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Regennachmittage

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19.02.2014
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Regennachmittage

Wie viele waren es diesmal? Er konnte sie nicht sehen, aber spüren. Sie waren gekommen, um ihn zu hören, und der Regen – gleichmäßige Eisfäden im bunten Glanz der Scheinwerfer – machte ihnen nichts aus. Das Stadion lag wie ein dunkles Meer unter ihm, ein Ozean aus namenlosen, schockstarren Molekülen, die darauf warteten, dass er ihnen ein wenig Leben einhauchte. Er fing den Blick eines verregneten Mädchens aus der ersten Reihe, das sich an die Stahlrohre der Absperrung presste und in diesem für sie bedeutsamen Moment zu atmen vergaß. Ihre Augen schwammen im verschmierten Kajal. Vielleicht würde sie später im Morast vor dem Tourwagen in ihrem durchnässten Metallica-T-Shirt eine Lungenentzündung riskieren. Die winzige Chance, mit ihm in einem Hotelzimmer zu liegen und endlich einmal jemand zu sein, war verlockend. Er könnte ihr diesen Gefallen erweisen, vielleicht war es danach leichter, sich in ein vorbestimmtes Kleinstadtschicksal zu fügen, den zweitbesten Programmierer aus der Klasse zu heiraten und klaglos das ihr auferlegte biologische Programm abzuspulen, bis irgendwann die Jugend von ihr abfiel wie ein verschrumpelter Novemberapfel im Schrebergarten ihrer Großeltern. Vielleicht auch nicht.
Erste Pfiffe. Die meisten litten stumm, andere schrien nach Erlösung. Auch die Bandmitglieder hinter ihm wurden nervös, aber es kümmerte ihn so wenig wie der Regen, der unablässig auf das tausendäugige Monster herab prasselte. Er liebte es, auf diesen Sekunden zu balancieren wie ein Seiltänzer über einer Schlucht, und immer wieder deutete er nach hinten zum Drummer, die Sticks noch unten zu lassen.
Keine Ahnung, warum er den immergleichen ersten Akkord so lange hinauszögerte. Die Antwort ließ sich nicht in die mickrigen Wörter pressen, die ihm in diesem Leben zur Verfügung standen, aber es hing wohl damit zusammen, dass er sich nie so unsterblich fühlte wie in dieser vibrierenden Unruhe vor dem ersten Riff. Er holte noch einmal tief Luft. Wenn er jetzt Glück hatte, dehnte sich die Zeit einen Lidschlag lang ins Unendliche und dann wusste wenigstens sein Spiegelbild in der Vorzimmergarderobe um die unfassbare Einmaligkeit seiner Jugend. Erst dann erlöste er sich selbst, und sein Arm fuhr kraftvoll in die Saiten der eingebildeten E-Gitarre.

 

Hallo baronsamedi,

ich fand deinen Text richtig gut. Ich bin selbst auch Musiker und bin schon ab und zu auf einer Bühne gestanden. Das Gefühl das man vor einem Auftritt hat hast du sehr gut rübergebracht.

bis irgendwann die Jugend von ihr abfiel wie ein verschrumpelter Novemberapfel im Schrebergarten ihrer Großeltern
Er liebte es, auf diesen Sekunden zu balancieren wie ein Seiltänzer über einer Schlucht
Diese zwei Vergleiche haben ich recht gut gefunden und auch der Vergleich des Publikums mit einem Monster. Man weiß nie wie es auf die Lieder reagiert.

Wo ich mir nicht ganz sicher bin. ist ob das alles nicht eine Phantasie des Gitarristen ist. Der Schluss kam mir so vor als würde er ein imaginäres Konzert in der Vorzimmergarderobe geben. Falls ich da falsch liege berichtige mich bitte :D Aber trotzdem sehr bildhaft beschrieben das ganze.
Ich würde den Text vielleicht im Präsens schreiben. Würde der Sache etwas mehr Schwung verleihen. Aber das ist nu meine Meinung.

