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Regentropfen
Regentropfen laufen langsam die Fensterscheibe hinunter. Wie Tränen, denkt sie.
Endlich setzt der Zug sich in Bewegung, fährt erst langsam, dann schneller, raus aus dem Bahnhof, vorbei an der Stadt. Sie lehnt sich zurück. Starrt nach draußen auf die rasch vorbeiziehenden Häuser, später Bäume, Wege, Felder und was sonst noch alles. Sie kennt die Gegend, kennt sie so verdammt gut. Noch mal einen letzten Blick darauf werfen. Sie wird sie nicht vermissen, nein. Sie hat zu lange hier gewohnt, um das alles noch schön finden zu können, es ist Alltag geworden, grauer Alltag. Zum Teufel mit dieser Gegend, denkt sie. Und ist trotzdem irgendwie traurig dabei, weiß nicht, warum.
Sie starrt hinaus, bis der Zug endlich dahin kommt, wo sie sich nicht mehr auskennt. Sie wendet den Blick ab. Kramt ein Buch aus dem Rucksack und versucht zu lesen. Sie kommt nicht mal bis zum nächsten Absatz. Ihre Gedanken schweifen ab, sie muss an heute morgen denken. Noch ein paar Dinge packen, allen Tschüss sagen, und dann endlich gehen. Endlich weg hier. Endlich leben. Sie wollen, dass sie bald wieder zu Besuch kommt. Aber sie wird nicht kommen. Sie wird nie wieder kommen. Sie hat lange gewartet auf diesen Tag, so lange. Am liebsten wäre sie einfach verschwunden, ohne dass es jemand merkt. Aber das geht ja nicht. Was soll's, denkt sie. Sie ist weg, das ist das einzige, was zählt.
Sie muss auf einmal daran denken, wie es in der Schule war. Sie hat am Fenster gesessen. Immer am Fenster, und meistens hat sie nach draußen geschaut. Hat auch da die Regentropfen beobachtet. "Träumst du?!", hat ihr Lehrer sie ärgerlich gefragt. Sie hat ihn angesehen. "Ja.", hat sie gesagt. Und dann wieder zum Fenster hinausgeschaut. Sie hat doch nie verlangt, dass jemand ihr etwas beibringt. Es reicht ihr schon, wenn man sie in Ruhe lässt. Wenn jemand sie gefragt hätte, was sie den ganzen Tag macht dort, in der Schule, hätte sie gesagt, dass sie vom Leben träumt. Ich träume vom Leben, denkt sie...
Aber es hat ja niemand gefragt. Das war es nicht, was interessierte. Nicht die Träume, nur die Noten waren wichtig.
Sie starrt wieder nach draußen aus dem Fenster des Zuges. Vorbei, denkt sie. Endlich vorbei. Die seltsame Traurigkeit von vorhin verschwindet mit jedem Meter, den der Zug durch den Regen rast, ein bisschen mehr. Einfach weg, und all das andere hinter sich lassen.
Langsam merkt sie, wie müde sie ist. Aber irgendwie, irgendwie auch glücklich. Das Leben, denkt sie. Und heute Abend nach Hause kommen. Endlich ein Zuhause haben. Vielleicht hört es bis dahin ja sogar auf zu regnen, überlegt sie.