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Regennachmittage
Wie viele waren es diesmal? Er konnte sie nicht sehen, aber spüren. Sie waren gekommen, um ihn zu hören, und der Regen – gleichmäßige Eisfäden im bunten Glanz der Scheinwerfer – machte ihnen nichts aus. Das Stadion lag wie ein dunkles Meer unter ihm, ein Ozean aus namenlosen, schockstarren Molekülen, die darauf warteten, dass er ihnen ein wenig Leben einhauchte. Er fing den Blick eines verregneten Mädchens aus der ersten Reihe, das sich an die Stahlrohre der Absperrung presste und in diesem für sie bedeutsamen Moment zu atmen vergaß. Ihre Augen schwammen im verschmierten Kajal. Vielleicht würde sie später im Morast vor dem Tourwagen in ihrem durchnässten Metallica-T-Shirt eine Lungenentzündung riskieren. Die winzige Chance, mit ihm in einem Hotelzimmer zu liegen und endlich einmal jemand zu sein, war verlockend. Er könnte ihr diesen Gefallen erweisen, vielleicht war es danach leichter, sich in ein vorbestimmtes Kleinstadtschicksal zu fügen, den zweitbesten Programmierer aus der Klasse zu heiraten und klaglos das ihr auferlegte biologische Programm abzuspulen, bis irgendwann die Jugend von ihr abfiel wie ein verschrumpelter Novemberapfel im Schrebergarten ihrer Großeltern. Vielleicht auch nicht.
Erste Pfiffe. Die meisten litten stumm, andere schrien nach Erlösung. Auch die Bandmitglieder hinter ihm wurden nervös, aber es kümmerte ihn so wenig wie der Regen, der unablässig auf das tausendäugige Monster herab prasselte. Er liebte es, auf diesen Sekunden zu balancieren wie ein Seiltänzer über einer Schlucht, und immer wieder deutete er nach hinten zum Drummer, die Sticks noch unten zu lassen.
Keine Ahnung, warum er den immergleichen ersten Akkord so lange hinauszögerte. Die Antwort ließ sich nicht in die mickrigen Wörter pressen, die ihm in diesem Leben zur Verfügung standen, aber es hing wohl damit zusammen, dass er sich nie so unsterblich fühlte wie in dieser vibrierenden Unruhe vor dem ersten Riff. Er holte noch einmal tief Luft. Wenn er jetzt Glück hatte, dehnte sich die Zeit einen Lidschlag lang ins Unendliche und dann wusste wenigstens sein Spiegelbild in der Vorzimmergarderobe um die unfassbare Einmaligkeit seiner Jugend. Erst dann erlöste er sich selbst, und sein Arm fuhr kraftvoll in die Saiten der eingebildeten E-Gitarre.