Beste Grüße zillner

 

Hallo baronsamedi,

die Saiten der eingebildeten E-Gitarre.
könnte das Stichwort sein, dass der Protagonist gar kein Musiker ist, sondern der zweitbeste Programmierer der Klasse, der träumt, wie er einem "verregnetem" Mädchen imponiert?????? Habe die Geschichte gerne gelesen.
Viele Grüsse Fugu

 

Hallo,

ist eine nette Idee. Ist allerdings ein Irrglaube, dass Musiker von einer Stadionbühne aus nicht alles erkennen können, diese 'verschwindende Masse' an Menschen, das ist ein Mythos. In Wahrheit kann man, selbst auf großen Bühnen, ganz klar alles erkennen, sogar einzelne Gesichter.

Betreff: Groupies. Dass die nur so Beiwerk sind, backstage und dann sich flachlegen lassen, alle aus einer Kleinstadt und im Prinzip nichts wert, ist leider auch ein Klischee. Groupies, so wie sie tatsächlich sind, sind ein integraler Bestandteil einer 'Szene', und eben alles andere als kleine devote Fangirls.

Für mich passt das nicht zusammen. Der Text ist so geschrieben, wie sich jemand einen Gig vorstellt, diese Mytifizierung, diese Macht. Selbst als dieVorstellung eines air-guitar spielenden Kid, die sie ja ist, ist mir das zu wenig spezifisch, da fehlt mir etwas. Der Text läuft auf genau diesen Punkt hinaus, und dann erfahre ich nicht die Wahrheit, sondern muss diese Fantasie annehmen. Da bricht sich nichts.

Gruss, Jimmy

 

Hallo flammbert, zillner, Fugusan, jimmysalaryman!

Danke für euer Feed back! Ich freue mich, wenn es gefallen hat.

zillner:
Ich beneide dich und Jimmysalarymann um diese Bühnenerfahrung.
Übrigens: Fugusan bringt dich auf die richtige Fährte!

Fugusan:
Nein, er ist natürlich der drittbeste Programmierer!

jimmy:
Es ist ein sehr kurzer Text, der natürlich von der Pointe am Schluss lebt. Ich weiß nicht, wie ich diese Brechung herstellen kann, die dir vorschwebt, auch wenn ich was Längeres daraus gemacht hätte. Bin aber froh über einen Tipp.

liebe Grüße
baronsamedi

 

Hallo,

schöner Text, hat was von einer Polaroid-Photographie, weil er m.E. sehr umittelbar ist, sofort weiss, was er will und sich auf eine Einstellung verläßt ... die autosuggestive, hypnotische Kraft eines jugendlchen Tagtraums ...

Dieser Satz hat mich dann aber gestört, der ist zu analytisch und holt mich zu schnell, zu erwachsen auf den Boden der Tatsachen zurück.

und dann wusste wenigstens sein Spiegelbild in der Vorzimmergarderobe um die unfassbare Einmaligkeit seiner Jugend.

Gönne ihm doch - Deinem heldenhaften Antihelden - noch etwas das Privileg der Verschwendung ...

lg

dolores

 

Hallo Dolores,

das mit dem Polaroid leuchtet mir total ein. Ich glaube so kann ich auch die vielen Adjektive rechtfertigen. Es gibt ja immer Leute, die sagen, weg mit Adjektiven, und meistens haben sie recht. Dieser Text braucht das aber, eben weil er ein Polaroid ist.

"Privileg der Verschwendung noch etwas gönnen"
Ich würde den Text zu gerne länger machen, aber er wirkt dann vielleicht künstlich gestreckt, weil der Geschichte ja nur ein paar Sekunden Wirklichkeit entsprechen. Bin auf der Suche nach einer guten Geschichte, die so einen Stillstand der Zeit länger aushält.

lieber Gruß, baronsamedi

 

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