg steht!“ Die junge Frau gegenüber war aufgestanden, setzte sich nun aber wieder. Ein junger Mann, der mindestens die zweite Bierflasche dieser Fahrt in der Hand hielt, zeigte gar keine Reaktion. Eine resolute, kurzhaarige Frau um die 50 stand auf. „Ich sehe mal, ob ich etwas herausbekomme“, sagte sie.
Ein paar Minuten später kam sie mit dem Schaffner zurück.
„Wir müssen rangieren“, sagte der. „Sie können gleich auf Gleis 1 wieder einsteigen.“
„Was zum Teufel soll das?“ Definitiv ein hysterischer Ton in meiner Stimme. „Wieso können wir nicht hier drin bleiben? Und was ist an Bahnsteig 1 besser als hier? Wieso fährt der Zug nicht? Ich will die Nacht nicht im Zug verbringen, sondern in Hamburg!“ Meine Stimme drohte, sich zu überschlagen.
„Wir können nichts dafür“, blaffte der Schaffner nun zurück. „In Hamburg ist der Zugverkehr eingestellt, wegen des Unwetters. Wir stellen den Zug bereit, damit Sie die Nacht im Warmen verbringen können. Wenn es ihnen nicht passt, brauchen sie ja nicht wieder einzusteigen!“
Ich fluchte, stieg mit meinem Gerümpel aus, am anderen Gleis wieder ein und suchte einen neuen Platz, eine Dreierbank.
Die resolute Frau von vorhin setzte sich mir gegenüber. Ich sah sie böse an. Ich wollte keine sozialen Kontakte, sondern meine Ruhe. Ich war kein freundlicher Mensch, sondern ein hysterisches Nervenbündel mit Schlafdefizit. Demonstrativ schob ich ihre Tasche zur Seite und wickelte meine Jacke zu etwas Kissenähnlichem. Mein Halstuch band ich mir über die Augen, dann legte ich mich quer auf die Sitze.
„Wir sollten uns zumindest vorstellen, wenn wir schon hier zusammen hängen bleiben.“, hörte ich hinter meiner Augenbinde. Offenbar suchte die resolute Frau jetzt Anschluss in den nächsten Sitzreihen. Ich blinzelte unter meiner Augenbinde hervor. „Ich bin Christine.“ Ein paar andere Namen fielen. „Dana“, sagte eine Stimme, offenbar eine junge Frau, die vorhin schon am Bahnhof gestanden hatte. Ein Name, den ich nicht verstand, asiatisch jedenfalls, Yannick, das war der junge Mann mit dem Bier, Sandro, ein Freund, mit dem er unterwegs war.
Ich wollte das alles nicht wissen. Ich wollte schlafen. Aber ich war offenbar die einzige. Alle anderen waren aufgekratzt, plapperten, lachten. Es war hoffnungslos.
„Hat vielleicht jemand Musik?“, fragte Dana jetzt doch tatsächlich.
„Klar“, sagte Christine. „Bloß ein bisschen leise.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Der winzige Lautsprecher begann zu quaken.
Ich gab auf. Diese Meute würde keine Rücksicht nehmen, und für die Bitte darum hätten sie auch nicht viel Verständnis. Alle schienen sie eine Nacht im stehenden Zug für ein tolles Abenteuer zu halten.
Sandro hatte mittlerweile etwas aus seinem Rucksack gekramt. Etwas, das auf den ersten Blick eher harmlos wirkte. Er zeigte mit einem Kabel auf Christines Handy. Ein paar Sekunden später dröhnte Rockmusik durch den Zug. Ich hatte nicht gewusst, welche Lautstärke Reiselautsprecher verbreiten konnten. Hilfesuchend schaute ich auf die Vietnamesin. Die ließ sich so wenig von der Musik stören wie ihr Sohn, der den Lärm einfach verschlief. Ich drehte mich auf der schmalen Bank hin und her, versuchte, meine Jacke über die Ohren zu türmen, mit dem festen Vorsatz, so viel Schlaf zu bekommen, wie eben möglich. Nach 10 Minuten gab ich auf und rappelte mich hoch.
Die Wagentür öffnete sich. Yannick kam herein, eine Plastiktüte in der Hand Ich hatte nicht bemerkt, dass er weg gewesen war.
„Musste ein bisschen suchen in diesem Kaff“, sagte er. „Aber irgendwo findet man doch immer was.“ Er begann, Bierflaschen zu verteilen. „Ne Spende fänd ich übrigens gut“, fügte er hinzu.
Ich riss Yannick das Bier geradezu aus der Hand, im Tausch gegen ein bisschen Kleingeld. Die Idee, jetzt im Nachbarwagon Schlaf zu bekommen, war wohl ohnehin illusorisch. Das Bier überzeugte mich. Ich blieb. Öffnete die Flasche, trank die Hälfte davon in einem Zug aus. Langsam entspannte ich mich. An den Augenringen morgen früh wäre ohnehin nichts zu ändern.
Christine tanzte schon, Dana ebenfalls. OK, die Musik war nicht schlecht. Ich dachte an die beiden Flaschen Crémant, die von meiner Abschiedsfeier am Nachmittag übrig waren und in meinem Rucksack schlummerten. Sandro sah mich fragend an, als die Flaschen auf dem Weg zur Tür klirrten. Ich öffnete den Rucksack so weit, dass er ihren Inhalt sehen konnte. „Ich stelle sie eine Weile raus, zum Kühlen“, sagte ich. „Können wir dann später trinken“. Er sah mich fragend an. Große Augen, Dreitagebart, Anfang 20. Gut sah er aus, stellte ich fest. Wäre gut, wenn mein Spanisch ein bisschen besser wäre als sein Deutsch. „Para enfriar“, brachte ich schließlich heraus. Er hob den Daumen.
Ich gesellte mich zu den Tänzern und nahm noch einen großen Schluck aus der Bierflasche. Ab und zu warf ich einen Blick in Sandros Richtung. Er in meine. Der Kerl war ungefähr halb so alt wie ich. Ich wiegte meine Hüften im Takt. Immer wieder sah ich zu Sandro hin. Sah ihm in die Augen. Tanzte zu ihm. Wie zufällig berührte meine Hand beim Tanzen seine Hüfte. Ich tanzte wieder ein Stück weg. Versuchte, verführerisch zu schauen und hoffte, dass ich mich nicht ganz lächerlich machte mit meinen 46 Jahren. Zu allem Übel war ich völlig aus der Übung. Langjährige, langweilige, kriselnde Beziehung, schon lange kein Seitensprung mehr.
Dana flirtete mittlerweile auf Teufel komm raus mit Yannick. Christine betätigte sich abwechselnd als DJ und als Ausgabestelle für Schokolade. Zwischendurch animierte sie die Vietnamesin, mitzutanzen. Mit Erfolg, auch sie mischte sich unter uns.
Die Bierflasche war leer und ihr Inhalt begann, mir zu Kopf zu steigen. Ich nahm noch eine.Tanzte weiter. Reichte Sandro die Flasche, der nahm einen großen Schluck und gab sie mir zurück. Dann zeigte ich nach draußen. Sandro verstand, da standen noch die Sektflaschen. Ich nahm seine Hand, zog ihn mit nach draußen und mit den Sektflaschen in der Hand im nächsten Wagon wieder hinein. Hier gab es Abteile. Einen Moment zögerte ich noch, dann öffnete ich eines. Ich war ziemlich angeheitert, trotzdem noch immer unsicher. Also machte ich mir zunächst an der Sektflasche zu schaffen. Der Korken knallte. Beide nahmen wir einen großen Schluck, dann sah ich ihm kurz in die Augen und küsste ihn. Ich presst meinen Körper gegen seinen und streichelte über sein Haar, über seinen Rücken, knetete den knackigen Hintern. In jeder Sekunde erwartete ich, zurückgestoßen zu werden. Nichts. Dafür spürte ich nun seine Erregung. Ich knöpfte seine Hose auf, streichelte sein Glied . Auch seine Hand hatte ihren Weg unter meinen Rock, gefunden. Schnell streifte ich alles ab, was ich darunter trug – die dicke Winterstrumpfhose, den Slip, die Schuhe. Auch Sandros Jeans lagen auf dem Boden, als ich wieder aufsah. Er setzte sich auf die Sitzbank, ich mich rittlings auf ihn. Ich setzte mich auf ihn, klammerte mich an seinen Schultern fest, nahm ihn in mich auf, schloss die Augen. Bewegte mich auf und ab. Ich kam innerhalb von Sekunden, er danach. Wir blieben dort, eng umschlungen, er in meinen Armen. Ich war betrunken und fühlte mich zum ersten Mal seit Jahren jung.
Später, als wir zurück waren bei unseren Mitreisenden, schaute ich unauffällig auf mein Handy und rief eine App auf. Jahrelang hatte ich versucht noch einmal schwanger zu werden Mittlerweile hatte ich aufgegeben. Die Zahl der Geburten in Deutschland, das wusste ich, ist bei Frauen über 45 ungefähr so hoch wie bei denen unter 15. Aber wer konnte es schon sagen. Meine Zyklusapp jedenfalls sagte für den heutigen Tag „Schwangerschaftswahrscheinlichkeit hoch“. Mit einem lauten Knall öffnete ich die zweite Sektflasche und reichte sie herum.
Es war 3 Uhr morgens, ich war endgültig betrunken. Christine nahm den letzten Schluck aus der Flasche. Die Party war vorbei, und wie um das zu bestätigen, ertönte eine Pfeife. Langsam setzte der Zug sich in Bewegung.
Ich war sicher, dass diese Nacht mein Leben verändert hatte.